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Dorf

Rumendingen, Flugbild 1979 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege, Sammlung Flugaufnahmen Bern).
Rumendingen, Flugbild 1979 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege, Sammlung Flugaufnahmen Bern). […]

Als Dorf wird ein Typ der ländlichen Siedlung bezeichnet, bei dem die Wohn- und Arbeitsstätten räumlich konzentriert sind und einen mehr oder weniger geschlossenen Kern inmitten der landwirtschaftlich genutzten Flur bilden. Grössenmässig schwankt es zwischen dem Weiler und dem Grossdorf. Als kleinster selbstständiger Siedlungsverband verfügt das Dorf über eine je nach Ort einfache bis vielgliedrige gemeinschaftssichernde Infrastruktur. Im Unterschied zu Stadt und Flecken ist die zentralörtliche Funktion sekundär oder fehlt ganz. Vor der Industrialisierung war die Dorfsiedlung im Mittelland sowie im inner- und südalpinen Gebiet vorherrschend. In den Voralpen und im Jura dominierte die Einzelhofsiedlung. Für das traditionelle Dorf ist die enge Beziehung unter den Dorfbewohnern typisch, welche durch die notwendige Zusammenarbeit in der Landwirtschaft verstärkt wurde. Dörfer unterscheiden sich nach Siedlungsformen (u.a. Strassen-, Zeilen-, Haufendorf) und nach typisierenden Funktionen (z.B. Bauern-, Fischer-, Arbeiterdorf).

Lange waren Vorstellungen von der historischen Entwicklung des Dorfes vom dogmatischen Bild beherrscht, das Juristen als Rechtshistoriker im 19. Jahrhundert entworfen hatten. Gegen deren Lehre vom gemeingenossenschaftlichen Ursprung der Dörfer zur Zeit der germanischen Ansiedlung (Markgenossenschaft) wandten sich als Erste Wirtschaftshistoriker, vor allem die Wienerschule von Alfons Dopsch; sie hoben die herrschaftliche Komponente bei der Entstehung hervor. Klarheit schufen aber erst neuere Befunde der Archäologie und Siedlungsgeschichte, die auf eine langsame Entwicklung des Dorfes aus frühmittelalterlichen Kleinsiedlungen und die Herausbildung der dörflichen Strukturen im Hoch- und Spätmittelalter hinwiesen. Gewonnene Erkenntnisse werden durch die laufende wirtschafts- und sozialgeschichtliche sowie die neuere rechtsgeschichtliche Forschung bestätigt. Deren Wegbereiter, Karl Siegfried Bader, brachte die fest gefahrene Rechtsgeschichte in den 1960er Jahren unter anderem dadurch wieder in Bewegung, dass er der ortsgeschichtlichen Forschung neue Impulse verlieh. Die Volkskunde trug ab Ende des 19. Jahrhunderts mit der Erarbeitung von Aspekten der dörflichen Volkskultur (Bauernhaus, Siedlung, Sachgüter, Sitte, Bräuche, Feste) zur schweizerischen Dorfforschung bei. Diese erfuhr in den 1960er bis 1980er Jahren eine wesentliche Erweiterung durch soziologische Untersuchungen und die von Paul Hugger initiierte Erarbeitung gegenwartsbezogener Dorfmonografien.

Ur- und Frühgeschichte

Archäologische Bodenfunde und ethnografische Untersuchungen zeigen, dass Wildbeutergesellschaften ein in der Regel nicht-sesshaftes Leben führten und keine dauernden Wohnstrukturen kannten. Ihre Aufenthaltsorte - Höhlen, Felsdächer (Abri), Freiland mit Unterständen, Zelten oder Hütten - werden aufgrund der kurzfristigen, periodischen oder jahreszeitlichen Nutzung und der Verwendung vergänglicher Baumaterialien deshalb meist neutral als Lagerplätze bezeichnet, wobei eine spezifische Funktion (Wohnplatz, Jägerlager, Werkplatz) bisweilen aus dem Fundmaterial ersichtlich ist (Wohnen). Dies gilt für die Zeitspannen des Paläolithikums und Mesolithikums (z.B. Neuchâtel-Monruz, Les Gripons in Saint-Ursanne).

Mit dem Übergang zu einer auf Ackerbau und Viehzucht gründenden Lebensform änderte sich auch das Siedlungsverhalten der Menschen. Typisch für das Neolithikum waren die Feuchtbodensiedlungen an den Seeufern und Mooren des Mittellandes (Ufersiedlungen), etwa in Egolzwil, Twann oder Zürich-Mozartstrasse, die - als Wohnplätze einer nunmehr sesshaften Bevölkerung - nebst fester Holz-Lehm-Architektur gemeinsame strukturelle Elemente aufweisen: geschlossenes Siedlungsareal, planmässige Überbauung, Zäune, Wege, Fluren. Die überbaute Fläche variierte zwischen 500 und 10'000 m2 und wies ein halbes bis mehrere Dutzend gleichzeitiger Häuser auf. Die Siedlungen besassen ein agrarisch nutzbares Umland und - nicht immer auffindbare - Friedhöfe (Lausanne-Vidy). In Anlehnung an die Terminologie jüngerer Epochen werden sie als Dörfer bezeichnet. Ihre durchschnittliche Lebensspanne betrug jedoch nach dendrochronologischen Untersuchungen nur 20-40 Jahre. Daneben existierten nachweislich Stationen, die strategische oder rein wirtschaftliche Funktionen erfüllten (Cazis-Petrushügel, Chavannes-le-Chêne).

