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Engadin

Hochtal und Region im Kanton Graubünden zwischen der Talwasserscheide bei Maloja (1815 m) und der österreichischen Grenze (ca. 1000 m). 930 Eniatina, 1239 Engedina, romanisch Engiadina. 1850 9375 Einwohner; 1900 11'712; 1910 16'301; 1950 14'673; 1990 21'748; 2000 24'593. Die Enge oder Clus bei Brail markiert die Grenze zwischen dem Ober-Engadin (romanisch Engiadin'ota) und dem Unter-Engadin (romanisch Engiadina bassa). Die Dörfer liegen vornehmlich an der sonnigen Nordseite. Das Tal wird vom Inn entwässert, der bei Passau (Bayern) als einziger Schweizer Fluss in die Donau mündet. Die Pässe Julier, Albula und Flüela sowie der Vereinatunnel verbinden das Engadin mit dem Norden, der Bernina- und Malojapass mit Oberitalien und der Ofenpass mit dem Vinschgau. Das unterste nördliche Seitental Samnaun erhielt erst 1912 eine Verbindungsstrasse zum Engadin.

Das Engadin von der Jungsteinzeit bis ins Frühmittelalter

Aus der Jungsteinzeit liegen nur vereinzelt Funde vor. Ab dem 2. Jahrtausend v.Chr. bewohnten sesshafte Bauern vor allem markante Hügelkuppen und Hangterrassen, wie zum Beispiel Ramosch-Mottata. Aus der mittleren Bronzezeit datiert auch die Quellfassung von St. Moritz. Für eine intensivere Besiedlung in der späten Bronzezeit (1200-800 v.Chr.) sprechen die Funde in Ardez-Suotchastè und Scuol-Munt Baselgia. Die Laugen-Melaun-Kultur wurde ab dem 6. Jahrhundert v.Chr. von der Fritzens-Sanzeno-Kultur abgelöst. Für die Region Zernez-St. Moritz ist eine sogenannte Breno-Kultur belegt. 15 v.Chr. wurde das Engadin als Teil der Provinz Rätien ins Römische Reich eingegliedert. Rom brauchte die Pässe nach Germanien; Fundgut entlang der Römerstrassen bezeugt deren Bedeutung. Vom römischen Ausbau der Transversalen profitierte Rätien bis weit ins Frühmittelalter. Nach dem Ende des Römischen Reichs wurde das Engadin mit der Raetia prima Teil des Ostgotenreichs und fiel 536 an die Franken. Die weltliche und geistliche Herrschaft lag ab dem 7. Jahrhundert in den Händen der Zacconen (Viktoriden). Nach der Teilung der Provinz in Ober- und Unterrätien 805/806 durch Karl den Grossen wurde das Engadin Teil Oberrätiens. 916 fiel das Ober-Engadin an das Herzogtum Schwaben, das Unter-Engadin an die Grafschaft Vinschgau. Die beiden Talabschnitte gingen von da an bis 1652 politisch und verfassungsgeschichtlich getrennte Wege.

Das Oberengadin vom Hochmittelalter bis ins 17. Jahrhundert

Im Hochmittelalter konnte der Bischof von Chur dank reicher Schenkungen und Privilegien seinen Einfluss im Ober-Engadin stark ausbauen. 1137 und 1139 kaufte er die Güter der Grafen von Gamertingen zwischen Punt Ota und St. Moritz und wurde dadurch mächtigster Herrscher der Region. 1367 trat das Ober-Engadin dem Gotteshausbund bei. Das eigene Siegel belegt bereits eine gewisse Selbstverwaltung. Nutzniesser dieser Entwicklung waren vor allem die bischöflichen Ministerialen aus dem Hause Planta, deren politischer Aufstieg nach 1250 einsetzte. Neben dieser bis ins 19. Jahrhundert hinein dominanten Familie spielten die mit ihr vielfach verschwägerten Salis-Samedan die bedeutendste Rolle inner- und ausserhalb des Engadins. Im Mittelalter nutzte die Oberengadiner Talgemeinde Ob Pontalt (romanisch Sur Punt Ota) gemeinsam die Weiden, Wälder und Gewässer der Region. Einzelne Siedlungen schlossen sich zu Nachbarschaften zusammen, zum Beispiel die chantuns Sils und Fex 1477. Nach dem Auskauf der bischöflichen Rechte ab 1526 wurde das Gemeineigentum 1538-1543 aufgeteilt. Die nunmehr territorial geschlossenen politischen Gemeinden waren im Hochgericht Ober-Engadin mit Zuoz als Zentrum und von 1438 an in den Gerichten Funtauna Merla zusammengefasst. 1550-1577 nahmen diese das reformierte Bekenntnis an.

