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Einwanderung

Immigration

Der Begriff Einwanderung ist – bei einer engen Auslegung – mit dem Konzept des nach aussen abgegrenzten, einheitlichen Nationalstaats verknüpft. In diesem Sinn kann erst seit 1848 von Immigration gesprochen werden (Binnenwanderung). Wird der Begriff Einwanderung jedoch erweitert, umfasst er auch Wanderungsbewegungen in ein Gebiet mit festen Aussengrenzen, wie sie die Schweiz schon in der frühen Neuzeit aufwies.

Gemäss der zweiten Umschreibung erfolgte die erste grosse Einwanderungswelle nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1686, als einige zehntausend protestantische Glaubensflüchtlinge immigrierten, jedoch nur zu einem kleinen Teil auch hier blieben. Nach der Französischen Revolution ersuchte eine unbestimmte Zahl von Emigrés um Asyl in der Schweiz. Für die Bevölkerungsentwicklung der modernen Schweiz spielte die Einwanderung im Gegensatz zur Auswanderung jedoch erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle. Die Wanderungsbilanz der Schweiz war – mit Ausnahme der 1860er und 1870er Jahre – bis ca. 1890 negativ (Bevölkerung). Hätte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs keine Einwanderung stattgefunden, läge die Einwohnerzahl heute rund 25% tiefer. Wesentliche Einflüsse auf Anzahl und Herkunft der Einwanderer gingen von der wirtschaftlichen Entwicklung und den jeweiligen Zielen der schweizerischen Ausländerpolitik (Bevölkerungspolitik) aus. Die Einwanderer ihrerseits gaben dem wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Leben der Schweiz wichtige Impulse.

Einwanderungswellen im 19. und 20. Jahrhundert

Die Zahl der im Gebiet der Schweiz lebenden Ausländer war im Ancien Régime gering. Noch im Jahr 1836/1837 machten sie nur ca. 2,5% der Gesamtbevölkerung aus. Als Folge der gescheiterten bürgerlichen Revolutionen im Ausland wanderten im 19. Jahrhundert tausende von politischen Flüchtlingen ein. Zwischen 1850 und 1880 kamen schätzungsweise 105'000 Ausländer über die Grenzen.

Eine weitere grosse Einwanderungswelle erfolgte im Zusammenhang mit der sogenannten zweiten industriellen Revolution sowie dem Ausbau und der Verdichtung des Eisenbahnnetzes zwischen 1888 und dem Ersten Weltkrieg. Die Einwanderer ersetzten als Arbeitskräfte die rund 12% der schweizerischen Bevölkerung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Land verlassen hatten. Sie konnten sich frei in der Schweiz niederlassen (Niederlassungsfreiheit) und verfügten über die volle berufliche Mobilität. Zwischen 1888 und 1910 immigrierten rund 260'000 Ausländer. Der überwiegende Teil von ihnen stammte aus den Nachbarländern, wobei der relative Anteil der deutschen und französischen Staatsangehörigen abnahm, während derjenige der italienischen Arbeiter stetig anstieg. Die Einwanderung konzentrierte sich auf die grösseren Städte.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden Einreise und Aufenthalt strenger kontrolliert und eingeschränkt. Während des Ersten und Zweiten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre versiegte die Einwanderung praktisch vollständig. Bei den meisten Immigranten handelte es sich um schweizerische Heimkehrer oder um Internierte, Deserteure und Flüchtlinge. Die Wanderungsbilanz der Ausländer war zwischen 1910 und 1920 (-110'000) und zwischen 1930 und 1941 (-56'000) jeweils stark negativ.

Infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg stieg der Bedarf an Arbeitskräften sprunghaft an. Die bereits 1947 einsetzende Rekrutierung von Gastarbeitern war ursprünglich nur als temporäre Massnahme gedacht und erfolgte nach dem Rotationsprinzip: Die Aufenthaltsbewilligungen wurden nur befristet erteilt; nach kurzem Arbeitseinsatz sollten die Saisonniers in ihr Heimatland zurückkehren. Die bis heute grösste Migrationswelle erlebte die Schweiz zwischen 1951 und 1970 (mit Höhepunkt 1961-1962), als insgesamt 2,68 Mio. Ausländer als Jahresaufenthalter oder Niedergelassene einreisten. Im gleichen Zeitraum wurden zudem 3 Mio. Saisonnierbewilligungen ausgestellt. Da viele ausländische Erwerbstätige dauerhaft oder längerfristig in der Schweiz leben wollten, schränkte die Schweiz ab 1963 die Zuwanderung ein. Der sogenannten Überfremdungsbewegung gelang es in den 1960er Jahren zunehmend, Einfluss auf die schweizerische Migrationspolitik auszuüben (Fremdenfeindlichkeit).

Bis 1971 wurde die Einwanderung sukzessive um nahezu 60% reduziert. In den Rezessionsjahren 1974-1976 endete die lange Nachkriegsphase der Einwanderung von Arbeitskräften. Über 300'000 Ausländer mussten in ihre Heimatstaaten zurückkehren, was der Schweiz den Vorwurf eintrug, die Ausländer als Konjunkturpuffer einzusetzen. Dennoch kam die Einwanderung mit 179'000 neuen Immigranten auch in jenen Jahren nie ganz zum Stillstand. Nach einem weiteren leichten Einbruch 1983-1984 setzte die Einwanderung ab 1986 in der Hochkonjunktur wieder verstärkt ein. Jetzt wurde sie erstmals zur dominierenden Komponente des gesamtschweizerischen Bevölkerungswachstums: Zwei Drittel des Wachstums der Jahre 1986-1994 waren auf den positiven Wanderungssaldo zurückzuführen. Die ungünstige konjunkturelle Entwicklung brachte eine weitere Trendwende und ein starkes Abflachen der Einwanderung ab 1994. Nach 1998 war wieder ein leichter, kontinuierlicher Anstieg festzustellen. Für Angehörige von EU- und EFTA-Staaten wurde ab 1. Juni 2002 der freie Personenverkehr schrittweise durch einen Abbau der entsprechenden Beschränkungen eingeführt; er soll zukünftig auch auf die 2004 neu der EU beigetretenen Staaten ausgedehnt werden. Aus den übrigen Staaten soll dagegen nur mehr die Einwanderung von hoch qualifizierten Spezialisten zugelassen werden, die nicht in EU- und EFTA-Staaten rekrutiert werden können.

Sozialstruktur der Einwanderer

Bauarbeiter in Genf. Fotografie, 2001 (Interfoto, Genf).
Bauarbeiter in Genf. Fotografie, 2001 (Interfoto, Genf).

Die Saisonniers waren mehrheitlich im Bau- und Gastgewerbe sowie in der Landwirtschaft tätig. Bezüglich der längerfristigen Einwanderung sind die Verhältnisse komplexer: Einige Branchen wie die Haus- und Landwirtschaft, die Textil-, Metall- und Maschinenindustrie verloren als Arbeitgeber für Immigranten kontinuierlich an Bedeutung. In anderen Branchen wie dem Bau- und dem Gastgewerbe sowie dem Gesundheitswesen bestand während der ganzen Nachkriegsperiode eine stabile Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften. Zwar wanderten in jüngster Zeit vermehrt auch Vertreter technischer und wissenschaftlicher Berufe in die Schweiz ein, doch verbesserte sich das Ausbildungsniveau der Immigranten im Lauf der Zeit gesamthaft betrachtet kaum: Vorherrschend waren immer unqualifizierte Arbeiter, die in strukturschwachen Branchen mit tiefen Lohnniveaus eine Beschäftigung fanden.

