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Auswanderung

Emigration

Die Wanderungsbewegungen (Auswanderung, Einwanderung, Binnenwanderung) sind integraler Bestandteil der Bevölkerungs-, Wirtschafts- und politischen Geschichte der Schweiz. Soweit sich die Auswanderung anhand zuverlässiger Quellen in die Vergangenheit zurückverfolgen lässt, hatte praktisch jede Generation wesentlichen Anteil daran. Die empirischen Daten sprechen dafür, dass die Wanderungsbilanz für das Gebiet der heutigen Schweiz von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stets negativ war. Über die Wanderungsbewegungen früherer Zeiten besteht weitgehende Unsicherheit.

Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts überwog die Auswanderung eindeutig: Aus Furcht vor einer Übervölkerung ergriffen die eidgenössischen Orte Massnahmen gegen die Einwanderung, und die Kantone führten diese Politik noch bis zur Gründung des Bundesstaats fort. Erst als 1888-1900 mit dem Aufschwung der Schweizer Wirtschaft auch der Arbeitskräftebedarf stieg, wendete sich der Trend zugunsten der Einwanderung.

Die schweizerische Geschichtswissenschaft hat die verschiedenen Formen von Auswanderung höchst unterschiedlich behandelt und dabei Aspekte in den Vordergrund gestellt, welche die Interessen der Führungsgruppen sowie nationale oder regionale Präferenzen widerspiegeln. Dies erklärt, weshalb für die Zeit vor dem 19. Jahrhundert der Akzent auf die fremden Dienste und die Siedlungsauswanderung gesetzt wurde, danach auf die grossen Wellen der Auswanderung nach Übersee und Europa (Schweizer Kolonien), welche häufig ein Eingreifen der politischen Behörden erforderlich machten. Erst in jüngerer Zeit wurden vermehrt auch andere Formen der Auswanderung untersucht. Diese waren zwar zahlenmässig weniger bedeutend und häufig auf Einzelpersonen beschränkt, doch spielten sie für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz eine wichtige Rolle. Zu nennen sind die Handelsemigration, die zur Erschliessung von Absatzmärkten für Schweizer Produkte beitrug, die Auswanderung von hochqualifizierten Spezialisten – namentlich Männern (z.B. Tessiner Architekten, Bündner Zuckerbäcker), in geringerem Masse auch Frauen – sowie die Bildungsemigration, welche die Aneignung von in der Schweiz nicht erwerbbaren Fähigkeiten ermöglichte (Wanderarbeit). Zudem hat in den vergangenen 30 Jahren die Zahl von Publikationen über einzelne Ausgangs- und Zielgebiete ständig zugenommen. Die Literatur über die Auswanderung im Mittelalter hat bisher vorwiegend qualitative Aspekte betont und gibt eher Aufschluss über Migrationsmuster von Eliten (Kreuzzüge, Pilgerwesen) als des Volkes. Vom 16. Jahrhundert an sind Verlauf und Ursachen einiger Migrationsformen besser herausgearbeitet worden. Alles in allem sind aber in der schweizerischen Migrationsforschung noch verschiedene Fragen offen.

Formen der Auswanderung

Bis ins 19. Jahrhundert war die zivile Auswanderung, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Tessin, Waadt im 18. Jahrhundert), weniger bedeutend als die militärische. Dies ist auf eine Bevölkerungspolitik zurückzuführen, welche einer definitiven Auswanderung der Landbevölkerung entschieden entgegenwirkte, denn die führende Schicht wollte sich für ihre eigenen wirtschaftlichen (Protoindustrie) oder militärischen Interessen (Solddienste) genügend Arbeitskräfte erhalten. Vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert blieben die Formen der Auswanderung weitgehend dieselben und jahrhundertelangen Traditionen verhaftet. Zu den wenigen Ausnahmen gehören die Wanderungen der Walser und die Zwangsemigrationen im 19. Jahrhundert