Das Dorf als Lebensraum einer Bevölkerung mit landwirtschaftlicher Subsistenz blieb auch in der Bronzezeit eine vorherrschende Siedlungsform (Greifensee-Böschen), wobei dörfliche Einheiten von Bauern und Handwerkern auch aus dem Alpenraum bekannt sind (Savognin-Padnal). Deutliche Unterschiede in der Grösse der Stationen wie auch in der Menge und Zusammensetzung des Fundmaterials einerseits (Zürich-Alpenquai) und das Auftauchen oftmals befestigter Höhensiedlungen an verkehrsgünstiger oder strategischer Lage andererseits (Montlingerberg) sind Anzeichen für eine verstärkte Gliederung der Siedlungsorganisation. Später wird dies mit den Zentralorten der Hallstattzeit (Châtillon-sur-Glâne) und den keltischen Oppida (Basel-Münsterhügel) fassbar. Allerdings ist es schwierig zu beurteilen, ob der Unterschied zwischen einfachen Dörfern und Zentralorten lediglich ein gradueller und/oder funktionaler ist, oder ob wir es - wie in anderen Gegenden Europas - bereits mit einem Gegensatz zwischen ländlichen Kleinsiedlungen und proto-urbanen Zentren und entsprechenden sozio-politischen Auswirkungen zu tun haben. In der Eisenzeit gewann daneben, soweit es die bislang dürftigen archäologischen Quellen erkennen lassen, die ländliche Streusiedlung an Bedeutung, während Dörfer selten dokumentiert sind (Glis-Waldmatte). Im Zuge der Einrichtung der römischen Staatsverwaltung werden die rechtlichen Aspekte der verschiedenen Siedlungsformen erstmals greifbar. Neben der Stadt (Municipium, Colonia, Forum) gab es den Vicus, nicht eine dörfliche Siedlung, sondern ein kleinerer oder grösserer Zentralort mit Handwerk, Gewerbe, Sakralbauten und Thermen, der rechtlich abhängig war (die Vici Lausanne und Moudon z.B. von der Colonia Aventicum). Die vorherrschende Siedlungsform auf dem Lande war die Villa rustica, ein Einzelgehöftkomplex, dessen Grösse von einem bäuerlichen Mittelbetrieb bis zu einem Gutshof reichen konnte, auf dem sehr viele Leute lebten (Römischer Gutshof). Solche Gutshöfe konnten zu Siedlungskernen von mittelalterlichen Dörfern werden, was aber nicht in jedem Fall heisst, dass Siedlungskontinuität vorliegt.

Mittelalter

Im Mittelland führten das Bevölkerungswachstum und die Ausbreitung der Dreizelgenwirtschaft mit kollektiv-genossenschaftlicher Feldbestellung (Zelgensysteme) während des Hochmittelalters zum Ausbau bestehender Siedlungen und zum Zusammenschluss benachbarter Weiler und Höfe zu Dörfern. Es bildeten sich allmählich die unterschiedlichen Siedlungszonen mit Dörfern bzw. mit Streusiedlungen heraus. Gunst oder Ungunst des Naturraums (Topografie, Klima, nutzbarer Boden, Wasservorkommen) entschieden über die Entwicklungschancen von Dörfern. Solche entstanden in Schutzlagen an Talrändern und -hängen, auf Talterrassen und Hochplateaus, wo auch Durchgangswege verliefen. Um möglichst wenig ackerfähiges Land überbauen zu müssen, wurden die Dorfanlagen meistens auf minimaler Fläche konzentriert (besonders ausgeprägt in Rebbaudörfern der West- und Südschweiz).

In der Endphase des Landesausbaus (13. und erste Hälfte des 14. Jh.) führte der Bevölkerungsdruck dazu, dass aus Mangel an geeigneten Standorten immer mehr auch ungünstige Siedlungsplätze erschlossen wurden, die in der spätmittelalterlichen Krisenzeit aufgegeben werden mussten. Besonders Einzelhöfe und Weiler, deren Kulturland wenig hergab, waren von dieser Entwicklung betroffen. Vereinzelt wurden auch ganze Dörfer zu Wüstungen und verschwanden restlos (z.B. das Kirchdorf Waldkirch BE, das im 16. Jahrhundert zu einer Weide des Nachbardorfes Niederbipp wurde). Im Allgemeinen aber erfuhren die dörflichen Siedlungen lediglich einen zeitlich begrenzten Schrumpfungsprozess durch den Abgang einzelner Höfe. Das im Hochmittelalter entstandene Siedlungsmuster blieb im Grossen und Ganzen bis zu Beginn der Industrialisierung bestehen. Im Alpenraum hingegen dürfte sich dieses auch noch später wesentlich verändert haben: So verdichteten sich Weiler zum Teil erst in der frühen Neuzeit zu Dorfsiedlungen.

Die Grösse mittelalterlicher Dörfer darf nicht überschätzt werden: Die Mehrzahl war mit 10-20 Gehöften (ca. 50-100 Einwohner) klein bis mittelgross. Schon 3-5 Gehöfte (ca. 15-25 Einwohner) galten als Dorf und 40-120 Höfe (ca. 200-600 Einwohner) als Grossdorf wie zum Beispiel Wohlen (AG) mit über 66 Höfen (12.-14. Jh.) oder Grossandelfingen mit 55-58 Haushalten (1467-1470).

Dorfsiedlung und Flur

Zum Merkmal des Dorfes im Mittelland wurde der Etter, der praktische und rechtliche Bedeutung hatte, indem er Mensch und Tier vor Eindringlingen schützte und den dörflichen Friedensbereich von der Flur und vom Flurrecht abgrenzte. Innerhalb des Etters lagen die privaten Hofstätten in eher zufälliger Gruppierung, jede mit Wohnhaus, Ökonomiegebäuden und Garten, durch einen Zaun gegen Nachbarn und den öffentlichen Dorfbereich abgeschirmt. Dieser umfasste das Wegnetz (Dorfgassen), den Dorf- und Gerichtsplatz, die Brunnen und die Viehtränken.