Bis in die 1960er Jahre wanderten vor allem erwachsene Arbeiter in die Schweiz ein; erst mit der 1970 eingeführten Kontingentierung verlor die Immigration von Arbeitskräften an Bedeutung. Zugleich kamen andere Formen der Einwanderung auf, allen voran der Nachzug der Ehepartner und der minderjährigen Kinder der Gastarbeiter. Seit 1964 macht der Familiennachzug rund die Hälfte der Einwanderung aus. Stellten die nicht erwerbstätigen Personen bis 1960 nur ca. 16% der gesamten Einwanderer, so überstieg ihr Anteil 1975 erstmals jenen der Erwerbstätigen und erreichte Ende der 1990er Jahre einen Wert von über 60%. Die Immigranten sind in der Regel jung (20- bis 30-jährig). Dominierten in den 1950er Jahren noch kurzzeitig die Frauen, so überwogen in der Folge die Männer; 1961 kamen zum Beispiel auf 100 Männer 70 Frauen. Infolge des verstärkten Familiennachzugs glich sich das Geschlechterverhältnis allmählich aus. Um 2000 waren beide Geschlechter etwa im gleichen Mass an der Einwanderung beteiligt.

Herkunftsländer

Einwanderung in den Kantonen nach Staatsangehörigkeit 1981-2001 (kumuliert)
Einwanderung in den Kantonen nach Staatsangehörigkeit 1981-2001 (kumuliert) […]

Der 1948 geschlossene Staatsvertrag mit Italien führte dazu, dass 1949-1974 vorwiegend – wenn auch seit 1968 mit abnehmender Tendenz – italienische Staatsangehörige in die Schweiz einwanderten. Ab ca. 1962 reisten vermehrt spanische Staatsbürger ein. Aufgrund des steigenden Wohlstands in den Herkunftsländern und der Verwirklichung des EU-Binnenmarktes Ende 1992 verloren die klassischen Rekrutierungsländer an Bedeutung. Arbeitskräfte wurden nun vermehrt in Jugoslawien, Portugal und der Türkei rekrutiert; ab ca. 1980 wurden vermehrt Saisonniers aus diesen Ländern verpflichtet. Gut die Hälfte der gesamten Einwanderung aus Portugal und Ex-Jugoslawien erfolgte 1989-1994. Die klassischen Rekrutierungsländer verloren dagegen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts an Bedeutung: Die Wanderungsbilanz der Italiener ist schon seit 1974, diejenige der Spanier seit 1991 und diejenige der Portugiesen seit 1996 negativ.

Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden wiederholt Flüchtlinge Aufnahme, unter anderem aus Tibet, Ungarn und der Tschechoslowakei. Markant stieg die Zahl der Asylgesuche ab Mitte der 1980er Jahre; ihren Höhepunkt erreichte sie mit den Konflikten in Bosnien-Herzegowina 1991 bzw. im Kosovo 1999. 1985-2002 wurden insgesamt 417'000 Asylgesuche gestellt. Die Zahl der Einwanderer aus dem aussereuropäischen Raum stieg von 20% 1981 auf 32% 2002 an. Mangels legaler Immigrationsmöglichkeiten versuchen viele wirtschaftlich motivierte Migranten als politische Flüchtlinge in die Schweiz zu gelangen. Der Aufenthalt in der Schweiz ist häufig auch zeitlich begrenzt und Ausdruck einer erhöhten internationalen Mobilität in bestimmten Lebensabschnitten.

Quellen und Literatur

  • F. Höpflinger, Bevölkerungswandel in der Schweiz, 1986, 97-111
  • M. Vuilleumier, Flüchtlinge und Immigranten in der Schweiz, 1989 (franz. 1987)
  • W. Haug, Vom Einwanderungsland zur multikulturellen Gesellschaft, 1995
  • W. Wottreng, Ein einzig Volk von Immigranten, 2000
  • E. Piguet, L'immigration en Suisse, 2004
  • Histoire de la politique de migration, d'asile et d'intégration en Suisse depuis 1948, hg. von H. Mahnig, 2005 (mit Bibl.)
Weblinks

Zitiervorschlag

Marcel Heiniger: "Einwanderung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 07.12.2006. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007991/2006-12-07/, konsultiert am 19.03.2024.