Der Eintritt in fremde Kriegsdienste war – obwohl er praktisch nur Männer betraf – bis in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts die weitaus häufigste Form der Auswanderung. Vom 13. Jahrhundert an fassbar, veranlasste er die eidgenössischen Orte 1370 im Pfaffenbrief erstmals zum Eingreifen, indem sie ihren Stadt- und Landbewohnern die Teilnahme an privaten Kriegszügen untersagten. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts stieg die Zahl der Reisläufer stark an, da nun auch in grosser Zahl Bewohner höher gelegener Gebiete auszogen, die bis dahin kaum zur Auswanderung gezwungen gewesen waren. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts war die militärische Auswanderung gewöhnlich temporär, was sich danach mit der Schaffung stehender Heere änderte. Im 16. Jahrhundert standen rund ein Drittel der mehr als 16-jährigen Männer einmal in fremden Diensten, im 17. Jahrhundert waren es 20-25% (ca. 180'000-225'000 Männer), im 18. Jahrhundert noch 10-15% (ca. 135'000-205'000 Männer), ebenso im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Vor dem 18. Jahrhundert wurden Männer aller Altersklassen bis 40 und jeden Zivilstands angeworben. Im 18. und 19. Jahrhundert dagegen wanderten vor allem sehr junge Leute im Alter zwischen 16 und 19 Jahren aus. Diese Veränderung hatte mehrere Ursachen: eine verminderte Nachfrage nach Soldaten, eine schlechtere Entlöhnung und ein geringeres Ansehen, weil einige eidgenössische Orte auch Vorbestrafte entsandten.

Die Auswanderung des Adels war sowohl eine zivile wie auch eine militärische, sie erfolgte einzeln oder in Gruppen, freiwillig oder unter Zwang. Der Wegzug eines Lehnsherrn löste zuweilen eine dauerhafte Abwanderung der Eliten aus. Im 13. Jahrhundert beispielsweise führten die familiären und persönlichen Beziehungen zwischen den Grafen von Savoyen und England zu einer starken Präsenz waadtländischen Adels auf englischem Boden. Da die Savoyer hier ausgedehnte Ländereien besassen, fanden zahlreiche Gefolgsleute als Kastlane, Festungskommandanten oder gar als Kämmerer Eingang in die königliche Verwaltung. Andere wiederum spielten in der Kirche eine bedeutende Rolle. Einige blieben bis zu ihrem Tod in England. Im 13. und 14. Jahrhundert wanderten so wahrscheinlich mehrere Hundert Personen aus, denn dem Adel folgte ein ganzer Tross von Bediensteten und Handwerkern (für den Burgenbau). Zuweilen war die Auswanderung von Adligen aber auch eine erzwungene: Infolge politischer oder religiöser Umwälzungen flohen aristokratische Familien aus der Schweiz, so die von Reinach, die sich im 15. Jahrhundert im Elsass niederliessen und sich danach im Dienst der Kirche oder ausländischer Herrscher auszeichneten, in Basel die alten Adelsfamilien, die dem Bischof nahe standen und in der Reformationszeit nach diesem die Stadt verliessen, in Genf einige Familien, die dem Herzog von Savoyen folgten. Auch religiöse Dissidenten waren zur Emigration gezwungen, so im 16. bis 18. Jahrhundert die Täufer, die in einigen reformierten Orten, vor allem der Deutschschweiz, verfolgt wurden und zunächst in Nachbarländern Zuflucht fanden. Einige Zweige adliger Familien entschlossen sich auch freiwillig zur Auswanderung, so die Angehörigen des Hauptzweigs der Familie von Hallwyl, die sich Ende des 16. Jahrhunderts für die katholische Konfession entschieden und nach Österreich und Böhmen auswanderten.

Weniger bekannt, aber gleichwohl eine Konstante ist die Auswanderung von Geistlichen, in welcher der grosse Einfluss, den die Kirche bis ins 19. Jahrhundert auf die Gesellschaft ausübte, zum Ausdruck kommt. Im Mittelalter machten einige Mitglieder einflussreicher Familien eine glänzende Laufbahn, zum Beispiel im 14. Jahrhundert am päpstlichen Hof in Avignon. Bis ins 20. Jahrhundert waren Schweizer zum Beispiel Chorherren und Prälaten in Besançon, Kärnten, Lüttich, Wien usw., Äbte grosser Klöster wie Weingarten oder Neresheim (beide D), Bischof von Brixen und Speyer, in Schweden und Norwegen, einer sogar Erzbischof von Mainz. Einige Schweizerinnen standen Abteien im benachbarten Ausland vor (z.B. Andlau, Masmünster, Feldbach, Säckingen). Auf protestantischer Seite war es üblich, dass junge Geistliche ohne eigene Pfarrei freiwillig ein paar Jahre als Vikare in einer hugenottischen Pfarrei im Ausland verbrachten. Die Pilger zählen zwar nicht zu den Auswanderern im eigentlichen Sinn, doch hatte das mittelalterliche Pilgerwesen erhebliche Auswirkungen auf die Bevölkerung. Die Reise in das Heilige Land wurde im 15. und 16. Jahrhundert in führenden Kreisen zum Klassiker und, indem sie Bildungscharakter annahm, zum Statussymbol.

