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Oberhalbstein

Talschaft und bis 1990 Kreis des Kantons Graubünden, Bezirk Albula, die das 1000-3400 m hoch gelegene Einzugsgebiet der Julia oberhalb des Conterser Steins (romanisch Crap Ses) umfasst. In der unteren Talstufe, Sotgôt (unterhalb des Waldes), liegen Cunter, Savognin und Tinizong östlich der Julia im Talgrund an der Durchgangsstrasse sowie Salouf und Riom-Parsonz am westlichen Talhang. In der Talstufe oberhalb des Tinzener Waldes, Surgôt, befinden sich die Strassendörfer Rona, Mulegns und Bivio; Sur ist ein Haufendorf am östlichen Talhang, Marmorera eine neue Siedlung oberhalb des gleichnamigen Stausees. 1258 Suprasaxo, 1359 Oberhalb dem Stain, romanisch Surses (seit 1990 auch Name des Kreises). 1643 2001 Einwohner; 1850 2675; 1900 2321; 1950 2787; 2000 2360.

Ansicht der Landschaft Sotgôt (untere Talstufe, unterhalb des Waldes) des St. Galler Malers Ivan Edwin Hugentobler. Öl auf Leinwand, um 1917 (Fundaziun Capauliana, Chur).
Ansicht der Landschaft Sotgôt (untere Talstufe, unterhalb des Waldes) des St. Galler Malers Ivan Edwin Hugentobler. Öl auf Leinwand, um 1917 (Fundaziun Capauliana, Chur). […]

Im Oberhalbstein sind für die Bronzezeit vier Siedlungsplätze ebenso nachgewiesen wie die Gewinnung und Verhüttung von Kupfer. Das «Itinerarium Antonini» zeigt die römische Strasse durchs Oberhalbstein mit der Station Tinnetione (Tinizong). Der Zugang von Norden her erfolgte auf der linken Talseite, vorbei an der mutatio (Herberge mit Stallungen) von Riom. Der Julierpass wurde mit zweirädrigen Karren befahren; auf der Passhöhe stand ein römisches Heiligtum. Frührömische Siedlungsspuren auf der Passhöhe belegen, dass auch der Septimerpass begangen wurde. Das Churrätische Reichsgutsurbar (um 840) nennt eine taberna in Marmorera, ein stabulum in Bivio, Kirche und Dorf Riom sowie Tinizong. Riom mit seiner Burg (Mitte 13. Jh.) war Zentrum der Königsgüter, die über die Herren von Wangen-Burgeis 1258 an den Churer Bischof kamen. Bis ins 14. Jahrhundert hatte der Bischof die Territorialhoheit im ganzen Oberhalbstein erlangt; er ernannte Vögte und Ammänner für das hohe und das niedere Gericht. Wichtigste einheimische Ministerialen waren die Herren von Marmels mit der gleichnamigen Burg bei Marmorera. Die im 13. und 14. Jahrhundert vom Churer Kloster St. Luzi und bischöflichen Lehensherren vor allem in Höhenlagen angesiedelten Walser gingen in der romanischen Bevölkerung auf. Die vier alten Pfarrkirchen standen in Salouf, Riom, Tinizong und Bivio. Die Reformation erfasste nur Teile von Bivio, das rege Kontakte zum Bergell, zu Avers und zum Engadin pflegte. Das restliche Oberhalbstein wurde von der Gegenreformation an von Kapuzinern pastoriert, die den Bau einer ganzen Reihe von Barockkirchen vorantrieben. 1367 schlossen sich die Talleute dem Gotteshausbund an. Bivio und Marmorera besassen ab Ende des 15. Jahrhunderts ein eigenes niederes Gericht und waren nur in Kriminalsachen dem Landvogt in Riom verpflichtet. Mit Avers bildeten sie die Gerichtsgemeinde Stalla-Avers, gehörten also nicht zur Gerichtsgemeinde Oberhalbstein, das mit Tiefencastel zu einem Hochgericht zusammengeschlossen war. 1552 kaufte das Tal die bischöflichen Hoheitsrechte aus.

Haupterwerbsquelle war die Viehzucht, im unteren Oberhalbstein ergänzt durch Getreidebau zur Selbstversorgung. Die Streitigkeiten um Nutzungs- und Hoheitsrechte im Seitental Val Nandro zogen sich bis ins 20. Jahrhundert hin. Der Neubau des Hospizes um ca. 1100 und das im späten 14. Jahrhundert erstellte, einige Jahrzehnte bestehende Fahrsträsschen förderten den Transitverkehr über den Septimer, den die Porten (Transportgenossenschaften) Tinizong (ab 1706 Oberhalbstein) und Bivio kontrollierten. Die Obere Strasse verlor nach 1473 an Bedeutung wegen des Ausbaus der Strasse durch die Viamala Richtung Splügen und San Bernardino. Bis ins 19. Jahrhundert wurde im Oberhalbstein etwas Bergbau betrieben (v.a. Eisen). Die Fahrstrasse über den Julier wurde 1820-1826 angelegt, das nördlich anschliessende Stück durch das Oberhalbstein 1834-1840. Die beiden Gerichtsgemeinden Oberhalbstein und Stalla wurden 1851 zum Kreis Oberhalbstein vereinigt, womit sich politische und geografische Grenzen deckten. Die Albulabahn brachte 1903 einen Rückgang des Transitverkehrs, den das Aufkommen der Autos und der Ausbau der Julierstrasse in den 1930er Jahren wieder wettmachten. Die Anlage der Julia-Kraftwerke mit dem Stausee Marmorera wurde 1945 in Angriff genommen. Um 1960 setzte der Aufschwung des Wintertourismus in Bivio und Savognin, dem heutigen Zentrum des Tales, ein. 2000 waren ca. 55% der Bevökerung des Oberhalbsteins romanisch-, 38% deutsch- und 6% italienischsprachig.

Quellen und Literatur

  • Kdm GR 3, 1940 (19752), 225-314
  • L. Schmid, Graubünden: Gesch. seiner Kreise, 1971, 152 f.
  • A. Planta, Verkehrswege im alten Rätien 2, 1986, 97-153
Weblinks
Weitere Links
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Endonyme/Exonyme
Oberhalbstein (Deutsch)
Surses (Rätoromanisch)

Zitiervorschlag

Jürg Simonett: "Oberhalbstein", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 14.09.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008075/2010-09-14/, konsultiert am 29.03.2024.