Die gemeinsam genutzte gewerbliche Infrastruktur, ursprünglich herrschaftlich, später kommunal bzw. privat, bestand aus Ehaften wie Mühle, Wirtshaus, Schmiede, Trotte und Backofen. Allen dienten die vom Dorf oder vom Dorfpfarrer gehaltenen Zuchttiere (Stier, Hengst, Eber) und das Waschhaus. Grössere Dörfer zeichneten sich durch mehr Infrastruktur und öffentliche Institutionen wie Kirche, Marktplatz und herrschaftlicher Dingplatz (Versammlungsort) aus, diese waren zum Teil auch von regionaler Bedeutung.

Die an den Dorfraum grenzenden Fluren standen teils in Privatbesitz, so vor allem Äcker und Wiesen, teils in Gemeinnutzung wie Allmenden, Wälder und Weiden. Zum öffentlichen Nutzungsbereich zählten Gewässer und das Strassennetz als Verbindung nach aussen. Bei der dörflichen Dreizelgenwirtschaft standen die privaten Äcker unter Flurzwang (Anbausorten, -termine); die angesäten Ackerflächen wurden durch Schutzzäune (Efad, Efried) vom beweideten Land abgetrennt. Innere und äussere Dorfanlage waren von der geografisch-topografischen Lage weitgehend geprägt, was insbesondere bei Dörfern am Transitverkehr, an wichtigen Verkehrswegen des Mittellandes und am Fuss der Pässe sowie bei Flussdörfern, ins Gewicht fiel. Deren Lage erforderte zwar vermehrte Aufwendungen, zum Beispiel für Strassen, Brücken und Susten, brachte aber auch Verdienst, zum Beispiel aus Geleite, Fähre und Flösserei.

Von den Dörfern des Mittellandes unterschieden sich die alpinen Dorfsiedlungen, deren Raumorganisation allerdings eine grosse Vielfalt aufwies. Im nördlichen Tessin und in weiten Teilen des Wallis und Graubündens (nicht aber im Engadin) umfassten die Hauptsiedlungen im Tal primär Wohnbauten, während die Wirtschaftsgebäude oft auf mehreren Höhenstufen über die ganze Flur gestreut waren. Teilweise dienten die Nebensiedlungen auch als temporäre Wohnsitze, wie die Maiensässe im Tessin, in deren Umgebung nicht nur Wiesen und Weiden, sondern auch Äcker bewirtschaftet wurden.

Beziehungen zwischen den Dörfern

Ein Begräbnis in einem Innerschweizer Dorf. Illustration von 1513 aus der Luzerner Chronik von Diebold Schilling (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern).
Ein Begräbnis in einem Innerschweizer Dorf. Illustration von 1513 aus der Luzerner Chronik von Diebold Schilling (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern). […]

Bis ins 14. Jahrhundert lag zwischen den Dörfern noch eine Art "Niemandsland", je nach Region wenig begangener Urwald, in der Mehrzahl aber Moor- und Waldflächen, die von den Dörfern aus beweidet wurden. Verstärkte Weidetätigkeit und wachsende Herden führten ab 1300 zum Streit zwischen Nachbardörfern um das nicht aufgeteilte Land. Man behalf sich vorerst mit Absprachen um interkommunale Weidgänge, bis die aufreibenden Konflikte vom 15. Jahrhundert an die Festlegung von Grenzen erzwangen. Hier liegt der Ursprung der meisten heutigen Gemeindegrenzen, die für lange Zeit sichtbar aus Holzzäunen zwischen Weiden bestanden. Zahlreich waren auch Konflikte zwischen Dorfgemeinschaften und Einzelhöfen in der Umgebung der Dörfer. Aussenhöfe hegten ihr Land ein (deshalb auch "Steckhöfe" genannt) und verwehrten dem Dorfvieh den Zugang, beanspruchten aber, Dorfallmende, Brach- und Stoppelweide nutzen zu können.

In der Voralpen- und Alpenregion kam es ebenfalls zur Ausscheidung von Nutzungsgrenzen zwischen den lokalen Siedlungsverbänden (in der Leventina schon 1227, im Val Lavizzara 1374). Auf der politischen Ebene spielte sich allerdings eine entgegengesetzte Entwicklung ab: Vom 13. Jahrhundert an schlossen sich Dörfer, Weiler und Einzelhöfe zur Erreichung politischer und wirtschaftlicher Ziele zu Talschaften zusammen.

Herrschaft und Dorfrecht

Viele Dörfer entstanden aus grundherrschaftlichen Siedlungsverbänden, besonders aus solchen der im Landesausbau tätigen Mönchsorden (u.a. Benediktiner). Auch die im Spätmittelalter aufgelösten Eigenwirtschaften der Zisterzienser (Grangien), ebenso Grundherrschaften anderer geistlicher und weltlicher Herren konnten Ausgangspunkt für die Dorfbildung sein, wobei es keine Rolle spielte, ob ein oder mehrere Grundherren im selben Ort über "Land und Leute" geboten. Sass der Grundherr selbst mit Burg oder Kloster im Dorf, war er mit und neben den Dorfleuten an der Flur beteiligt und musste sich mit diesen absprechen.