Die Auswanderung zur Ausbildung und zum Sammeln von Kenntnissen ist ein fester Bestandteil der Schweizer Geschichte. Der Grund dafür liegt im Mangel an Unterrichtsstätten für die mittlere und höhere Schulbildung, insbesondere in den Bergregionen, denen ein grösseres kulturelles Zentrum fehlte. Die Auswanderung zur Aneignung von Bildung lässt sich oft auch auf Familienstrategien zurückführen. Viele junge Leute aus dem Patriziat und dem wohlhabenden städtischen oder ländlichen Bürgertum begaben sich ab dem 14. und 15. Jahrhundert an die grossen ausländischen Universitäten, sei es für einen Kurzaufenthalt oder einen vollständigen Studiengang, was mit der Einführung von Stipendien ab der Mitte des 15. Jahrhunderts einfacher wurde (Studenten). Das Wissen in Handel, Finanz- und Bankwesen erwarb man sich in den Geschäftskreisen und den grossen Wirtschaftszentren während – oft mehreren – Lehren oder Praktika. Diese in einer ersten Wanderzeit in einer Schule oder am Arbeitsplatz erworbenen Fähigkeiten zogen häufig eine Auswanderung nach sich, wenn sie in der Schweiz nicht eingesetzt werden konnten. Viele Intellektuelle, Wissenschaftler, Theologen, Architekten, Händler und Financiers, Techniker und Facharbeiter machten an den europäischen Höfen sowie an den Universitäten und in der Geschäftswelt im Ausland Karriere – häufig vorübergehend, manchmal auch dauerhaft, wie im Falle der eingehend untersuchten Auswanderung nach Russland oder der Auswanderung nach Deutschland und Österreich. Einige Spezialisten wanderten in früheren Zeiten aus als andere, so zum Beispiel die Handels-, Finanz- und Baufachleute. Die Handels- und Finanzemigration setzte im 14. Jahrhundert ein: Genfer und Leute aus der Diözese Genf an der Kurie in Avignon sowie ein Jahrhundert später Händler aus der Diözese Lausanne waren am Mittelmeerhandel über den Hafen von Marseille beteiligt. Vom ausgehenden 15. Jahrhundert an war die Schweizer Präsenz in Frankreich, später auch in anderen wirtschaftlich entwickelten Ländern stark, wobei wirtschaftliche, finanzielle und militärische Interessen miteinander verflochten waren. Ab dem 16. Jahrhundert lässt sich die Bildung schweizerischer Handels- und Finanzkreisläufe feststellen, die sich in den folgenden Jahrhunderten rasch in allen Wirtschaftszentren Europas ausbreiteten. Im 18. Jahrhundert expandierten Händler- und Techniker-Dynastien zunächst innerhalb von Europa, bevor sie sich vom 19. Jahrhundert an auch in Übersee niederliessen.

Die Auswanderung im Bauwesen begann bereits im 12. Jahrhundert mit der Präsenz von Tessinern in Mailand und der Lombardei. Im 14. Jahrhundert arbeiteten Tausende von qualifizierten oder unqualifizierten Tessiner Architekten, Stuckateuren, Festungsbaumeistern, Steinmetzen, Maurern und Hilfsarbeitern auf sämtlichen öffentlichen Baustellen der grossen italienischen Städte. In den folgenden Jahrhunderten bis zum Ersten Weltkrieg emigrierten Tessiner in viele andere europäische Städte, wo sie, wie die Bündner Auswanderer, eine ganze Reihe von Berufen ausübten. Diese temporäre Auswanderung vor allem der kleinen Leute ist vor dem Hintergrund einer Gesellschaft zu sehen, in der Zusatzeinkünfte lebenswichtig waren. Sie konnte sich auf Saisonarbeit beschränken, betraf hauptsächlich Männer und junge Leute, manchmal aber auch Frauen und Kinder (Schwabengänger). Sie führte aus den Bergen ins Flachland nördlich des Rheins und in die Poebene, aber auch von einer Bergregion in eine andere. Die temporäre Auswanderung konnte auch ein oder mehrere Jahre dauern, wie im Fall der vorwiegend bündnerischen Zuckerbäcker und Kaffeehausbesitzer, die es in den grossen städtischen Zentren Europas zu Wohlstand brachten.

