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Pocken

Hochansteckende, durch Viren (Poxvirus variolae) verursachte Infektionserkrankung, auch Blattern (small pox) genannt, die über die Atemwege oder den direkten Kontakt mit infizierten Gegenständen übertragen wird. Im Verlauf der Krankheit bildet sich ein typischer Ausschlag mit Bläschen und Pusteln am ganzen Körper, der bleibende Narben hinterlässt. Bei einem zyklischen Aufflammen der Erkrankung liegt die Letalität (Sterberate der Infizierten) bei 10-20%, in einer nicht immunisierten Population kann sie aber 30% oder mehr betragen. Die stark immunisierenden Pocken treten nur ab einer gewissen Bevölkerungsdichte in Epidemien auf. Ist diese Schwelle erreicht, entwickeln sie sich zur Kinderkrankheit, die alle fünf bis sechs Jahre zyklisch auftritt. Dies entspricht dem Zeitraum, in dem eine statistisch signifikante Anzahl jüngerer Kinder heranwächst, die von der vorausgehenden Krankheitswelle noch nicht erfasst worden sind. Dieses Verbreitungsmuster führte zuweilen zum vorübergehenden Verschwinden der Pocken in Populationen des alpinen Raums oder von Streusiedlungen mit tiefer Mobilität. Gleichzeitig jedoch stieg in solchen, nicht immunisierten Bevölkerungsgruppen bei einem Pockenausbruch die Letalität deutlich an. Mit Ausnahme der Beulenpest im 14. Jahrhundert hat kaum eine andere Krankheit so viele Tote gefordert wie die Pocken.

Für Genf, das seit dem 16. Jahrhundert die Todesursachen erfasst, sind Pockenfälle bereits in den ersten entsprechenden Quellen dokumentiert: So verursachten die Pocken 1580-1669 mindestens 6,7% der erfassten Todesfälle, 1670-1749 5,3% und 1750-1799 deren 5%. Mit 58% waren mehr als die Hälfte der Pockentoten Kinder zwischen einem und vier Jahren. Ungefähr ein Viertel aller Todesfälle in dieser Altersgruppe war pockenbedingt. Ältere Kinder waren weniger stark betroffen: Unter den 5- bis 9-Jährigen war eine Pockeninfektion bei 15,7%, unter den 10- bis 14-Jährigen bei 3,7% der Verstorbenen die Todesursache. Keine Generation blieb verschont. So waren zwischen 1580 und 1799 in insgesamt 42 Jahren jeweils mehr als 10% aller Todesfälle auf die Pocken zurückzuführen. Die stärksten Epidemien fielen zeitlich mit Pestzügen zusammen: 1580 betrug der Anteil der Pockentoten an den Todesfällen 24%, 1590 20,6%; 1606 43%; 1611 30,3%; 1620 44,1%; 1634 52,2% und 1648 35,6%. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts überschritt die Pockenletalität nur 1655 und 1686 die 30%-Marke, im 18. Jahrhundert nur 1715. Im betrachteten Zeitraum zeichnet sich ein klarer Rückgang der Pocken als Todesursache ab. Starben im 16. Jahrhundert von 1000 Kindern noch 107 vor ihrem 10. Geburtstag an der Krankheit, waren es im 17. Jahrhundert 96 und im 18. Jahrhundert 64. Vergleichbare Daten liegen im 18. Jahrhundert für den Kanton Bern vor: Betroffen waren in erster Linie Kinder, und die Erkrankung verlief epidemisch mit Spitzen alle vier bis sieben Jahre.

Die Pocken sind die erste Infektionskrankheit, vor der sich der Mensch zu schützen vermochte. Die in Asien praktizierte sogenannte Variolation, bei der man mit einer Lanzette Proben einer Pockenpustel übertrug, wurde 1721 in London eingeführt und verbreitete sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts auf dem europäischen Festland. 1752 veröffentlichte Jean-Antoine Butini ein beachtetes Werk über den Nutzen der Methode. 1756 wurde Théodore Tronchin nach Paris gerufen, um die Kinder von Herzog Ludwig Philippe von Orléans zu impfen. Die Variolation war jedoch mit Risiken verbunden, ihr Rolle bei der Eindämmung der Pocken im 18. Jahrhundert bleibt umstritten. Sie wurde von der Impfung mit Kuhpockenlymphe abgelöst, die Edward Jenner 1796 einführte. Ihm war aufgefallen, dass Melkerinnen die Pocken nicht bekamen, was er auf eine Immunisierung durch den Kontakt mit Kuhpocken (cow pox) zurückführte. Das Impfverfahren setzte sich rasch und breit durch. Dazu beigetragen haben vor allem auch Genfer Ärzte wie Louis Odier, der nach dem Erscheinen von Jenners Werk 1798 eine kommentierte Übersetzung publizierte.

Nach einer heftigen Epidemie 1800, die in Genf 256 Tote forderte (26% aller Todesfälle), wurden europaweit grosse Impfkampagnen durchgeführt, was zu einem schnellen Rückgang der Sterberate führte. Vereinzelt kam es dennoch zu schweren Epidemien. 1806 starben im Kanton St. Gallen 1383 Menschen (26,3% aller Todesfälle) an den Pocken, 1813 222 (5,2%), 1819 177 (4,5%). Im Kanton Neuenburg waren es 1832-1833 187 (6,4%). Im Kanton Zürich wurden während der Epidemie von 1871 1068 Fälle gemeldet, 137 Menschen starben (12,8% Letalität); 1885-1886 wurden 713 Erkrankte registriert, wovon 132 starben (18,5% Letalität). Im Kanton Bern forderte eine Epidemie 1871-1872 nach der Internierung der Bourbakiarmee 448 Tote (3,1% aller Todesfälle); im ganzen 19. Jahrhundert starben 922 Menschen im Kanton an den Pocken, womit ihr Anteil an den Todesfällen noch 0,3% ausmachte. Die letzte Pockenepidemie traf die Schweiz 1921-1925, wobei lediglich 14 der 5463 Erkrankten starben. Seit 1933 wurde in der Schweiz kein Fall mehr gemeldet. Obschon die WHO die Pocken 1980 für ausgerottet erklärte, hat die Weltgesundheitsversammlung erkannt, dass ein Wiederauftreten nicht auszuschliessen ist. Deshalb sollen die letzten beiden Bestände an Pockenviren in den USA und in Russland zu Forschungszwecken vorerst erhalten bleiben. Die diesbezügliche, von der Weltgesundheitsversammlung seit 1986 wiederholt geführte Diskussion mündete bisher nicht in der Festlegung eines genauen Datums für die Zerstörung der Bestände. Das Thema wird 2014 erneut aufgenommen.

Quellen und Literatur

  • A. Perrenoud, La population de Genève du seizième au début du dix-neuvième siècle, 1979
  • F. Fenner et al., Smallpox and its Eradication, 1988
  • E. Siffert, Die Pocken im Kt. Bern während des 18. und 19. Jh., Liz. Bern, 1993
  • M. Steinmann, «Impf-Alltag im 19. Jh. Das Verhältnis zwischen Ärzten und Bevölkerung vor dem Hintergrund der Pockenschutzimpfung im Kt. Luzern», in Gesnerus 52, 1995, 66-82
Weblinks

Zitiervorschlag

Alfred Perrenoud: "Pocken", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.12.2014, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007981/2014-12-27/, konsultiert am 28.03.2024.