Mit der Auflösung vieler grundherrlicher Eigenbetriebe verlagerte sich die Herrengewalt auf die Gerichtsherrschaft im Dorf (Twing und Bann). Dorfleute übernahmen nun ursprünglich herrschaftliche Ordnungsaufgaben neben oder anstatt der Herrschaft, womit Aufsichtsfunktionen (z.B. Kontrolle der Zäune, Öfen, Brunnen) und das Recht zu büssen allmählich an das Dorf überging. Ehemalige herrschaftliche Beamte wurden zu Dorfbeamten wie der Bannwart, Hirt, Vierer, Weinschätzer usw.; oft blieb der Herrschaft nur noch die Bestellung der höheren Ämter (Ammann, Meier, Weibel, Untervogt). Durch Teilhabe an der Herrschaft und Mitwirkung im Gericht bildete sich als Ersatz für die einstige Hofgenossenschaft die Gemeinde der Dorfleute (Baursame). Diese entwickelte sich oft zum aktiven Gegenspieler der Herrschaft, insbesondere wenn Bauern an Allmenden, Wäldern und Bewässerungen, an denen sie nur Nutzungsrechte hatten, Eigentumsansprüche durchzusetzen versuchten. Daraus entstandene Streitigkeiten und Prozesse konnten sich über Jahrzehnte hinwegziehen (Nutzungskonflikte).

Bei wachsender Bevölkerung wurde das Zusammenleben im Dorf komplizierter und musste geregelt werden. Während Ordnungsaufgaben im Dorfinnern und auf der Flur anfänglich zum Teil noch durch herrschaftliche Hofrechte geregelt waren, begannen grössere Dörfer im 14. Jahrhundert ihre Dorfwirtschaft und das dörfliche Zusammenleben selber zu ordnen. Das Dorfrecht wurde dem Dorf vom Herrn verliehen oder im Dorfgericht unter Mitwirkung der Dorfgenossen aufgestellt und beschworen. Als Offnung vom 15. Jahrhundert an verschriftlicht, wurde es später erneuert und ergänzt (z.B. Wohlen AG: 1406 erstellt, 1487, 1609, 1691 und 1703-1705 erneuert). Geregelt wurden unter anderem die Aufnahme und Besteuerung neuer Dorfgenossen, die Wahl von Dorfbeamten, der Weinausschank, der Bau und Unterhalt von Wegen, Brücken und Zäunen. Periodisch wurde das Dorfrecht an der Dorfversammlung vorgelesen und von ihr beschworen.

Dorfrecht (Rechtsame, Gerechtigkeit) hiess auch das an den Hofbesitz gebundene und zum Teil nach diesem bemessene Nutzungsrecht an den Dorfgütern, das sich mit dem Hof vererbte und bei der Hofteilung ebenfalls aufgeteilt wurde. Zuzüger hatten sich einzukaufen. Beim Wegzug verlor der Dorfgenosse das Dorfrecht, das an den Wohnsitz gebunden war; kehrte er zurück, musste er es erneuern lassen. Nur Leute mit Dorfrecht waren in der Gemeinde stimmberechtigt und in Dorfämter wählbar.

Dorfwirtschaft und Dorfleben

Neben der dominierenden Landwirtschaft umfasste die dörfliche Wirtschaft auch ergänzende Handwerke. Diese entwickelten sich im 15. und 16. Jahrhundert aus dem grundherrlichen Hofgewerbe zum dörflichen Bedarfsgewerbe und von bäuerlichen Nebengewerben zur Haupttätigkeit. Je nach Ort wurde auch für die Märkte der Umgebung oder den Export (v.a. Weberei) produziert. Viele Dörfer wiesen eine charakteristische, ihrer Lage und der landwirtschaftlichen Spezialisierung angepasste gewerbliche Struktur auf: Zum See- und Flussdorf gehörten Fischerei, Flösserei und Schiffsbau, zum Dorf, das an einer wichtigen Verkehrsverbindung lag, Gasthäuser, Fuhrhalterei, Schmiede und Wagnerei, zum Rebbaudorf die Küferei.

Von Anfang an waren die Dörfer sozial gegliedert. Die Grundherrschaft stützte sich auf grosse (Huben) und mittlere bäuerliche Betriebe ( Schupposen) sowie auf Tagländer (lat. diurnales, Kleinanwesen) ab. Auch als die Bauern im Spätmittelalter durch die Gewährung der Erbleihe Nutzungseigentümer an ihren Gütern geworden waren, lebte diese Gliederung in den dörflichen "Besitzklassen" der reichen Bauern (Huber, Meier), der mittleren Bauern (Schuppisser) und der Taglöhner weiter.

Im Dorfleben waren unterschiedliche genossenschaftliche Vereinigungen der Dorfleute integriert. Sozusagen als Gegenpol zur Gemeinde der stimmfähigen Männer vertraten Knabenschaften (Abteien) die Anliegen der ledigen jungen Männer, religiöse Bruderschaften entstanden vor allem in Pestzeiten, und schon im 15. Jahrhundert gründeten Landhandwerker erste berufliche Bruderschaften (Zünfte).

Frühe Neuzeit

Das erneute Bevölkerungswachstum der Frühneuzeit, das auf dem Land je nach Region im letzten Viertel des 15. oder zu Beginn des 16. Jahrhunderts einsetzte, löste in den Dörfern neue Bautätigkeit aus. Allgemein herrschte die Tendenz vor, neue Häuser vor allem innerhalb des Etters auf unüberbauten, bestehenden Ehofstätten oder auf neu durch Obrigkeit und Dorfgemeinde bewilligten zu errichten. Da Ackerland die Grundlage der bäuerlichen Existenz war, wurde dieses nur beschränkt zur Erweiterung des dörflichen Baugrundes freigegeben und in den Etterraum einbezogen. Aber auch dem Hausbau innerhalb des Etters waren Grenzen gesetzt, da bei der Holzbauweise und zum Teil Strohbedachung jede Siedlungsverdichtung die Gefahr von Dorfbränden vergrösserte. Zudem lag die beliebige Vermehrung von nutzungsberechtigten Höfen nicht im Interesse der Dorfgemeinschaft. Vom 17. Jahrhundert an haben vor allem grosse Dörfer die Schaffung neuer Ehofstätten und Neubauten durch Baureglemente praktisch unterbunden.