Die Siedlungsauswanderung

Wie die Walserwanderungen im Mittelalter gehört auch die Auswanderung zur Neubesiedlung der im Dreissigjährigen Krieg heimgesuchten Landschaften, an der sich zahlreiche Schweizer beteiligten, zu den umfangreichsten Siedlungsauswanderungen. Allein im Elsass und in der Freigrafschaft Burgund wanderten zwischen 1660 und 1740 schätzungsweise 15'000-20'000 Personen aus der Schweiz zu; hinzu kommt eine grosse Zahl von in andere Reichsgebiete (Pfalz, Württemberg, Bayern, Brandenburg) Abgewanderten. An dieser Auswanderung, die sich über einen sehr langen Zeitraum erstreckte, nahmen Einzelpersonen wie auch Familien teil. Es handelte sich vornehmlich um einfache Leute, häufig Landhandwerker und Bauern, die grösstenteils aus dem Aargau, Bern, Luzern und Zürich stammten und sich häufig am neuen Siedlungsort nach Religion oder Herkunftsort zusammenschlossen. Im 18. Jahrhundert führte die Siedlungsauswanderung nach verschiedenen Zielen, vor allem nach Mittel- und Osteuropa sowie in die britischen Kolonien Amerikas.

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Auswanderung nach Übersee – vor allem nach Nordamerika (am Ende des 19. Jahrhunderts Ziel von fast 90% der Emigranten), Südamerika, in geringerem Masse auch auf andere Kontinente – neue Dimensionen an, wozu auch die Entwicklung der Transportmittel und die Aktivität der Auswanderungsagenturen beitrugen. 1851-1860 wanderten rund 50'000 Personen nach Übersee aus, in den 1860er und 1870er Jahren je 35'000 und 1881-1890 über 90'000. 1891-1930 stabilisierte sich die Zahl der Auswanderer pro Jahrzehnt zwischen 40'000 und 50'000. In den 1930er Jahren sank sie auf wenige Tausend. Die Zahl der Schweizer Auswanderer und Niedergelassenen zweiter Generation in Europa ging in die Zehntausende (Auslandschweizer): 1850 rund 68'000, 1900 rund 170'000 (davon 87'000 in Frankreich).

In den Weltkriegsjahren 1914-1918 kam die Auswanderung zum Stillstand. Anfang der 1920er Jahre setzte sie erneut ein, brach jedoch bald wieder ab, da die USA in den 1930er Jahren Massnahmen zur Beschränkung der Einwanderung ergriffen und in der Folge weniger als 20% der Schweizer Überseeauswanderer aufnahmen. Nach 1945 veränderten sich die Formen der Auswanderung. Seither ist sie meist temporär, wird vorwiegend zu Ausbildungszwecken oder aus beruflichen Gründen und von Frauen und Männern gleichermassen unternommen (ca. 15'000 Personen seit dem Ende der 1980er Jahre).

Die Ursachen der Auswanderung

Neben den persönlichen oder familiären Beweggründen, die bei einigen Wanderungsformen (Bildungs- und Handelsemigration) eine entscheidende Rolle spielen, waren bei der militärischen und der Siedlungsauswanderung sowie bei der Auswanderung der kleinen Leute drei Faktoren ausschlaggebend: Bevölkerungsdruck, Armut und Unterbeschäftigung. Das Missverhältnis zwischen Bevölkerungszahl und Ressourcen führte gemäss zeitgenössischen Berichten im 16. Jahrhundert zu einer verbreiteten Verarmung. In den höher gelegenen Regionen brachte die Spezialisierung auf Viehzucht ab dem 15. Jahrhundert eine chronische Unterbeschäftigung mit sich, der die Bevölkerung durch Auswanderung zu begegnen versuchte. Von der Mitte des 17. Jahrhunderts an lässt sich eindeutig feststellen, dass jede wirtschaftliche, politische und konfessionelle Krise Wanderungsbewegungen nach sich zog. Allerdings war die Auswanderung in den hügeligen Gebieten, in denen vom 16. bis 19. Jahrhundert die Protoindustrialisierung vor sich ging, trotz der Bevölkerungszunahme weniger ausgeprägt. Die Auswanderung hatte dort hauptsächlich Ventilfunktion, wenn sich das Arbeitsangebot verringerte.

