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Wirtschaftswissenschaften

Der Sammelbegriff Wirtschaftswissenschaften (französisch Sciences économiques, italienisch Scienze economiche) bezeichnet humanwissenschaftliche Fächer, die sich mit der Erzeugung, der Verteilung und dem Konsum wirtschaftlicher Güter befassen. Die Mutterdisziplin der modernen Wirtschaftswissenschaften war die Volkswirtschaftslehre, die seit dem 18. und 19. Jahrhundert zur Unterscheidung von der Ökonomie im alteuropäischen Sinn auch Politische Ökonomie oder Nationalökonomie genannt wird; sie erforscht generelle Ursachen und Folgen wirtschaftlich nutzenorientierten Handelns einzelner Menschen oder Kollektive. Die als Universitätsfach erst später etablierte Betriebswirtschaftslehre untersucht dagegen, wie Unternehmungen oder unternehmungsähnliche Organisationen möglichst effizient Produkte entwickeln, produzieren und absetzen.

Bereits an den Universitäten des Mittelalters und der frühen Neuzeit wurde Ökonomie (von griechisch oikonomia, Hauswirtschaftslehre) als Wissenschaft oder Kunstlehre unterrichtet. Neben der Ethik und Politik bildete sie einen der drei Teile der praktischen Philosophie des Aristoteles und thematisierte Fragen einer haushälterisch und ethisch gerechtfertigten Führung produktiv wirtschaftender Hausgemeinschaften, die überwiegend landwirtschaftlich orientiert waren. Mit diesen Inhalten befasste sich auch die frühneuzeitliche Hausväterliteratur. Die Ökonomie in diesem alteuropäischen Sinn unterscheidet sich erheblich von den modernen Wirtschaftswissenschaften des 20. Jahrhunderts, die den Begriff des Ökonomischen viel enger auslegen. Der moderne Ökonomiebegriff fand seine systematische Begründung in den Gedankengebäuden, welche die Marktfreiheits-, Arbeitswert- und Grenznutzentheoretiker Adam Smith, David Ricardo, William Stanley Jevons und Carl Menger im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert errichteten.

Die ökonomischen Patrioten des 18. Jahrhunderts

Vor dem 18. Jahrhundert pflegten viele europäische Universitäten die Ökonomie weniger als deren Nachbardisziplinen Ethik und Politik. Im 18. Jahrhundert gründeten Monarchen, die ihre Territorialstaaten effektiver regiert sehen wollten, höhere Ausbildungsstätten für Verwaltungsbeamte. In Deutschland und Österreich wurden an diesen neuen Schulen sowie zunehmend auch an den Universitäten die sogenannten Kameralwissenschaften gelehrt, welche die nun als Stadt- und Landwirtschaftslehre verstandene Ökonomie, die Polizeiwissenschaft und die Kameralistik im eigentlichen Sinn, die fürstliche Finanzwissenschaft, umfassten (Merkantilismus). 1798 gab es an den 36 deutschen Hochschulen immerhin 32 Professoren, die kameralistische Ökonomie lehrten. Die Schweiz blieb von diesen Entwicklungen weitgehend unberührt; unter den grösseren Kantonen verfügte einzig Basel über eine Universität, die Kantone Zürich, Bern und Genf unterhielten nur Akademien, deren Hauptzweck die orthodoxe Ausbildung reformierter Theologen war. Trotzdem partizipierte auch die Schweiz an der allmählichen Modernisierung des ökonomischen Diskurses. In den Ökonomischen Gesellschaften wurde merkantilistisches sowie physiokratisches Gedankengut verbreitet. Die bedeutendste dieser Sozietäten war die Ökonomische Gesellschaft von Bern, die Johann Rudolf Tschiffeli 1759 in Bern mit einem an die «Liebhaber der Verbesserung des Landbaues» gerichteten Appell ins Leben rief. Sie pflegte mit Experten aus ganz Europa einen regen Gedankenaustausch über fortschrittliche Anbaumethoden. Ein besonders bekannter Propagandist physiokratischer Ideen war der Basler Ratsschreiber Isaak Iselin (Physiokratie).

