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Stadt-Land-Beziehungen

Die Wechselwirkungen zwischen Stadt und Landschaft werden von der Geschichtswissenschaft seit den 1960er Jahren intensiver untersucht. Themen sind die Zentrumsfunktionen der Städte sowie die gegenseitigen Abhängigkeiten von Stadt und Land in demografischer, politisch-herrschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht. Methodische Anstösse haben insbesondere die ältere Kulturgeografie, die Soziologie, die Ökonomie und die Raumplanung gegeben. Ausgehend vom Gegensatz der eidgenössischen Städte- und Länderorte sowie von der Territoriumsbildung im Spätmittelalter hat sich in der Schweiz zuerst die Mediävistik den Stadt-Land-Beziehungen zugewandt. Später folgte die Neuzeitforschung, die sich etwa mit dem Verlagssystem und der Bildung der Agglomerationen befasste. Gingen die Thesen zunächst von einem Gegensatz in den Stadt-Land-Beziehungen aus, so wird neuerdings das Konzept eines Stadt-Land-Kontinuums bevorzugt. In diesem haben zum Beispiel auch Zentrumsfunktionen von Kleinstädten, Flecken und Dörfern oder die Verhältnisse in Vorstädten und modernen Vororten ihren Platz. Die Stadt-Land-Beziehungen in römischer Zeit sind Gegenstand zahlreicher Untersuchungen über die Civitates, Coloniae und Vici.

Mittelalter

Voraussetzung für die Ausbildung von Stadt-Land-Beziehungen war die Entstehung des Städtewesens im Hoch- und Spätmittelalter. Allerdings gingen im Gebiet der Schweiz aus den meisten Städtegründungen Kleinstädte hervor, die oft nur schwach befestigt waren; auch der städtische Bevölkerungsanteil blieb hinter jenem der Nachbarländer zurück. Das Bevölkerungswachstum auf dem Land war grösser als in den Städten, und deren Wachstum beruhte vor allem auf Zuwanderung (Binnenwanderung). Die somit bestehenden Verwandtschaften zwischen Stadt- und Landbewohnern, die Kleinheit der meisten Städte, deren Einwohner oft auch Landwirtschaft betrieben, der offene Zugang zum Bürgerrecht und die hohe Fluktuation in Bürgerschaften selbst grösserer Städte wie Freiburg, Luzern und Basel bewirkten gesamthaft, dass sich bis um 1500 noch kaum grundsätzliche Gegensätze zwischen ländlichen und städtischen Mentalitäten herausbildeten. Die stadtbürgerliche Elite der Eidgenossenschaft identifizierte sich im 15. Jahrhundert durchaus mit der Figur des «frumen edlen puren». Dagegen zog die literarische Polemik (z.B. von Heinrich Wittenwiler, Felix Hemmerli, Thüring Fricker) zwischen Adel und «Bauern» eine ideologische Grenze, die quer durch die Landbevölkerung und die Stadtbürgerschaft lief.

Landbesitz stadtsässiger Adliger und anderer Stadtbürger sowie die Aufnahme von Ausbürgern standen am Anfang des herrschaftlichen Ausgreifens der Städte auf ihr Umland. Mit dem Aufbau von Territorialherrschaften durch die eidgenössischen Städteorte und Genf wurden die Stadt-Land-Beziehungen im Lauf des 14. und 15. Jahrhunderts zu Herrschaftsbeziehungen. Diese fanden im Vogtei-, Steuer- und Militärwesen ihren deutlichsten Ausdruck. Zu Herrschaftszentren wurden auch Landstädte wie Bellinzona, Burgdorf, Murten oder Rapperswil sowie Residenzorte geistlicher und weltlicher Landesherren wie Lausanne, Sitten, Chur, St. Gallen und Neuenburg. Der herrschaftliche Zugriff der Städte auf das Land führte im 15. und frühen 16. Jahrhundert vermehrt zu ländlichen Unruhen, die mancherorts in Teilen der Stadtbevölkerung Unterstützung fanden.