Aussicht aus dem Pfarrhaus von Pratteln ins Oberdorf. Gouache von Emanuel Büchel, 1735 (Staatsarchiv Basel-Landschaft, Liestal).
Aussicht aus dem Pfarrhaus von Pratteln ins Oberdorf. Gouache von Emanuel Büchel, 1735 (Staatsarchiv Basel-Landschaft, Liestal). […]

Der wachsenden Bevölkerung blieb daher nur die Unterteilung bestehender Häuser in mehrere Wohneinheiten: Wohn- und Ökonomieräume wurden unterteilt, Küche, Keller und Gang meist gemeinsam genutzt. Da das dörfliche Genossenrecht am Hausbesitz hing, waren Hausanteile überwiegend Eigentum ihrer Bewohner. In der Regel ging die Teilung quer durch die Häuser: 1798 waren in Wohlen (AG) von 92 Häusern deren 66 unter 2-9 Familien aufgeteilt - bei durchschnittlicher Belegung mit 15 Personen pro Haus ergaben sich höchst prekäre Wohnverhältnisse. Vergleichsweise besser war die Wohnsituation in Kleinstädten (z.B. 1798: Aarau 6,1 Einwohner pro Haus; Brugg 4,8), dies als Folge einer rigoros praktizierten Abschliessung der Städte gegenüber Zuzügern. Auch die Dörfer wehrten sich im 17. und 18. Jahrhundert mit hohen Einkaufsgebühren und dem Näherkaufsrecht für Dorfbewohner gegen den Zuzug von Auswärtigen.

Ausbausiedlungen und Armendörfer

Da die Dörfer armen Leuten die Niederlassung erschwerten, wichen diese, zum Teil in wilder Landnahme, auf schlechte, für die bäuerliche Lebensweise ungeeignete Böden am Rand von Dörfern aus, vor allem auf Allmenden, Schachen (Flussauen) und in Schluchten, und leiteten damit den frühneuzeitlichen Siedlungsausbau ein. Im 16. und 17. Jahrhundert entstanden durch die Ansiedlung von Taunern, Heimarbeitern und Störhandwerkern Allmend- und Schachendörfer, die sich aus kleinen Häusern mit wenig Land für die Selbstversorgung zusammensetzten. Solche Armendörfer waren rechtlich benachteiligt und entbehrten einer dörflichen Infrastruktur, sodass sie wirtschaftlich vom alten Dorf abhängig blieben.

Sonderdörfer, viele mit Wurzeln im Spätmittelalter, werden in der Frühneuzeit besser fassbar. Dazu zählen die saisonal bewohnten Maiensäss- und Alpdörfer mit minimaler Infrastruktur, aber auch Hüttendörfer in den Regionen des Bergbaus und der Glasproduktion mit dominierenden Gewerbebauten (Hochofen, Glasofen, Hammerschmiede, Giesserei) neben Taverne und Knappenhaus (Reste z.B. in Lauterbrunnen). Neu wurden durch Brand zerstörte Dörfer als Plansiedlungen nach Bauvorschriften der Obrigkeit wieder aufgebaut (z.B. 1557-1560 Roggwil und Madiswil im Oberaargau).

Dorfwirtschaft

Zwar blieb im frühneuzeitlichen Dorf die Landwirtschaft Grundlage der Dorfwirtschaft. Beim geltenden Erbrecht mit Realteilung ernährten aber viele stark unterteilte Höfe die bäuerlichen Familien nicht mehr, sodass nur Zusatzverdienst, vor allem aus Taglöhnerei und nebengewerblichem Handwerk, das Überleben sicherte. Aus dieser Notlage entwickelten sich noch im 16. Jahrhundert das Dorfhandwerk und etwas später die verlagsweise Heimarbeit zu dörflichen Wirtschaftszweigen. Damit boten frühneuzeitliche Dörfer ähnlich wie Städte unterschiedliche Existenzmöglichkeiten und verschafften vielen Mittellosen ein Einkommen. Einzelne Dörfer entwickelten sich zu bedeutenden Zentren der meist regional spezialisierten gewerblichen Produktion.

Wirtschaftlicher Wandel und Bevölkerungswachstum veränderten das soziale Gefüge in gewerblich und in landwirtschaftlich geprägten Dörfern nachhaltig. Der schmaler werdenden Oberschicht aus Vollbauern und hofbesitzenden Gewerbetreibenden und einer bäuerlich-gewerblichen Mittelschicht stand eine überproportional wachsende Unterschicht gegenüber. An der Wertschätzung der einzelnen Schichten änderte sich allerdings wenig. Die vollbäuerliche Lebensweise galt nach wie vor als erstrebenswertes Ideal, obschon sie für die Mehrheit der Dorfbewohner unerreichbar blieb. Die Angehörigen der landlosen und kleinbäuerlichen Schichten, im 18. Jahrhundert fast überall in der Mehrheit, suchten sich mit Hackbau in Bünte und Garten und einigen Ziegen so gut wie möglich selbst zu versorgen.

