de fr it

Höhlenbewohner

Nach einer antiken Tradition, die von Homer bis Lukrez reicht, bildeten Höhlen die erste Behausung des Menschen. Obwohl heute feststeht, dass die Menschen der Ur- und Frühgeschichte vor allem prähistorische Temporärsiedlungen im Freien und nur gelegentlich Höhleneingänge bewohnten, wird der Begriff Höhlenbewohner zur Bezeichnung unserer im Paläolithikum lebenden Vorfahren immer noch verwendet. Die Vorstellung vom Höhlenbewohner beruht sowohl auf der Entdeckung von Höhlen, in denen vorgeschichtliche Spuren erhalten sind, als auch auf der im kollektiven Gedächtnis fest verankerten symbolischen Bedeutung der Höhle. Herausgebildet hat sich das Konzept im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als die Erforschung der Ursprünge des Menschen sich erstmals auch auf archäologische Funde abstützte und nicht mehr allein auf den Schöpfungsmythen der grossen Religionen beruhte.

Die Vorstellung von der Existenz von Höhlenbewohnern keimte auf, als 1774 und 1795 im fränkischen Gailenreuth Höhlen mit Gebeinen entdeckt wurden. 1822 folgte der Fund der sogenannten Red Lady, der ersten «vorsintflutlichen» Bewohnerin einer Höhle in Wales. In vielen Ländern, namentlich in Frankreich, Deutschland, Belgien und in Grossbritannien, begannen Wissenschafter in unterirdischen Höhlen nach menschlichen Fossilien zu graben. Zeitschriften, Zeitungen und gelehrte Gesellschaften unterrichteten die Öffentlichkeit über die dabei gemachten Entdeckungen, die leidenschaftliche Debatten auslösten. In dieser Zeit intellektueller Aufregung begann sich die Vorstellung vom Höhlenbewohner allmählich durchzusetzen. 1833 erforschte der Genfer Arzt François-Isaac Mayor eine Höhle im Salève und entdeckte dort ein Stück Rengeweih, das mit einer Ritzzeichnung verziert war. Dieser erste Fund eines paläolithischen Kunstwerks verlieh der Vorstellung vom Höhlenbewohner weiteren Auftrieb.

Genährt wurde dieses Konzept von weit verbreiteten Auffassungen, die ihrerseits auf wirkungsmächtigen, seit Menschengedenken mit der Höhle verbundenen Symbolen (Ursprungsmatrix, Platons Höhlengleichnis) beruhen. Ausserdem wurde die Höhle im späten 19. Jahrhundert sinnbildlich mit der Idee des Unterbewussten verknüpft, dessen Erforschung die Erkenntnis des Selbst, des Ur-Ichs, ermöglichte.

Der Begriff des Höhlenbewohners wurde durch zahlreiche Funde in Höhleneingängen und Felsunterständen in Südfrankreich so nachdrücklich bestärkt, dass Gabriel de Mortillet, der Gründer des erstmals 1866 in Neuenburg veranstalteten internationalen Kongresses für Paläoethnologie vorschlug, die Altsteinzeit (Paläolithikum) in vier durch bestimmte Stein- und Knochenwerkzeuge gekennzeichnete «Höhlenepochen» einzuteilen.

 Lochstab aus Rengeweih mit dem "Weidenden Rentier", gefunden 1874 im Kesslerloch bei Thayngen (Rosgartenmuseum, Konstanz).
 Lochstab aus Rengeweih mit dem "Weidenden Rentier", gefunden 1874 im Kesslerloch bei Thayngen (Rosgartenmuseum, Konstanz).

In der Schweiz hatte sich das Interesse der Forscher wegen des Reichtums an Ufersiedlungen (Pfahlbauern) und der von ihnen ausgehenden Faszination auf die Seen konzentriert. Nach dem Neuenburger Kongress machten sich jedoch viele Gelehrte auf die Suche nach Siedlungsspuren der Höhlenbewohner, Zeitgenossen des Bären, des Mammuts und des Rentiers. 1867 führten Henri-Louis Otz, Notar und Grundbuchinspektor des Kantons Neuenburg, und der Kantonsingenieur Charles Knab, Grabungen in der Grotte von Cotencher durch, wo sie zahlreiche Knochen von Höhlenbären fanden. 1916 wiesen der Geologe Auguste Dubois und der Paläontologe Hans-Georg Stehlin am selben Fundort die Existenz von menschlichem Werkzeug nach. Endgültig gefestigt wurde der Mythos der Höhlenbewohner in der Schweiz zweifellos mit der Entdeckung des Kesslerlochs durch den Reallehrer Konrad Merk 1873. Im Jahr darauf fand der Geologe Albert Heim hier das berühmte «Weidende Rentier», eine Gravierung auf einem Lochstab aus Rengeweih. Abbé Henri Breuil bezeichnete diese Ritzzeichnung während seiner Lehrtätigkeit an der Universität Freiburg als die schönste, die je von einem Höhlenbewohner geschaffen worden sei. Damit war die Erforschung der Höhlenbewohner endgültig in Schwung gekommen, und in den Höhlen des Juras und des Mittellands wurde eifrig nach weiteren Spuren gesucht.

Die Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Urgeschichte im Jahr 1907 (seit 1966 Schweizerische Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte, SGUF; seit 2006 Archäologie Schweiz, AS) ermöglichte es, die gewonnenen Kenntnisse einem breiten Publikum zu vermitteln. Indem die Gesellschaft das Zusammentreffen von Fachleuten und Amateuren förderte, gab sie der Forschung neue Impulse in einer Zeit, in der die schweizerischen Universitäten mit Ausnahme Freiburgs keine Lehrveranstaltungen in Ur- und Frühgeschichte anboten. Das Bild des Höhlenbewohners fand sich nun in allen Schulbüchern und verblasste erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Entdeckung und Erforschung der Freilandstationen der ausgehenden Eiszeiten (z.B. Moosseedorf-Moosbühl oder Hauterive-Champréveyres).

Neue Impulse erhielt der Mythos des Höhlenbewohners mit der Entdeckung von Wandmalereien tief im Innern der Grotten. Diese Höhlenkunst, eines der markantesten Zeugnisse der Cro-Magnon-Menschen, unterstrich den symbolischen Aspekt der urtümlichen Höhle als Stätte von Initiationsriten, Sammelbecken für tellurische Kräfte und als unterirdischer Tempel, in dem der Mensch mit dem Übernatürlichen in Verbindung trat. Auf den Besucher übt der Anblick der grossen prähistorischen Heiligtümer wie Altamira oder Lascaux, aber auch weniger spektakulärer Höhlen, oft eine grosse Faszination aus. Obwohl das Konzept des Höhlenbewohners um die Mitte des 20. Jahrhunderts aufgegeben wurde, bleibt es doch lebendig und transportiert Mythen und Symbole, die das metaphysische Verlangen des Menschen befriedigen.

Quellen und Literatur

  • M. Groenen, Pour une histoire de la préhistoire, 1994
  • J.-M. Le Tensorer, Le Paléolithique en Suisse, 1998
Weblinks

Zitiervorschlag

Jean-Marie Le Tensorer: "Höhlenbewohner", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 25.10.2019, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007858/2019-10-25/, konsultiert am 29.03.2024.