Bäuerinnen bieten auf dem Markt der Stadt Zug Äpfel zum Verkauf an. Miniatur aus der Schweizer Chronik von Christoph Silberysen, 1576 (Aargauer Kantonsbibliothek, Aarau, MsWettF 16: 1, S. 724; e-codices).
Bäuerinnen bieten auf dem Markt der Stadt Zug Äpfel zum Verkauf an. Miniatur aus der Schweizer Chronik von Christoph Silberysen, 1576 (Aargauer Kantonsbibliothek, Aarau, MsWettF 16: 1, S. 724; e-codices). […]

Die wirtschaftlichen Stadt-Land-Beziehungen konzentrierten sich auf die städtischen Märkte. Durch Marktordnungen versuchten städtische Behörden vom Spätmittelalter an, den Warenaustausch zwischen Land- und Stadtbewohnern auf ihre Wochen- und Jahrmärkte zu zwingen. Jedoch lief stets ein Teil des Handels, etwa mit Textilien oder Molkenprodukten, über andere Kanäle. Auch Massnahmen zum Schutz der stärker spezialisierten, besser ausgebildeten und zum Teil in Zünften oder Bruderschaften organisierten Stadthandwerker vor ländlichen Konkurrenten waren nur bedingt erfolgreich.

Die Intensität der wirtschaftlichen Stadt-Land-Beziehungen wurde durch ein kleines oder fehlendes städtisches Territorium kaum beeinträchtigt, wie die Beispiele von Genf, St. Gallen und Basel zeigen. Deren Bürger waren im Fernhandel besonders aktiv, bezogen die Bauernfamilien des Umlands in die Textilproduktion ein und investierten mittels Renten, Viehverstellungen und Teilpachten in die Landwirtschaft, vor allem in die (alpine) Viehwirtschaft und in den Weinbau, wie dies übrigens auch Berner und Zürcher Bürger taten. Für die betroffenen Bauern erhöhte sich mit der wirtschaftlichen Abhängigkeit die Gefahr der Überschuldung bei Misswirtschaft. Im gut untersuchten Fall Basels waren die wirtschaftlichen Stadt-Land-Beziehungen im Umkreis von 10 km Radius besonders intensiv, gingen aber kaum über 50 km hinaus. Die Dimension des eigenen Territoriums beeinflusste diese Beziehungen kaum. Einen Sonderfall von Stadt-Land-Beziehungen stellte der Viehexport (Welschlandhandel) aus dem nördlichen Voralpen- und dem inneren Alpenraum dar, der über grössere Distanzen vor allem in die oberitalienischen Städte führte (Viehhandel). Stadt und Land standen auch in einer ökologischen Beziehung: In Zürich etwa wurden menschliche und tierische Fäkalien von Acker- und Weinbauern als Dünger übernommen, sofern sie sich auf dem kostengünstigen Wasserweg transportieren liessen.

Im religiösen Bereich waren die Stadt-Land-Beziehungen vielschichtig. Bischofssitze und Niederlassungen von Bettelorden verliehen Städten zentralörtliche Funktionen. Als Pilgerziele beliebte Klöster und Kirchen standen jedoch gleichermassen in der Stadt wie auf dem Land, und vor allem im Spätmittelalter entflohen sowohl Ordensangehörige als auch fromme Laien dem Lärm der Städte in die ländliche Abgeschiedenheit.