Überseeauswanderung im 19. Jahrhundert
Überseeauswanderung im 19. Jahrhundert […]

Auswanderungsströme wurden durch verschiedene wirtschaftliche Probleme ausgelöst, wie ein kurzer chronologischer Überblick veranschaulicht: fallende Agrarpreise nach dem Dreissigjährigen Krieg; Verschuldung und Konkurse in den 1690er Jahren; die Mangeljahre 1709-1711, denen eine Ausreisewelle nach Ostpreussen folgte; Probleme in der Textil- und der Uhrenbranche in den 1770er Jahren; die kriegsbedingte allgemeine Verarmung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die zur Auswanderung nach Russland führte, während in den Hungerjahren 1816-1817 vor allem Lateinamerika Auswanderungsziel war; die Landwirtschaftskrise der 1840er Jahre, die zusammen mit den Umstrukturierungsproblemen in der Industrie die ersten Massenauswanderungen nach Amerika auslöste; schliesslich die Agrarkrise der 1870er und 1880er Jahre, welche die Bauern nach Amerika und die Molkereispezialisten in die europäischen Nachbarländer auswandern liess.

Inserat einer Auswanderungsagentur, erschienen am 25. August 1883 im Feuille d'Avis de Neuchâtel (Bibliothèque publique et universitaire de Neuchâtel) .
Inserat einer Auswanderungsagentur, erschienen am 25. August 1883 im Feuille d'Avis de Neuchâtel (Bibliothèque publique et universitaire de Neuchâtel) .

Auswanderung konnte aber auch die Folge von politischen Entscheidungen von Behörden oder einzelnen Personen sein, zum Beispiel vor 1848, als sich die Schweizer Städte gegen die Landbevölkerung abschotteten, oder in den 1920er Jahren, als sich einige Dutzend Personen entschieden, in die UdSSR auszuwandern. Ein weiterer Faktor waren entwicklungshemmende politische Strukturen: So emigrierten Tessiner noch im 19. Jahrhundert in grosser Zahl, während im Tessin in einigen Branchen eingewanderte Arbeitskräfte aushelfen mussten. Dieses auch in anderen Regionen, zum Beispiel im Wallis und Engadin, beobachtbare Phänomen erklärt sich durch die Entstehung einer neuen Wanderungsform in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, welcher das Streben nach mehr Wohlstand zugrunde lag. Die Entscheidung für oder gegen die Auswanderung war nicht mehr bloss gleichbedeutend mit der Wahl zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit. Nun wurde auch die Art der Arbeit massgebend, und man entschloss sich zur Auswanderung, um als unangemessen beurteilten Berufschancen zu entgehen. Eine solchermassen aufgrund von wirtschaftlicher Überlegungen getroffene Wahl ist auch gegen Ende des 20. Jahrhunderts bei Landwirten festzustellen, die eine Auswanderung nach Übersee der Migration in die Städte vorziehen. Auf dieselben beruflichen Gründe ist es zurückzuführen, dass noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein erheblicher Teil der Auswanderer (rund 40%) aus ländlichen Gegenden stammte.

Die Auswanderungspolitik

Die kantonalen Behörden haben je nach Ort und Zeit höchst unterschiedliche Haltungen gegenüber der Auswanderung eingenommen. Das Spektrum reicht von der stillschweigenden Toleranz bis zum Verbot der Auswanderung, von der staatlichen Unterstützung der Auswanderung bis zur Abschiebung der Armen, die in einigen Kantonen im grossen Stil betrieben wurde und zuweilen, wie in anderen europäischen Ländern, einer Deportation gleichkam. Die Häufung von Mängeln und Missbräuchen in der Auswanderungspolitik und bei den Auswanderungsagenturen führte 1874 zur Schaffung eines Verfassungsartikels (Artikel 34 Bundesverfassung), welcher die Bundesregierung ermächtigte, notfalls einzugreifen. 1880 trat ein Bundesgesetz in Kraft, das dem Bund die Überwachung der Auswanderungsagenturen übertrug.