Institutionalisierung der Volkswirtschaftslehre im 19. Jahrhundert

Titelblatt der im Umdruckverfahren publizierten und 1838-1839 gehaltenen Vorlesungen von Antoine-Elisée Cherbuliez (1797-1869) zur Politischen Ökonomie (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Titelblatt der im Umdruckverfahren publizierten und 1838-1839 gehaltenen Vorlesungen von Antoine-Elisée Cherbuliez (1797-1869) zur Politischen Ökonomie (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Die Volkswirtschaftslehre wurde seit der Regeneration zunehmend auch an Akademien und Universitäten gelehrt, so zum Beispiel ab 1835 von Antoine-Elisée Cherbuliez an der Genfer Akademie und von Karl Herzog an der Universität Bern. Die Autoren bedeutender wirtschaftswissenschaftlicher Werke waren im 19. Jahrhundert fast alle Professoren, die mehrheitlich aus dem Ausland stammten. Eine Ausnahme war der Genfer Historiker und Ökonom Jean Charles Léonard Simonde de Sismondi. Dieser wandelte sich im Lauf seiner Publikationstätigkeit, die sich über die ersten vier Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts erstreckte, vom Anhänger zum Gegner der Smith'schen Volkswirtschaftslehre. Er kritisierte die von Ricardo zum Dogma erhobene Nichteinmischung des Staates in wirtschaftliche Belange und entwarf die Unterkonsumptionstheorie in ihren Grundzügen.

Die Bundesstaatsgründung von 1848 verstärkte die Sichtbarkeit und die Relevanz der gesamtschweizerischen Wirtschaftsprobleme. Vordringlich erschienen zunächst wirtschafts- und sozialstatistische Bestandesaufnahmen (Statistik). Bruno Hildebrand, Professor in Zürich (1851-1856) und Bern (1856-1861), leitete das erste Statistische Büro in der Schweiz und begründete 1863 die noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts existierenden «Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik». Die 1864 in Bern gegründete Schweizerische Statistische Gesellschaft (heute Gesellschaft für Volkswirtschaft und Statistik) und ihre Zeitschrift dienten der Koordination solcher Arbeiten.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Universität Lausanne zwischenzeitlich zur bedeutendsten wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsstätte der Schweiz. Léon Walras, der von 1870-1892 dort lehrte, begründete die allgemeine Gleichgewichtstheorie. Sein Nachfolger Vilfredo Pareto, der von 1893-1917 das Ordinariat innehatte, verfeinerte sie weiter (Lausanner Schule). Auf Pareto geht auch die Lehre vom «Kreislauf der Eliten» zurück, welche die Vorstellungen des Faschismus beeinflusste. Er leistete auch als einer ihrer Pioniere bedeutende Beiträge zur Soziologie. Während die Arbeiten Walras' und Paretos von der internationalen Forschung rezipiert wurden, beschränkte sich der Einfluss der meisten anderen schweizerischen Ökonomen um die Jahrhundertwende auf das Inland. Bezeichnend für sie war oft ein gewisser Pragmatismus. Häufig bekleideten sie vor, nach oder während ihrer Lehrtätigkeit wichtige Positionen in der eidgenössischen Verwaltung oder präsidierten eidgenössische Kommissionen. Die Nähe zur wirtschaftlichen und administrativen Praxis ist auch im rund 4000 Seiten umfassenden «Handwörterbuch der Schweizerischen Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung» zu fassen, das der Berner Professor Naum Reichesberg 1903-1911 herausgab.

Die Wirtschaftswissenschaften im 20. Jahrhundert

Ziel der sogenannten Handelshochschulbewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts an Kraft gewann, war die Einrichtung von Institutionen für die Vermittlung von unternehmerischem und kaufmännischem Wissen auf Hochschulniveau. 1898 entstand in St. Gallen eine Handelsakademie, die ab 1911 als Handelshochschule (seit 1995 als Universität) zunächst vor allem betriebswirtschaftliche Studiengänge anbot. Parallel dazu wurden an den Universitäten Abteilungen für Handelswissenschaften gegründet. Zürich richtete 1903 als erste deutschsprachige Universität einen Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre ein; Freiburg folgte 1906, Neuenburg 1910, Lausanne 1911, Bern 1912 und Genf 1915. In einzelnen Kantonen wurde die Bewegung aber auch bekämpft; in Basel brachten die Gegner ein Projekt für eine Handelshochschule 1903 in einer Volksabstimmung zu Fall. Insgesamt gehörte die Schweiz aber mit Deutschland und den USA zu den Ländern, in denen sich die Handelshochschulbewegung durchsetzte. Die von ihren Pionieren betonte Praxisorientierung entsprach der landesüblichen Bildungskultur, und dank namhaften Bundessubventionen gelang es, die von den neuen Bildungsinstituten verursachten Kosten für Kantone und Gemeinden tief zu halten.