Frühe Neuzeit

Das Bevölkerungswachstum in den Städten beruhte bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts weiterhin auf der Zuwanderung vom Land; hinzu kamen Geburtenüberschüsse der Neubewohner. Da sich jedoch die Bürgerschaften und insbesondere deren Eliten zunehmend abgrenzten, sanken sowohl die Zahlen der Zuwanderer als auch deren soziale Aufstiegschancen. Der Urbanisierungsgrad blieb tief, die Grösse der Städte ungeachtet ihres Erfolgs im Territorialisierungsprozess bescheiden. Das Wachstum verlagerte sich in Regionen mit Protoindustrie. In diesen milderten neue Hausformen und verdichtete Siedlungsbilder den optischen Stadt-Land-Gegensatz. Zur Verwischung der Grenzen trugen auch die architektonischen Veränderungen in den Hauptorten der Länderorte, die Vorstädte und die Landsitze vermögender Stadtbürger bei. Durch den Bau von Schanzen grenzten sich einzelne Mittellandstädte im 17. Jahrhundert allerdings erneut vom Umland ab. Auch der im 18. Jahrhundert von den Obrigkeiten intensivierte Strassenbau diente vor allem dazu, Städte zu vernetzen, erst in zweiter Linie einer Erschliessung der Landschaft.

Allgemein vergrösserte sich in politischer und rechtlicher Hinsicht das Gefälle zwischen städtischer Obrigkeit und ländlichen Untertanen. Auch in Länderorten grenzten sich die in Flecken wie Altdorf und Glarus residierenden Magistratenfamilien von der Landbevölkerung ab und orientierten sich an stadtbürgerlichen Vorbildern. Allerorts teilten die regierenden Familien die einzelörtischen Vogteien und die gemeinen Herrschaften unter sich auf, an denen sich die Landvögte aus den Länderorten noch ungehemmter bereicherten als jene aus den Städteorten. Die Landschaftsverwaltung wurde allgemein intensiviert. Herren in mittelbarer Stellung – wie die Berner Twingherren oder die Gerichtsherren im Thurgau – gerieten dagegen in Bedrängnis. Auch die Ämteranfragen verloren mit der Zeit an Bedeutung, wogegen die obrigkeitliche Sozialdisziplinierung an Gewicht gewann. Die Landschaft war zudem ein Rekrutierungsraum für Soldunternehmer aus Städten und Flecken; Pensionen aus fremden Diensten machten einen bedeutenden Teil staatlicher wie bürgerlicher Einkünfte aus. Die Obrigkeit beeinflusste das ländliche Wirtschaftsgefüge auch insofern, als sie vor allem den Agrarsektor mit Abgaben belastete, bei ihren Investitionen in die Landschaft jedoch hauptsächlich ländliche Handwerke und Gewerbe begünstigte.

In den ländlichen Unruhen, die auch in der frühen Neuzeit wiederholt ausbrachen, änderten sich die Positionen und Argumente in einer Hinsicht grundlegend. So stützten die Landbewohner im 16. und 17. Jahrhundert (z.B. in der Reformationszeit oder im Bauernkrieg von 1653) ihren Widerstand gegen herrschaftliche Neuerungen der Städteorte auf das alte Herkommen, wogegen sie im ausgehenden 18. Jahrhundert (z.B. im Chenaux- oder im Stäfnerhandel) die neuen politischen Ideen der Aufklärung aufnahmen und dem Ancien Régime gegenüberstellten (Soziale Konflikte).

Ostermontagsschwingen auf der Schanze vor der Berner Stadtmauer. Kolorierte Radierung von Marquard Wocher und François Janinet, um 1790 (Bernisches Historisches Museum; Fotografie Stefan Rebsamen).
Ostermontagsschwingen auf der Schanze vor der Berner Stadtmauer. Kolorierte Radierung von Marquard Wocher und François Janinet, um 1790 (Bernisches Historisches Museum; Fotografie Stefan Rebsamen). […]