Das Unterengadin vom Hochmittelalter bis ins 17. Jahrhundert

1140 kam das Unter-Engadin als Lehen an die Grafen von Tirol. 1160 und 1177 hatten die Edlen von Tarasp ihr Schloss mitsamt den Besitzungen in Guarda, Scuol und Ftan dem Bischof von Chur geschenkt. Durch Zukauf etlicher Burgherrschaften (u.a. Ardez-Steinberg) erwarb dieser eine überragende Machtstellung in der Region. Der Erwerb der Landeshoheit scheiterte indes an den Habsburgern, ab 1363 Grafen von Tirol. 1367 trat das Unter-Engadin dem Gotteshausbund bei. 1464 kauften die Habsburger die Herrschaft Tarasp (ehemals Matsch) und 1475 lösten ihre feudalen Ansprüche den sogenannten Hennenkrieg aus. Der Versuch, das Unter-Engadin und das benachbarte Münstertal in die Gerichtsvogtei Nauders zu integrieren, löste 1499 den Schwabenkrieg aus. Alle Dörfer wurden von kaiserlichen Landsknechten geplündert und verwüstet. Der Bündner Sieg an der Calven 1499 setzte der habsburgisch-tirolischen Expansion im Engadin ein Ende. Die Erbeinigung von 1500 fixierte den Status quo: Das Unter-Engadin blieb der habsburgischen Landeshoheit unterworfen, war aber gleichzeitig Mitglied des Gotteshausbundes. Im 16. Jahrhundert erlebte das Unter-Engadin als Glied der Drei Bünde eine friedliche Zeit, abgesehen vom Strafgericht von 1565, dem sogenannten Speckkrieg gegen die Pensionäre Frankreichs. 1529-1553 trat es mit Ausnahme des österreichischen Tarasp zum neuen Glauben über. Die gerichtlichen Strukturen und Kompetenzen innerhalb der zwei Hochgerichte Unter-Engadin und Ramosch-Stalla-Avers entwickelten sich, historisch und räumlich bedingt, äusserst kompliziert. Im Kampf um das Veltlin und die Bündner Pässe, in dem die österreichischen und spanischen Habsburger eine Verbindung zwischen ihren Territorien anstrebten, versuchten erstere, auch im Unter-Engadin und im Prättigau ihren Einfluss zu steigern. Dies gipfelte 1621 im Überfall des Alois Baldiron und der anschliessenden Besetzung bis 1629. Der Rekatholisierungsversuch durch Kapuziner scheiterte, da die Gemeinden sogleich wieder zum reformierten Bekenntnis zurückkehrten – mit Ausnahme von Samnaun, das ab dem 19. Jahrhundert als deutschsprachige Talgemeinde auch sprachlich einen eigenen Weg ging. 1652 wurden alle österreichischen Rechte ausgekauft.

Gemeinsame Geschichte ab dem 17. Jahrhundert

Die politischen Strukturen änderten sich erst wieder mit der Helvetik. 1798-1800 war das Engadin Schauplatz der Kämpfe zwischen Franzosen und Österreichern. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wurde die bisher österreichische Herrschaft Tarasp Teil des Engadins und damit des Kantons Graubünden. Seit 1851 gliedert sich das Engadin in die Bezirke Inn und Maloja mit den Kreisen Ober-Engadin, Ob- und Untertasna sowie Ramosch.

Wirtschaftlich war das bäuerliche Engadin seit jeher nach Oberitalien und Tirol ausgerichtet. Der Export von Gross- und Kleinvieh sowie von landwirtschaftlichen Produkten, Holz und Erz finanzierte die Importe, zum Beispiel Getreide (v.a. für das Ober-Engadin), Wein und Salz. Die Salinen von Hall und die Erzwerke in S-charl verschlangen ganze Wälder des Unter-Engadins. Einen wesentlichen Anteil am ab dem 16. Jahrhundert wachsenden Wohlstand hatten die temporären Auswanderer, die Randulins, die 1603-1766 als Zuckerbäcker einträgliche Privilegien in Venedig genossen. Nach der Kündigung des Vertrags durch Venedig emigrierten viele in italienische Städte sowie in nord- und osteuropäische Metropolen.

