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Chemie

Die Chemie emanzipierte sich im Zeitalter der Aufklärung von der Alchemie und entwickelte sich vor allem in England und Frankreich als eigenständige Wissenschaft. Ab Ende des 18. Jahrhunderts machte sie grosse Fortschritte im quantitativen und standardisierten Erfassen von chemischen Prozessen, in der modernen Definition des Elementbegriffs und in der Schaffung einer ersten rationalen chemischen Nomenklatur, wozu sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ausgefeilte Elementaranalytik und eine einfache umfassende Formelsprache gesellte. In dieser Zeitspanne wurde die Chemie zur Leitnaturwissenschaft, die nahezu alle Wissens- und Lebensbereiche erfasste und auch in populärwissenschaftlichen Werken verbreitet wurde. Mitte des 19. Jahrhunderts konkretisierte sich der Wertigkeits- und Strukturbegriff der Chemie, so dass Isomerie-Erscheinungen und die Bindungsbesonderheiten aromatischer Verbindungen verständlich wurden. Der endgültige Durchbruch zur gegenwärtigen Anschauung gelang durch die Deutung der optischen Isomerie gewisser Verbindungen als Ausdruck der spiegelbildlichen, dreidimensionalen Lagerung der Atome in diesen Körpern. Vervollkommnet wurde diese Betrachtungsweise durch die Koordinationslehre Alfred Werners, die das Postulat der räumlichen Anordnung der Valenzen in Verbindungen auf prinzipiell alle Elemente ausdehnte, was durch die Röntgen-Kristallstrukturanalytik später bestätigt wurde.

Die universitäre Forschung

Das wissenschaftliche Leben vollzog sich im 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in Akademien und gelehrten Gesellschaften, wobei sich Letztere nach der Gründung der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft 1815 (Schweizerische Akademie der Naturwissenschaften) häufig ebenfalls in naturforschende Gesellschaften umwandelten. Besonders gefördert wurden die Naturwissenschaften an den Universitäten bzw. Akademien von Basel, Genf und Zürich. In diesen drei Städten waren auch schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die meisten Gelehrten ansässig (von insgesamt 99 allerdings nur fünf mit eindeutig chemischer Ausrichtung). Die chemische Lehre und der praktische Unterricht lag oft noch in den Händen von Professoren für Medizin oder Pharmazie. Die Etablierung einer wissenschaftlich-chemischen Ausbildung war um die Mitte des 19. Jahrhunderts das wichtigste Anliegen, wobei es häufig an einfachsten Utensilien wie zum Beispiel Feinstwaagen mangelte.

Christian Friedrich Schönbein im Jahr 1857. Fotografie des Ateliers Hanfstängel in München (Universitätsbibliothek Basel, Portr BS Schoenbein CF 1799, 1).
Christian Friedrich Schönbein im Jahr 1857. Fotografie des Ateliers Hanfstängel in München (Universitätsbibliothek Basel, Portr BS Schoenbein CF 1799, 1).