Die wirtschaftlichen Stadt-Land-Beziehungen waren wie zuvor dadurch gekennzeichnet, dass die Städter aus dem Umland Nahrungsmittel sowie Energie (Holz, Holzkohle) bezogen, mittels Gülten in stadtnahe Bauern- und Handwerksbetriebe investierten und Arbeitskräfte anzogen. Bürger der patrizischen Orte und der Westschweizer Städte legten ihr Kapital auch in entfernter gelegenen Bauerngütern und in der Viehwirtschaft des Alpenraums und Juras an. Die Agrarverschuldung gegenüber städtischen Gläubigern erreichte bei sinkenden Agrarpreisen und in Mangelkrisen wie im späten 17. Jahrhundert ein enormes Ausmass. Zuweilen behinderten städtische Obrigkeiten auch bäuerliche Innovationen, in der Luzerner Landschaft zum Beispiel die Einhegungen, die sie erst vom ausgehenden 16. Jahrhundert an förderten. Aus spätmittelalterlichen Vorformen entwickelte sich vom frühen 16. Jahrhundert an in vielen Teilen der Schweiz (früh in Lugano, Genf, St. Gallen) das Verlagssystem, und im 17. Jahrhundert entstanden in Stadtnähe (z.B. Neuenburg, Genf, Zürich) erste Manufakturen. Das Verlagssystem und das Marktwesen schwächten den Stadt-Land-Gegensatz im Lauf des 18. Jahrhunderts insofern ab, als etwa in der Ostschweiz vermehrt ländliche Verleger auftraten und zum Beispiel in der Westschweiz zahlreiche kleinere Landmärkte entstanden.

Ein Stadt-Land-Gefälle zeigte sich auch im Kirchen- und Bildungswesen. Hatte die Reformationszeit zunächst in vielen Dörfern eine eigene reformatorische Dynamik hervorgerufen, so festigten die Staatskirchen, die Sittengerichte der reformierten Orte und die stadtbürgerliche Herkunft der meisten Prädikanten und Priester die religiösen Stadt-Land-Beziehungen als Hierarchie. Obwohl das Schulwesen zwischen Stadt und Land nicht undurchlässig war, sollten doch die Landschulen vor allem das Lesen (der Bibel) und Rechnen vermitteln. Höhere Schulen wie Gymnasien, Akademien und Hochschulen gab es fast ausschliesslich in den Städten.

Eine zunehmende kulturelle Distanz zwischen Landbewohnern und Stadtbürgern kommt in literarischen und bildlichen Zeugnissen des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck. Frühformen des Tourismus (Bäderreisen, Festbesuche) und Reiseberichte offenbaren, wie städtische Reisende zum Beispiel die Alpenbewohner als fremd wahrnahmen und die ländlichen Lebensbedingungen als Idylle wiedergaben.

Der zufriedene Dorfbewohner. Kolorierte Umrissradierung von Sigmund Freudenberger, 1791 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Sammlung Gugelmann).
Der zufriedene Dorfbewohner. Kolorierte Umrissradierung von Sigmund Freudenberger, 1791 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Sammlung Gugelmann). […]

19. und 20. Jahrhundert

In demografischer Hinsicht prägte vor allem die Urbanisierung die Stadt-Land-Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Eine in den Jahrzehnten um 1900 besonders starke, dann bis zum Stillstand um 1965 abflauende Zuwanderung vom Land in die Städte trug dazu bei, dass deren Anteil an der schweizerischen Gesamtbevölkerung von 6,4% (1850) auf einen Höchstwert von 45,3% (1970) stieg. Dann folgte eine Abwanderung aus den Kernstädten in die Gürtel der Agglomerationen, eine räumliche Trennung von vorstädtischen Wohn- und städtischen Arbeitsorten, zwischen denen tägliche Pendlerströme hin und her flossen. Auch in der Bevölkerungsstruktur zeichneten sich wirtschafts- und infrastrukturbedingte Unterschiede ab, zum Beispiel überdurchschnittliche Anteile von Frauen, älteren Personen, Ausländern und Mietern in den Städten, höhere Kinderzahlen in den Agglomerationsgürteln und ein Männerüberschuss in agrarisch geprägten Randregionen.

