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Geschichte

Im abstrakten Sinne meint der Begriff Geschichte die Vergangenheit in ihrer Totalität. Die Geschichte als wissenschaftliche Disziplin umfasst sowohl die theoretisch und methodisch angeleitete Forschung als auch die Darstellung sowie Vermittlung der Ergebnisse.

Mittelalter bis 18. Jahrhundert

Allgemeines, Begriffliches

Während des Mittelalters und der Renaissance verstand man unter Geschichte nach der Definition Isidors von Sevilla (636) die Ereignisse und deren Bericht, aufgefasst als Schicksal und Kunde davon. Die Geschichtsschreibung (Historiografie) umfasste Darstellungen von Geschehnissen, vom Werdegang der Menschheit, eines Volkes, Reiches, Staates oder Bistums sowie von partikularen Gemeinschaften wie Klöstern und Stiften, oder war der Ort der Erinnerung an bedeutende Persönlichkeiten. Die erzählenden Darstellungen zeichnen sich durch eine grosse Vielfalt aus, je nach Zeit, Erzählhorizont und Zweckbestimmung.

Geschichte wurde an den Schulen und Universitäten nie als selbstständiges Fach unterrichtet, doch als Hilfsdisziplin der Artes, des Rechts und der Theologie hatte sie ihren Platz. Ihre Sprache war im Früh- und Hochmittelalter ausschliesslich das Latein. Gepflegt wurde sie von den Trägern der schriftlichen Kultur, dem gebildeten Klerus und Mönchtum. Ab dem 12./13. Jahrhundert weckte die Geschichte das Interesse eines weiteren, zunächst höfischen, dann auch bürgerlichen Laienpublikums, weshalb sie vermehrt in der Volkssprache verfasst wurde. Der Blickwinkel ihrer Darstellung verengte sich meist auf die Territorialgeschichte und im 15. Jahrhundert, als Ausdruck eines neuen bürgerlichen Selbstbewusstseins, auf die Stadt - in der Eidgenossenschaft auf die einzelne Stadtrepublik. Indem Geschichte nun auch von gebildeten Laien, zum Beispiel Kaufleuten, geschrieben oder in Auftrag gegeben wurde, löste sie sich teilweise von der Dominanz der Kirche. Sie trat in den Dienst der Obrigkeit und des Staates. Die Reformation und der Widerstreit der Konfessionen begünstigten die kritisch-historische Fundierung der jeweiligen Positionen. Doch erst das Abklingen der konfessionellen Kämpfe nach 1650/1700 beförderte die quellenkritischen Arbeiten zur Geschichte, namentlich zur Geschichte der römisch-katholischen Kirche des Mittelalters und ihrer Orden.

Früh- und Hochmittelalter

Das Ende des Römischen Reiches und die Landnahme der Alemannen führten zur Aufgliederung des Gebiets der heutigen Schweiz in einen burgundischen und einen alemannischen Teil, die wie die Gebiete südlich der Alpen auch in der Geschichtsschreibung je eine eigene kulturelle Entwicklung einschlugen. Die Grenzlage trug früh zu einer Vielfalt bei, die für die Geschichtsschreibung der Schweiz charakteristisch blieb.

In der burgundischen Schweiz lebte auch in fränkischer Zeit die römische Tradition lange fort, so in der von 455 bis 581 reichenden Chronik des Bischofs Marius von Avenches (573-593), der als erster schweizerischer Geschichtsschreiber gilt. Das Kultzentrum der Thebäischen Märtyrer in Agaunum (Saint-Maurice) brachte nicht nur frühe Passiones (Hagiografie) hervor, die den Anfang eines weit gefächerten Legendenkreises bildeten, sondern an der hier 515 gegründeten Abtei entstand bereits im 6. Jahrhundert mit der "Vita abbatum Acaunensium" die erste Klostergeschichte. Ins 6. Jahrhundert datiert ebenfalls die "Vita patrum Jurensium", ein Bericht über die Juraväter Lupicinus und Romanus sowie weitere markante Gestalten des altgallischen Mönchtums aus dem südlichen Jurabogen. Viten brachte auch die Memoria des Wirkens heiliger Missionare und Klostergründer der Merowingerzeit im Nordjura (Himerius, Ursicinus, Germanus) hervor. Die Fredegar-Chronik, Hauptquelle für die fränkische Geschichte des 7. Jahrhunderts, wurde vermutlich von einem aus dem transjuranischen, "schweizerischen" Burgund stammenden Chronisten um 660 verfasst. Am Bischofssitz in Lausanne pflegte man ab dem 9. Jahrhundert die Annalistik, die im Hochmittelalter fortgeführt und vor allem durch Cono von Stäffis mit der Bischofschronik von 1235 erweitert wurde (Annalen).