Der führende Chemiker um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Schweiz war Christian Friedrich Schönbein an der Universität Basel. Die Entdeckung des Ozons, die Erfindung der Schiessbaumwolle und des Kollodiums sowie die späteren Untersuchungen biologischer Oxidationen machten ihn weltberühmt. Der Basler Friedrich Miescher entdeckte 1871 in Zellkernen die Nukleinsäuren, deren grundlegende Bedeutung erst im 20. Jahrhundert wahrgenommen wurde. Nach der Gründung des Eidgenössischen Polytechnikums mit einer chemischen Abteilung (Eidgenössische Technische Hochschulen) 1855 verschob sich das Schwergewicht der chemischen Forschung nach Zürich, wo auch an der Universität eine starke chemische Schule entstanden war. Am Polytechnikum wurden Lehrstühle für technische Chemie und für Farbenchemie eingerichtet. Alfred Werner entwickelte an der Universität Zürich die Koordinationslehre der Komplexverbindungen, wofür ihm 1913 als erstem Schweizer der Nobelpreis für Chemie verliehen wurde. Sein Schüler und Nachfolger Paul Karrer erhielt 1937 den Nobelpreis für seine Arbeiten über Vitamine und Carotinoide (Biochemie), welche die Grundlage des späteren wirtschaftlichen Erfolges des Unternehmens Hoffmann-La Roche (Roche) auf diesem Gebiet darstellten. Leopold Ruzicka von der ETH Zürich wurde 1939 mit dem Nobelpreis für seine fundamentalen Arbeiten über mittlere und grosse Ringsysteme ausgezeichnet, auf denen die herausragende Stellung der schweizerischen Riechstoff-Industrie im Weltmarkt teilweise basiert. Auch sein Nachfolger Vladimir Prelog wurde 1975 mit dem Nobelpreis für seinen Beitrag zur Entwicklung der Stereochemie geehrt. Der Basler Ordinarius Tadeusz Reichstein, der Entdecker der heute noch genutzten Synthese von Vitamin C (Ascorbinsäure), erhielt 1950 den Nobelpreis für Medizin für seine Forschungen auf dem Gebiet der Nebennierenhormone. Carl Graebe begründete nach seiner Berufung 1878 die bedeutende chemisch-synthetische Schule von Genf, die von seinem Schüler Amé Jules Pictet weitergeführt wurde. Eine bedeutende Schule anorganischer und physikalischer Ausrichtung entwickelte sich unter Volkmar Kohlschütter in Bern. An der Universität Freiburg entdeckte 1927 Henri de Diesbach die Phthalocyanine als eine neuartige, Metallionen bindende Farbstoffklasse, die als Pigmentfarbstoffe grosse technische Bedeutung gewannen. Neben den Universitäten betrieben immer auch die Unternehmen der chemischen Industrie erfolgreich eigene Forschung. Seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts finanzieren Chemiekonzerne auch einzelne Stellen oder Forschungsprogramme an den Hochschulen.

Vorlesung von Professor Baumberger im Chemiehörsaal des Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich, Juni 1896 (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv).
Vorlesung von Professor Baumberger im Chemiehörsaal des Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich, Juni 1896 (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv).

Die gelehrten Gesellschaften

Auf der Jahrestagung 1901 der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft in Zofingen wurde die Schweizerische Chemische Gesellschaft (SCG) mit Alfred Werner als Präsidenten gegründet. Vor dem Ersten Weltkrieg publizierten die in der Schweiz lehrenden Chemiker der Schweiz ihre Forschungen traditionsgemäss in französischen und deutschen Fachjournalen, da ein eigenes Publikationsorgan fehlte; erst von 1917 an erschien mit der "Helvetica Chimica Acta" eine schweizerische Fachzeitschrift. Eine zweite, mehr auf die Wahrung der Standesinteressen ausgerichtete Vereinigung entstand 1920 in Bern mit dem Schweizerischen Chemiker-Verband (SChV). Sein Publikationsorgan "Chimia" wurde 1947 in Nachfolge der "Schweizer Chemiker-Zeitung & Technik-Industrie" ins Leben gerufen. SCG und SChV vereinigten sich 1992 in Bern zur Neuen Schweizerischen Chemischen Gesellschaft (NSCG). Der Verlag der Gesellschaft und die Rechte an Helvetica Chimica Acta wurden 1998 aus finanziellen Gründen an den renommierten New Yorker Verlag John Wiley & Sons veräussert.

Quellen und Literatur

  • E.J. Walter, Soziale Grundlagen der Entwicklung der Naturwiss. in der alten Schweiz, 1958
  • Highlights of Chemistry as mirrored in Helvetica Chimica Acta, hg. von M.V. Kisakürek, E. Heilbronner, 1993
  • H.-J. Hansen, «Am Vorabend des 50. Jahrganges von Chimia», in Chimia 49, 1995, 475-477
  • Chemie in der Schweiz, hg. von T. Busset et al., 1997
  • B. Strahlmann, Analyt. Chemie in der Schweiz vom 16. bis zum Beginn des 20. Jh., 1999
Weblinks

Zitiervorschlag

Hans-Jürgen Hansen: "Chemie", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 09.10.2006. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008259/2006-10-09/, konsultiert am 17.04.2024.