Volkstag zu Uster am 22. November 1830. Lithografie (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
Volkstag zu Uster am 22. November 1830. Lithografie (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv). […]

Im Siedlungsbild verwischten sich die Stadt-Land-Grenzen auf verschiedene Weise: Im 19. Jahrhundert wichen die Stadtbefestigungen dem politischen und demografischen Druck. Ausserhalb der ehemaligen Mauern und Schanzen entstanden neue Quartiere, meistens sozial weitgehend entmischte Unterschichtsquartiere oder Villenviertel. Diese sozialtopografische Trennung wie auch den Stadt-Land-Gegensatz milderten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts städtische Parkanlagen, vorstädtische «Eisenbahnerdörfer», mittelständische Reihenhaussiedlungen von Wohnbaugenossenschaften sowie das städtebauliche Konzept der Gartenstadt. Durch den starken Siedlungsausbau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts breitete sich mit dem Wohnblock ein typisch urbaner, mit dem Einfamilienhaus ein vor allem in Agglomerationsgürteln anzutreffender Haustyp aus. Insgesamt bildeten sich im 20. Jahrhundert Agglomerationen von immer grösseren und grenzüberschreitenden Dimensionen, die im Mittelland entlang der Hauptverkehrsachsen zur «Bandstadt» zusammenwuchsen. Diese rasche und ungelenkte Ausdehnung der Siedlungsfläche liess bereits vor dem Zweiten Weltkrieg den Ruf nach einer Raumplanung laut werden, die aber erst 1980 wirksam wurde.

Die 1848 erfolgte endgültige Aufhebung aller Untertanenverhältnisse und Vorrechte der Städte setzte den politischen Stadt-Land-Beziehungen den Rahmen. Über beide Jahrhunderte hinweg lösten sich Gegensätze und Bemühungen um ein Miteinander zwischen Stadt und Land mehrmals ab. In den Auseinandersetzungen zur Zeit der Helvetik, der Regeneration und der Demokratischen Bewegung standen sich allerdings primär Eliten der einst regierenden Städte und solche der ehemaligen Landstädte als Vertreter alter und neuer Ideen gegenüber. Die Helvetik hatte überdies mit den Distrikten eine politische Zwischenebene geschaffen, auf der sich Kleinstädte und grössere Dörfer um eine zentralörtliche Stellung als Bezirkshauptorte bemühten. Von Stadtfeindschaft und Landverbundenheit geprägt waren vor allem die Jahrzehnte des raschen Wachstums nach 1880, während in der folgenden Krisen- und Weltkriegszeit Versuche überwogen, Stadt und Land zusammenzuführen. Die Agglomerationsbildung löste damals mancherorts Eingemeindungen in die Zentrumsstädte aus (Gemeindezusammenschluss). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deckten eidgenössische Abstimmungen zuweilen Stadt-Land-Gegensätze auf, so in Fragen der internationalen Beziehungen (EWR, Blauhelme), der Umweltpolitik (Hochmoor-Schutz, Atomenergie-Ausstieg) und der Ausländerpolitik (Rassendiskriminierung). Vermehrt diskutiert wurde auch die Frage der Abgeltung zentralörtlicher Leistungen im Rahmen des innerkantonalen Finanzausgleichs.