Mit dem Schweizerischen Sozialarchiv und dem Schweizerischen Wirtschaftsarchiv, die 1906 in Zürich bzw. 1910 an der Universität Basel gegründet wurden, entstanden weitere wirtschaftswissenschaftliche Dokumentationsstellen. 1988 eröffnete die Universität Basel das Wirtschaftswissenschaftliche Zentrum (WWZ), verfügt aber erst seit 1997 über eine eigene wirtschaftswissenschaftliche Fakultät. Seit der Gründung der Università della Svizzera Italiana 1996 ist auch im Tessin ein Studium der Wirtschaftswissenschaften möglich.

Auch die von den kaufmännischen Vereinen (KV) getragene Berufsbildung erfuhr einen Ausbau. Neben der kaufmännischen Lehre wurden Handelsschulen und später auch eigentliche Diplommittelschulen sowie eine Wirtschaftsmatur (Maturitätstypus E) eingerichtet. Um 1950 kam die Idee einer höheren Fachschule für Wirtschaft auf. 1968 gründete der KV Zürich die erste Höhere Wirtschafts- und Verwaltungsschule (HWV) der Schweiz. Weitere HWV wurden in der Folge an anderen Orten eröffnet und nach Annahme des Fachhochschulgesetzes 1998 in sieben Fachhochschulen integriert.

Während sich die Fachhochschulen auf die Betriebswirtschaftslehre konzentrieren, bilden die Universitäten auch Volkswirte aus. Selbst die Eidgenössischen Technischen Hochschulen, welche diese Ausbildung nicht anbieten, betreiben volks- und betriebswirtschaftliche Forschungseinrichtungen. Das Institut für Wirtschaftsforschung, das 1938 von Eugen Böhler gegründet wurde, das 1929 eröffnete Betriebswirtschaftliche Institut sowie die Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich sind international annerkannt.

Die schweizerische Nationalökonomie verdankt ihren guten Ruf einigen renommierten Persönlichkeiten. An der Universität Basel lehrten Edgar Salin, der die angesehene Zeitschrift «Kyklos» 1947 mitbegründete, und Gottfried Bombach. Über die Landesgrenzen hinaus wirkten die Werke von Alfred Amonn, Karl Brunner und Jürg Niehans (Universität Bern) sowie von Walter Adolf Jöhr und Hans-Christoph Binswanger (Universität St. Gallen). Die Universität Zürich trat gegen Ende des 20. Jahrhunderts insbesondere durch innovative Arbeiten über die aussermarktliche Ökonomie von Bruno S. Frey und über die experimentelle Ökonomie von Ernst Fehr in Erscheinung. In der Westschweiz profilierte sich die Liberale Schule mit William Emmanuel Rappard, Wilhelm Röpke und Jacques L'Huillier an der Universität Genf. Einen guten Ruf geniessen ferner die wirtschaftsgeschichtlichen Studien von Antony Babel, Anne-Marie Piuz und Paul Bairoch sowie die ökonometrischen Forschungen von Luigi Solari und Pietro Balestra.

Umschlag des ersten Bandes von Kyklos, der ab 1947 in Bern herausgegebenen Internationalen Zeitschrift für Sozialwissenschaften (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Umschlag des ersten Bandes von Kyklos, der ab 1947 in Bern herausgegebenen Internationalen Zeitschrift für Sozialwissenschaften (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Typisch für die schweizerische wirtschaftswissenschaftliche Forschung war auch im 20. Jahrhundert der starke Praxisbezug. Die volkswirtschaftlichen Arbeiten verstanden sich meist im Dienste der praktischen Wirtschaftspolitik. Viele bekannte Ökonomen waren Mitglieder der 1932 geschaffenen Kommission für Konjunkturbeobachtung (später Kommission für Konjunkturfragen, 2007 aufgelöst), welche dem Bundesrat als ausserparlamentarisches Expertengremium in Wirtschaftsfragen zur Seite stand.