Dorf und Stadt

In mancher Beziehung ähnelten sich dörfliche und kleinstädtische Verhältnisse: Dorf und Kleinstadt beharrten auf den hergebrachten Dorf- bzw. Stadtrechten und ergänzten diese bloss durch neue Satzungen. Hier wie dort bildete die kollektiv-genossenschaftliche Arbeit bzw. Nutzung gemeinsamer Güter und Anlagen die Basis der Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft, an der nur Anteil hatte, wer das volle Bürgerrecht hatte. Hintersassen aber blieben meist ausgeschlossen.

Hier wie dort bildeten sich Familienherrschaften, im Dorf eigentliche "Dorfpatriziate", die oft über Generationen dörfliche und kirchliche Ämter (Gerichtssässe, Chorrichter, Untervogt usw.) besetzten und als Dorfvorsteher (Ehrbarkeit) ihr Dorf nach aussen vertraten. Sie verfügten über ein in der täglichen Praxis erworbenes Rechtswissen, kannten sich im Schriftverkehr aus und führten ihr eigenes Siegel. Besonders Korn- und Weinhandel treibende Grossbauern, Müller und Wirte waren oft durch Heiraten mit gleichgestellten Familien anderer Dörfer liiert.

Der Dorfbevölkerung des Ancien Régime waren städtische Art und Lebensweise stetes Vorbild: Vom 17. Jahrhundert an nannten sich die Dorfgenossen "Bürger". Sie ahmten städtische Moden in der Kleidung, im Würfel- und Kartenspiel, beim Konsum von Kaffee, Branntwein und Tabak nach, auch wenn sie dabei gegen obrigkeitliche Mandate verstiessen. Sie führten, städtischer Kultur nacheifernd, dörfliche Theater- und Lesegesellschaften ein, und die Dorfmagnaten liessen sich samt Ehefrau porträtieren. Die Stadt erwies dem Dorf insgesamt wenig Gegenliebe: Während die Oberschicht, über ihre Landgüter mit dem Dorfleben verbunden, im Umgang mit Dorfbewohnern keine Mühe zeigte, vor allem Landvögte willkommene Taufpaten von Kindern der Ehrbarkeit und Auftraggeber der billiger arbeitenden Dorfmeister waren, legte umgekehrt die städtische Handwerkerschaft Verachtung für Dorfmeister an den Tag. Diese wurden einerseits verächtlich als Stümper (Nichtskönner) tituliert und schikaniert, andererseits aber auch um ihre bessere Selbstversorgung aus Bünte und Garten benieden.

Dorfleben

Vielerorts entzweiten Kämpfe der Tauner gegen die Bauern um den Gemeinnutzen und Machtkämpfe zwischen Parteien und Familien um Besitz und Position ganze Dorfschaften, Nachbarn stritten in kleinlichen Prozessen um schlecht gemachte Zäune und Wegrechte, regulär ausgebildete Dorfmeister gingen gegen Heimweber und Stümper vor. Dorfleben war für viele mit Mangelernährung und Hunger infolge saisonaler Krisen verbunden. Dem Dorfbewohner erschien daher die nahe Stadt als geschützter Hafen, deren Bürger durch soziale Institutionen in Krankheit, Armut und Alter einen gewissen Schutz genossen, wohingegen den armen, kranken und alten Dorfbürgern die entehrende Versorgung "im Kehrgang" (d.h. turnusmässige Unterbringung bei anderen Familien) drohte. Im Unterschied zur abgeschirmten, daher wenig innovativen Kleinstadt war das Dorf in der Regel offener gegenüber neuen, alternativen gewerblichen und kaufmännischen Berufen. Hier siedelten sich Krämer, Textilverleger, Hausierer, Orgelbauer, Bierbrauer usw. an, mit dem Resultat, dass bereits im 18. Jahrhundert grosse Gewerbedörfer den meisten Kleinstädten den Rang abliefen und gerüstet waren für den wirtschaftlich-technischen und industriellen Wandel nach 1800.

Das Dorf im 19. und 20. Jahrhundert

Die Helvetik stellt für die Geschichte des Dorfes eine wichtige Zäsur dar. Nach jahrhundertelanger Unterstellung unter die städtische Herrschaft erlangte es die rechtliche Gleichstellung, seine Bewohner waren nicht mehr Untertanen, sondern gleichberechtigte Bürger. Durch die Munizipalverfassung wurden die Dörfer rechtlich, politisch und verwaltungsmässig zu Gemeinden erhoben und dank der - allerdings nur schrittweise durchgesetzten - Handels- und Gewerbefreiheit auch wirtschaftlich und sozial gleichgestellt.

Die Niederlassungsfreiheit bedeutete für die Dörfer eine grosse Umstellung. Die rechtlichen Schranken zum Fernhalten von Zuzügern fielen weg. Da man die Nutzung der Gemeindegüter aber weiterhin nicht allen Dorfbewohnern zugänglich machen wollte, wurde neben der neuen Einwohnergemeinde an fast allen Orten eine Bürgergemeinde (auch Ortsbürgergemeinde oder Korporation genannt) gegründet, welche die Inhaber der alten Allmend- und Waldnutzungsrechte umfasste. Der Ausscheidungsprozess zwischen den verschiedenen Gemeindeformen konnte sich über Jahrzehnte hinziehen; je grösser die Gemeingüter waren, desto hartnäckiger verliefen die Auseinandersetzungen.