Zwölfte Tafel aus dem visionären Band Alpine Architektur des Berliner Architekten Bruno Taut, 1919 (ETH-Bibliothek Zürich, Alte und Seltene Drucke).
Zwölfte Tafel aus dem visionären Band Alpine Architektur des Berliner Architekten Bruno Taut, 1919 (ETH-Bibliothek Zürich, Alte und Seltene Drucke). […]

Bis zur Erneuerung des Strassennetzes im 19. Jahrhundert (1820-1840 die Obere Strasse über Julier- und Malojapass, 1845-1872 die Tal- und 1907-1912 die Saumnauner Strasse) waren nur wenige Strecken mit Wagen befahrbar. Als Folge der Eröffnung des Gotthardtunnels 1882 brach der Transit über die Bündner Pässe ein; der wichtige Nebenverdienst aus Säumerei und Postkutschenbetrieb versiegte. Diese Lücke vermochte der nach 1850 aufkommende Trink-, Badekuren- und Alpintourismus allmählich zu kompensieren, der nach dem Ausbau der Bahnverbindungen 1903-1913 zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor für das Ober-Engadin wurde. Der Erste Weltkrieg beendete die goldene Zeit der Grandhotels, die Wirtschaftskrise vernichtete nach 1929 einen grossen Teil der touristischen Arbeitsplätze. Ab 1925 wurde das Strassennetz für das Automobil ausgebaut, 1938 der Flugplatz Samedan vorerst als Militärflugplatz errichtet. 1914 erfolgte die Gründung des Schweizerischen Nationalparks im Gebiet Unterengadin-Münstertal. Die Erschliessung des Engadins mit Bahnen und Skiliften liess den Wintertourismus ab 1945 stark ansteigen, die Olympischen Winterspiele in St. Moritz (1928 und 1948) sorgten für Publizität. Die erste Ausbauphase der Wasserkraft war 1932 beendet. Anschliessend widerstanden die Engadiner allen Versuchen, ihre Seen ausbeuten zu lassen. Ab 1954 wurden Projekte der Engadiner Kraftwerke realisiert, darunter die Staumauern Punt dal Gall und Livigno als grösste Bauwerke. Zwischen der Tourismusregion Ober-Engadin und dem landwirtschaftlich dominierten Unter-Engadin besteht ein merkliches Wohlstandsgefälle. Vom 1999 eröffneten Vereinatunnel versprechen sich die einen insbesondere für das Unter-Engadin einen grossen Entwicklungsschub, andere befürchten eine massentouristische Überflutung mit unabsehbaren Folgen.

Werbeplakat für Wintersport in Pontresina, gestaltet 1930 von Alex Walter Diggelmann (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Werbeplakat für Wintersport in Pontresina, gestaltet 1930 von Alex Walter Diggelmann (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).

Das Engadin kennt zwei rätoromanische Idiome, Puter (Ober-Engadin) und Vallader (Unter-Engadin). 1552 bzw. 1562 schufen die beiden Reformatoren Jachiam Bifrun und Ulrich Campell die rätoromanische Schriftsprache; verschiedene Druckereien (Saluz, Dorta, Gadina, Janett) sorgten für ein lebhaftes Geistesleben. Erste rätoromanische geistliche Schauspiele fanden Mitte des 16. Jahrhunderts durch Johann Travers in Zuoz statt. Anfang des 21. Jahrhunderts ist das Puter im Ober-Engadin stark gefährdet (2000 bezeichneten 13% der Bevölkerung das Rätoromanische als ihre Hauptsprache, 30% als ihre Alltagssprache). Das Vallader verfügt dagegen im Unter-Engadin noch über ein geschlosseneres Territorium (2000 63% Hauptsprache, 79% Alltagssprache).

Quellen und Literatur

  • H. von Waldkirch, Schr. zur urgesch. und röm. Besiedlung des Engadins, 1981
  • H. Hofmann, Unterengadin, 1982
  • H. Hofmann, Oberengadin, 1983
  • J. Mathieu, Bauern und Bären, 1987
  • S. Margadant, «Ober- und Unter-Engadin», in hotel journal, Sommer 1993, 34-36
  • Rätien im MA, hg. von U. Brunold, L. Deplazes, 1994
  • D. Kessler, Hotels und Dörfer, 1998
Weblinks
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Zitiervorschlag

Ottavio Clavuot: "Engadin", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.09.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008067/2014-09-04/, konsultiert am 23.01.2025.