Von den Vertretern der Betriebswirtschaftslehre kam Karl Käfer von der Universität Zürich eine besondere Bedeutung zu. Er systematisierte das Rechnungswesen durch den sogenannten Käfer-Kontenrahmen und initiierte 1952 die Gründung der Vereinigung Schweizerischer Betriebswirtschafter (seit 1990 Schweizerische Gesellschaft für Betriebswirtschaft). Wichtige Impulse gab Hans Ulrich, der mit der systemorientierten Managementlehre in den 1960er Jahren einen neuen Weg einschlug. Sein Sohn Peter Ulrich hatte 1987-2009 an der Universität St. Gallen den ersten Lehrstuhl für Wirtschaftsethik im deutschsprachigen Raum inne. Viel beachtete Beiträge zur ökonomischen Theorie der Politik, welche das Zusammenspiel zwischen Wirtschaft und Politik untersucht, leisteten Peter Bernholz (Public Choice Theory), Bruno S. Frey (Neue Institutionen Ökonomie) sowie Alfred Meier (kognitiv-evolutionäre Theorie der Wirtschaftspolitik). Die Wirtschaftspädagogik emanzipierte sich ab den 1970er Jahren mit den Arbeiten von Rolf Dubs (Universität St. Gallen) zu einem eigenen Fachbereich.

Die wachsende Bedeutung, welche im 20. Jahrhundert auch die wirtschaftswissenschaftliche Weiterbildung erlangte, schlug sich in der Gründung verschiedener Fortbildungsstufen nieder. Universitäten und Fachhochschulen, aber auch immer mehr private Institute wie zum Beispiel das 1956 gegründete Unternehmen AKAD (Akademikergemeinschaft für Erwachsenenbildung) kämpften mit vielseitigen Kursangeboten um diesen Markt, der in den 1990er Jahren einen Boom erlebte.

Quellen und Literatur

16.-19. Jahrhundert
  • G.C.L. Schmidt, Der Schweizer Bauer im Zeitalter des Frühkapitalismus, 1932
  • E. Kipfer, Zur Gesch. des volkswirtschaftl. Unterrichts an den Hohen Schulen in Bern, 1949
  • W.E. Rappard, Economistes genevois du 19e siècle, 1966
  • H. Maier, Die ältere dt. Staats- und Verwaltungslehre, 21980
  • P. Caroni, «Der Kathedersozialismus an der jurist. Fakultät (1870-1910)», in Hochschulgesch. Berns 1528-1984, 1984, 203-237
  • Die Institutionalisierung der Nationalökonomie an dt. Univ., hg. von N. Waszek, 1988
  • D. Lindenfeld, The Practical Imagination, 1997
20. Jahrhundert
  • Das Stud. der Wirtschafts- und Sozialwiss. in der Schweiz, 1969
  • L. Carle, Das Berufsbild des Wirtschaftswissenschafters, 1971
  • G. Thürer, Hochschule St. Gallen für Wirtschafts- und Sozialwiss. 1899-1974, 1974
  • G. Prader, 50 Jahre schweiz. Stabilisierungspolitik, 1981
  • T. Pester, Gesch. der Univ. und Hochschulen im deutschsprachigen Raum von den Anfängen bis 1945, 1990 (Bibl.)
  • E. Allgoewer, «Überinvestition oder Unterkonsumtion?», in Arbeit in der Schweiz des 20. Jh., hg. von T. Geiser et al., 1998, 187-216
  • E. Walter-Busch, «Wandel oder Fortschritt der Erkenntnis?», in Arbeit in der Schweiz des 20. Jh., hg. von T. Geiser et al., 1998, 535-605
  • P. Jurt, «Volkswirtschaftslehre», in Konkurrierende Deutungen des Sozialen, hg. von C. Honegger et al., 2007, 187-250
  • S. Burren, Wissenskultur der Betriebswirtschaftslehre, 2010
Weblinks

Zitiervorschlag

Emil Walter-Busch; Tilman Slembeck: "Wirtschaftswissenschaften", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 06.11.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008263/2013-11-06/, konsultiert am 28.03.2025.