Das Geschlechterverhältnis in der Auswanderung

Dass Männer bei allen Formen der Auswanderung aus der Schweiz bis ins 19. Jahrhundert weitaus stärker als Frauen vertreten waren, erklärt sich durch ihre vielfältigeren beruflichen Möglichkeiten und den räumlich ausgedehnteren Arbeitsmarkt sowie als Folge der städtischen Zuzugsbeschränkungen für Männer. Der Wanderungsraum von Frauen beschränkte sich im Wesentlichen auf die Schweiz, da sie in den Städten, insbesondere als Hausangestellte, leicht Arbeit fanden. Diese geschlechtlich unausgewogene Migrantenstruktur hatte zur Folge, dass in den Auswanderungsgebieten wie in den Schweizer Städten bis ins 19. Jahrhundert ein Ungleichgewicht der Geschlechter bestand. Der beträchtliche Männermangel veränderte die Funktionsweise der Gesellschaft, zum Beispiel die Rolle der Frauen in der Tessiner Landwirtschaft, und hatte eine dauerhafte Senkung der Heiratsziffer zur Folge, was sich dämpfend auf das Bevölkerungswachstum auswirkte. 1870 kamen zum Beispiel im Maggiatal 288 20-24-jährige Frauen auf gerade 100 20-30-jährige Männer; 1900 waren 43,6% der 45-49-jährigen Frauen ledig. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts glich sich das Geschlechterverhältnis in der Auswanderung an, da einerseits infolge der Industrialisierung mehr Männer in der Schweiz blieben, andererseits mehr Frauen dank einer besseren Ausbildung im Ausland eine Stelle als Haushälterin oder Erzieherin fanden. Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren beide Geschlechter in etwa gleichem Masse an der Auswanderung beteiligt (seit dem Ende der 1980er Jahre je etwa 15'000 Schweizerinnen und Schweizer).

Die Rückkehr

Die Zahl der Rückkehrer hängt stark von der Auswanderungsform ab. Zudem liefert die Schweizer Migrationsstatistik ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und besonders im 20. Jahrhundert ein erheblich verzerrtes Bild, da bei den Rückkehrern auch Personen mit eingerechnet wurden, die einen Schweizer Pass besassen, aber nicht selber die Schweiz verlassen hatten, zum Beispiel Russlandschweizer nach der Russischen Revolution. Bei der militärischen Auswanderung schwankte die Rückkehrerzahl je nach Wirtschaftslage und Kriegsverlauf. So kehrten gegen Ende des 17. Jahrhunderts, nach dem Massensterben auf den europäischen Schlachtfeldern, nur wenige zurück, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dagegen 30-40%. Bei der zivilen Auswanderung (ohne saisonale und temporäre Auswanderung) war die Rückkehrneigung bis zur um die Mitte des 19. Jahrhunderts geborenen Generation gering. In den untersuchten Kantonen (z.B. Glarus, Zürich, Aargau) lag die Rückkehrerquote deutlich unter 10%. Dies lässt sich auf zwei für die Schweiz typische Faktoren zurückführen: die Auswanderungsform und die schwierige Wiedereingliederung am Ursprungsort. Die Siedlungsauswanderung, die ab Ende des 18. Jahrhunderts häufigste Form, war mit einer niedrigen Rückkehrquote verbunden. Zudem standen der Rückkehr häufig lokalpolitische Hindernisse entgegen, namentlich die Heirat mit einer Ausländerin, die das von den Behörden verlangte Einzugsgeld nicht aufbringen konnte, sowie die von der Heimatgemeinde mit ihrer Finanzierung der Atlantik-Überfahrt verbundene Auflage des – meist endgültigen – Verzichts auf das Bürgerrecht. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der Rückkehrer (1857-1924 betrug die Rückwanderungsquote aus Argentinien 40%). Hinzu kamen die Personen, die durch die politischen Umstände zur Rückkehr gezwungen wurden, zum Beispiel die rund 6000 Schweizer nach der Russischen Revolution.

Seit den 1930er Jahren ist die Zahl der Auswanderer und damit auch die der Auslandschweizer stark zurückgegangen. Deren Zahl betrug 1928 noch 350'000 und sank bis Anfang der 1980er Jahre auf rund 150'000. Dagegen ist die Zahl der Doppelbürger gestiegen (1966 ca. 130'000, 2000 406'000). Im 20. Jahrhundert ist die Schweiz zum Einwanderungsland geworden, das seiner Bevölkerung genügend Beschäftigung und Nahrung bietet, was jedoch nicht ausschliesst, dass sich die Lage eines Tages wieder ins Gegenteil wendet.

Quellen und Literatur

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Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Lise Head-König: "Auswanderung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 15.10.2007, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007988/2007-10-15/, konsultiert am 19.03.2024.