Das Dorf zwischen Entvölkerung und Urbanisierung

Die neuen Freiheiten bewirkten bis in die 1830er Jahre ein allgemeines Bevölkerungswachstum, dank steigender landwirtschaftlicher Produktion sowohl in agrarischen Dörfern als insbesondere auch in wirtschaftlich diversifizierten Handwerker- und Heimarbeiterdörfern. Trotz Agrarreformen war die Raumordnung in vielen Dörfern des Mittellandes weiterhin von der Dreizelgenwirtschaft geprägt, sodass das Ackerland vorerst von der Überbauung verschont blieb.

Der grosse Wandel kam ab 1850 mit Eisenbahnbau und fortschreitender Industrialisierung, die das Dorf in einen bis heute wirksamen Veränderungsprozess einbezogen: Bevölkerung und Industrie konzentrierten sich zunehmend entlang den neuen Verkehrsträgern und Energieverteilern. Die bestehenden Städte wuchsen schnell an, neue Industriestädte entstanden. Der Anteil der in Dörfern lebenden Bevölkerung ging stark zurück. Allerdings waren die ländlichen Siedlungen von dieser Entwicklung unterschiedlich betroffen. Abgelegene Dörfer erlitten durch die Abwanderung erheblichen Bevölkerungsverluste. Gut erschlossene Dörfer vor allem in Gebieten mit heimindustrieller Tradition entwickelten sich zu Industrie- und Arbeiterdörfern, eine Tendenz, die in der Schweiz ausgeprägt war, weil die Industrialisierung vergleichsweise dezentral verlief. In Dörfern, die von der Eisenbahn erschlossen wurden, veränderte sich das Siedlungsgefüge markant: Die Bahnhofstrasse wurde zur ersten Geschäftsstrasse und oft auch zum Kern des ersten Dorfquartiers. Vororte schlossen sich ab 1860-1870 in rascher Entwicklung dem städtischen Wachstum an und erlebten in Bauweise und -dichte eine massive Urbanisierung. Ihnen brachte die Verstädterung, wie zum Beispiel dem Industriedorf Oerlikon (seit 1934 Gemeinde Zürich), schon bald nach 1900 Errungenschaften wie Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerk, Abfuhrwesen, moderne Schulhäuser, Krankenautobetrieb, unentgeltliche Geburtshilfe, Arbeitslosenversicherung, Tramlinie, Wochenmarkt und tieferen Steuerfuss. In den Vororten zeichneten sich nach 1860 zukünftige Agglomerationen ab bzw. bereiteten sich spätere Eingemeindungen (Gemeindezusammenschluss) vor, die 1893 in Zürich erstmals entscheidend zur Ausdehnung der Stadt beitrugen. Im Zeichen des Tourismus wandelten sich derweil Dörfer an Seen und im Berggebiet zu Fremdenverkehrsstädten, wie unter anderem Montreux, Interlaken und St. Moritz.

Bauernhäuser Alt-Effretikons und die Grossüberbauung Wattbuck. Fotografie, 1967 © Andreas Wolfensberger, Winterthur.
Bauernhäuser Alt-Effretikons und die Grossüberbauung Wattbuck. Fotografie, 1967 © Andreas Wolfensberger, Winterthur. […]

Nach 1960 leitete die allgemeine Motorisierung die Verstädterung des Dorfes ein. Sie löste den Bauboom aus, der rund um stadtnahe Dörfer Neubauquartiere und ganze Schlafstädte entstehen liess. Die einst das dörfliche Leben prägende Landwirtschaft wurde selbst in stadtfernen Gemeinden immer mehr in eine Nebenrolle gedrängt. Eine gewisse "Entstädterung" brachte ab 1970 ein mehr flächenhaftes Bevölkerungswachstum: Autobahnen und tiefe Benzinpreise erlaubten einer wachsenden Zahl von Pendlern, ihren Wohnort fast beliebig dezentral vom Arbeitsort zu wählen. Dies führte zu einer Ausdehnung des äusseren städischen Agglomerationsgürtels auf Dörfer in immer weiterem Umkreis um die Stadt, der im Fall von Basel, Genf und Zürich weit über die Kantons- bzw. über die Landesgrenze reicht. Auch das Mendrisiotto ist heute in eine grenzüberschreitende Agglomeration mit Como und Varese eingebunden.

In diesem 150 Jahre währenden Prozess war das Dorf existenzbedrohender Veränderung ausgesetzt: Einerseits entvölkerte die Abwanderung aus Randgebieten, vor allem aus der alpinen Zone der Kantone Graubünden und Tessin, aber auch aus verkehrsfernen Regionen des Hügellandes, des Napf- und Voralpengebiets und Juras ganze Dörfer. Andererseits wuchsen im Zeichen des "schweizerischen Wirtschaftswunders" der Nachkriegszeit Industrie- und Tourismusdörfer zu Städten heran; Vororte wurden zu Trabantenstädten oder Stadtquartieren. Mit neuen Funktionen, zum Beispiel von regionalen Einkaufs- und Verteilzentren des Versandhandels, entwickelten sich verkehrsgünstig gelegene Dörfer wie das aargauische Spreitenbach (2010 10'831 Einwohner aus über 70 Nationen) zu grossen Agglomerationssiedlungen mit hohem Immigrantenanteil und mit einem von Hochhäusern geprägten Ortsbild.