Die wirtschaftlichen Stadt-Land-Beziehungen wurden weitgehend von der Konjunktur in bestimmten Sektoren und Branchen sowie vom Ausbau der Eisenbahnen und der Nationalstrassen bestimmt. Auf- und Abschwünge der dezentral strukturierten Textil- und Uhrenindustrie prägten ganze Landschaften (Jura, Ostschweiz), in denen im 19. Jahrhundert viele Kleinzentren entstanden bzw. im 20. Jahrhundert wieder an Bedeutung einbüssten. Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Branchen der chemischen Industrie, des Maschinenbaus und der Finanzdienstleistung (Banken, Versicherungen) trugen dagegen eher zu Konzentrationsprozessen in Grosszentren und ihren Agglomerationen bei. Die hohe Bedeutung der Verkehrserschliessung für die Zentrums- und Netzbildung zeigt sich an den Konflikten, die grössere wie kleinere Städte zuerst um Bahnlinien, später um Autobahnanschlüsse austrugen. In den Landschaften hing das Wirtschaftswachstum stark von der Zentrumsnähe ab; Orte in der ländlichen Peripherie des Alpen- oder Juraraums hatten – sofern sie nicht zu Tourismuszentren wurden – viel weniger Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung als (Industrie-)Dörfer im schweizerischen Mittelland und am Rhein. In der eidgenössischen Wirtschaftspolitik trat denn auch die Beachtung von Gefällen zwischen Zentrums- und Randregionen sowie die Förderung strukturschwacher Regionen in den Vordergrund.

Plakat zur Abstimmung über die Fusion der Zürcher Gemeinden von 1929 (Stadtarchiv Zürich, V.L.1000.).
Plakat zur Abstimmung über die Fusion der Zürcher Gemeinden von 1929 (Stadtarchiv Zürich, V.L.1000.).

Mit dem raschen Wachstum der Wirtschaft, des Siedlungsraums und der sozialen Probleme in den Städten nach 1880 nahm auch die ideologische und mentale Distanz in den Stadt-Land-Beziehungen zu. Gegenbilder zur zunehmend urbanen Schweiz schufen der Natur- und der Heimatschutz, die Festspiele, Bundesfeiern und Dorf-Darstellungen der Landesausstellungen sowie die vom 1897 gegründeten Schweizerischen Bauernverband gepflegte Ideologie des «gesunden» Bauernstands. Auch die menschenleeren Landschaften, wie sie etwa Ferdinand Hodler oder für den Nationalratssaal Charles Giron malten, standen in krassem Gegensatz zu den Landschaftsveränderungen ebendieser Zeit. Die Städte gingen ihre Infrastrukturprobleme dagegen sachlich an, etwa im ebenfalls 1897 gegründeten Schweizerischen Städteverband. Mit Theatern, Museen und höheren Schulen stärkten sie ihre Zentrumsfunktionen auch im Kultur- und Bildungsbereich.

In den 1920er Jahren löste die Bedrohung durch Totalitarismus und Weltwirtschaftskrise Bemühungen um ein nationales Zusammenwirken von Stadt und Land aus, das in der Geistigen Landesverteidigung, im Landdienst oder in der Anbauschlacht zum Ausdruck kam. Die Motorisierung und das Freizeitverhalten (z.B. Landausflüge, Konzertbesuche) führten nach 1950 zur Annäherung und teilweisen Verschmelzung von städtischen und ländlichen Mentalitäten, machten indes auch zum Teil überraschende Unterschiede bewusst. So hat die seit den 1970er Jahren aktive ökologische Bewegung für ihre Anliegen im Landschaftsschutz zuweilen mehr Unterstützung in Städten als in Landgebieten erhalten.

Quellen und Literatur

  • D. Rippmann, Bauern und Städter, 1990
  • D. Zumkeller, Le paysan et la terre, 1992
  • Das Bild der Stadt in den Literaturen der Schweiz, hg. von M. Gsteiger, 1994
  • D. Wachter, Schweiz ― eine moderne Geographie, 1995 (42004)
  • U. Haefeli, Ein Dorf wird Vorstadt, 1996
  • Strukturatlas der Schweiz, 1997
  • Stadt und Land in der Schweizer Gesch., hg. von U. Pfister, 1998
  • Die Stadt als Moloch? Das Land als Kraftquell?, hg. von C. Zimmermann, J. Reulecke, 1999
  • Zentren, hg. von H.-J. Gilomen, M. Stercken, 2001
Weblinks

Zitiervorschlag

Martin Illi; Alfred Zangger: "Stadt-Land-Beziehungen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 22.04.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007881/2015-04-22/, konsultiert am 19.03.2024.