
Als wichtiger sozialer Lebens- und Erfahrungsraum war Alltag in der schweizerischen Geschichtsschreibung ausser in kultur- und lokalgeschichtlichen Untersuchungen lange kaum ein Thema bzw. wurde der Volkskunde zugewiesen. Im Zuge der theoretisch-methodischen Ausweitung und konzeptionellen Umorientierung der Sozialgeschichte in den 1970er und 1980er Jahren fanden die materiellen Lebensbedingungen und regelmässig wiederkehrenden Aktivitäten der sogenannt kleinen Leute, ihr Arbeiten und Nicht-Arbeiten, ihr Handeln und Leiden, ihre Freuden und gelegentlichen Verausgabungen jedoch verstärkt Beachtung.

Angeregt durch Ansätze der französischen und angelsächsischen Kultur- oder Sozialanthropologie, der Ethnologie und Soziologie sowie der Mikrohistorie (vom in der italienischen Geschichtswissenschaft geschaffenen Begriff microstoria), wurde auch in der schweizerischen Sozialgeschichte versucht, die Menschen nicht einfach als Unterworfene übergeordneter Strukturen und Entwicklungen, sondern wieder vermehrt als handelnde Subjekte zu sehen. Damit verbunden waren der Anspruch, das Konkrete, das Nahe und Vertraute zu analysieren, und die Idee eines sinnhaften Aufbaus der Lebenswelt und des Alltags, d.h. die Vorstellung, dass Alltagsdenken und -handeln rationalen Regeln folge, ferner das Konzept der intersubjektiven Konstruktion von Wirklichkeit und die Bedeutung der gesellschaftlichen Praxis als Erzeugerin gesellschaftlichen Strukturen. In Erweiterung der historischen Sozialwissenschaften entwickelte die Alltagsgeschichte damit einen subjektzentrierten, auf die Handlungen und Erfahrungen der Menschen Bezug nehmenden, verstehenden Zugang zu kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen. Dieser fand in den 1990er Jahren nicht mehr nur auf die kleinen Leute, sondern vermehrt auf alle sozialen Gruppen und Klassen Anwendung.