Verstädtert - und doch keine Stadt: Rückbesinnung auf das Dorf

«Erinnerung an die Landesausstellung – Schweizerdorf». Postkarte der Landesausstellung in Genf 1896 (Bibliothèque de Genève).
«Erinnerung an die Landesausstellung – Schweizerdorf». Postkarte der Landesausstellung in Genf 1896 (Bibliothèque de Genève). […]

Bis in die 1960er Jahre, als eine überhitzte Siedlungsentwicklung einsetzte, hatten die alten Industriedörfer ihren dörflichen Charakter meist bewahrt. Sie boten den hässlichen Anblick ungeregelter Überbauung wie das Strohindustriedorf Wohlen (AG) mit kunterbunt aneinandergereihten Verlegerhäusern, Fabrikantenvillen, Fabriken, Bauernhöfen, Wohnhäusern mit Läden und ersten Warenhäusern. Die Arbeiterschaft, mehrheitlich aus dem Dorf selbst, war integriert. Für Zuzüger gab es firmeneigene Arbeiterhäuser am Dorfrand mit Pflanzland zur allgemein üblichen Selbstversorgung. Noch führten dörfliche Markttage, Feste und Theateraufführungen der Jugendvereine die Einwohner auch des Grossdorfs zusammen. Erst nach 1960 verdrängte der Verkehr Leichenzüge und kirchliche Prozessionen von der Hauptstrasse und bewog die letzten Bauern zur Aussiedlung aus dem Dorf. Nun erst entstanden mit dem Zuzug von Arbeitskräften, darunter immer mehr Immigranten, Neubauquartiere mit Quartierschulhaus, Sportplatz, Schwimmbad und Filialen der Grossverteiler, Banken und der Post. Trotz eigener Infrastruktur stellte sich ein Gemeinschaftsgefühl weder im Quartier noch im Dorf ein. Das Dorf war zwar verstädtert, doch war es weit entfernt davon, Stadt zu sein. Nicht zuletzt fehlte trotz Anstrengungen (u.a. Ausstellungen, Kirchenkonzerte, Vortragsreihen) das kulturelle Angebot der Stadt.

Schon in den 1960er Jahren setzte in grösseren Industriedörfern eine Art Rückbesinnung auf das Dorf ein: Ortsgeschichten wurden in Auftrag gegeben und der Grundstein zu Ortsmuseen gelegt. Eingeschlafene Bräuche und Feste wie Ernte- und Waldfeste, Fasnachts- und Räbeliechtli-Umzüge lebten wieder auf. Mit der Popularisierung des Heimatschutzgedankens in den 1970er Jahren bildeten sich Dorfvereine zur Pflege des Dorfbildes und Erhaltung historischer Gebäude. In den gesichtslosen, neu erstellten Quartieren schuf man "Dorfplätze". Vieles entstand auf Privatinitiative, oft mehr durch Zugezogene als Alteingesessene. Insbesondere die Kirchen engagierten sich mit gemeinsamen Anlässen in neuen kirchlichen Zentren.

Obschon längst im Siedlungsbild der Stadt aufgegangen, hatten einst selbstständige Dörfer als Quartiere grosser Städte nie aufgehört, ihre Sonderart zu behaupten und zu betonen. Sie pflegen Reste ihrer einstigen dörflichen Infrastruktur von der Dorfkirche, über alte Bauten bis hin zur dörflichen Ladenstruktur. Ihre auf das ehemalige Dorf bezogene Quartierkultur äussert sich in regem Vereinsleben, in Vereins- und Quartierfesten, in Quartiermuseen und -festschriften.

Überlebensstrategie für Dörfer

Anders lagen die Probleme in bäuerlich-kleingewerblichen Dörfern. Noch blieb trotz Abschaffung des Zelgbaus genossenschaftliche Arbeit, zum Beispiel im Wegbau, bei Meliorationen und Güterzusammenlegungen, ein alle verbindendes Element. Der Wandel kam durch die Mechanisierung und Motorisierung, die Arbeitskräfte überflüssig machten, und im Alpwirtschaftsgebiet durch Wegbau, die Sommerdörfer unbewohnt lässt, weil Alpen vom Taldorf aus betrieben werden. Viele Dörfler wanderten mangels Arbeitsstellen ab, was die dörfliche Infrastruktur schrumpfen liess. Um als Dorf zu überleben, entschied man sich zu übergemeindlichen Infrastruktur: Schulhaus, Altersheim, Gesundheitswesen, Kläranlagen usw. werden von Nachbardörfern im Gemeindeverband betrieben und genutzt.

Übergänge zwischen Stadt und Dorf sind heute fliessend, zumal vieles, was einst nur die Stadt auszeichnete, Allgemeingut geworden ist. Neu ist hingegen ein wieder erwachtes Selbstbewusstsein des Dorfes, nicht zuletzt, weil immer noch viele Menschen, selbst wenn sie ihr Brot in der Stadt verdienen, das Leben im Dorf wählen, sei es, um sich das Einfamilienhaus und ihren Kindern einen sichereren Schulweg zu leisten, sei es in der Erwartung nach mehr Lebensqualität. Trotz enormen Veränderungen in den letzten zwei Jahrhunderten lebt so ein Teil der nachbarschaftlich-dörflichen Werte weiter.

Quellen und Literatur

Ur- und Frühgeschichte
  • B. Eberschweiler et al., «Greifensee-Böschen ZH: Ein spätbronzezeitl. Dorf», in JbSGUF 70, 1987, 77-100
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  • R. Fellmann, La Suisse gallo-romaine, 1992
  • SPM
  • P. Curdy et al., «Brig-Glis/Waldmatte, un habitat alpin de l'âge du Fer», in ArS 16, 1993, 138-151
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Mittelalter
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Frühneuzeit
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19. und 20. Jahrhundert
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  • ASV
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  • P. Hugger, «Volkskundl. Gemeinde- und Stadtteilforsch.», in Grundriss der Volkskunde, hg. von R.W. Brednich, 21994, 273-291
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler; Philippe Della Casa: "Dorf", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 25.03.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007947/2015-03-25/, konsultiert am 19.04.2025.