In der alemannischen Schweiz waren St. Gallen und Reichenau die frühen, miteinander in engem Austausch stehenden Zentren der Geschichtsschreibung: ab dem 8. Jahrhundert mit Viten der Hausheiligen in verschiedenen Bearbeitungen (Gallus, Otmar, Magnus, Wiborada), ab dem 9. Jahrhundert mit den St. Galler Klostergeschichten "Casus sancti Galli" (bis ins Spätmittelalter fortgesetzt), mit Annalen und deren erzählenden Fortsetzungen im 11. Jahrhundert in reichsgeschichtlichem Horizont (Hermann der Lahme von Reichenau und Berthold von Reichenau). Annalen brachten auch Einsiedeln (ab dem 10. Jh.), Allerheiligen und Zürich (11. Jh.) sowie Rheinau und Engelberg (ab dem 12. Jh.) hervor. In karolingischer Zeit schufen weitere Klöster und Stifte, an den thebäischen Legendenkreis um Saint-Maurice anschliessend, Viten ihrer lokalen Heiligen: Zürich (Felix und Regula), Solothurn (Ursus und Victor), Zurzach (Verena), im 10. Jahrhundert folgte Säckingen (Fridolin).

Herrscherdarstellungen und damit Werke der profanen Reichsgeschichte verfassten in spätkarolingischer Zeit Notker der Stammler von St. Gallen über Karl den Grossen und in salischer Zeit der wohl aus Solothurn stammende Hofkaplan Wipo über Konrad II. Die Kirchenreform und der Investiturstreit des 11. Jahrhunderts belebten die Historiografie als Mittel zur geistigen Standortbestimmung und Auseinandersetzung. Bernold von Konstanz (St. Blasien, Allerheiligen) schrieb als Anhänger der gregorianischen Partei eine Weltchronik (bis 1100). Die Gründung und Frühgeschichte der Reformklöster wurden nun aufgezeichnet, so in Muri (Acta Murensia), Petershausen bei Konstanz und Allerheiligen (Stifterbuch als Bearbeitung des 14. Jh.). Im 12. und frühen 13. Jahrhundert entstanden mit den grossen Geschichtswerken Ottos von Freising und seines Fortsetzers Otto von St. Blasien theologisch begründete Deutungen der Welt- und Reichsgeschichte mit Blick auf die bevorstehende Endzeit. Sie bezogen das Gebiet der heutigen Schweiz ein und fanden in Exzerpten der "Chronica universalis Turicensis" ihren Niederschlag.

Spätmittelalter

Das 14. Jahrhundert brachte mehrere Berichte geistlicher Geschichtsschreiber über die eigene Zeit oder einzelne Ereignisse hervor. Diese berühren auch die frühe Eidgenossenschaft und enthalten reichhaltigen Stoff, so das Epos "Cappella Heremitana" Rudolfs von Radegg (Überfall der Schwyzer auf Einsiedeln 1314), die Chronik des Franziskaners Johannes von Winterthur und die Reichschronik von Heinrich Truchsess von Diessenhofen.

Die im 15. Jahrhundert sich festigende Eidgenossenschaft mit ihrem Nationalbewusstsein schuf ideale Rahmenbedingungen für eine vielfältige Geschichtsschreibung. Deren Anfänge liegen in den aufblühenden Städten, die nach der Aufzeichnung ihrer Taten verlangten und Geschichtswerke in Auftrag gaben. In den Stadtchroniken überwiegt Weltliches. Das bewegte Leben der Vaterstadt regte zum Nachdenken über deren besonderes Schicksal an. Die Chronisten hatten Status und Anspruch des Gemeinwesens aus der Vergangenheit herzuleiten, gegen innen und aussen zu legitimieren und die ehrenvolle Vergangenheit den Zeitgenossen und Nachfahren in Erinnerung zu rufen.

Mächtig setzte Anfang des 15. Jahrhunderts die Geschichtsschreibung in Bern ein, das ab dem 14. Jahrhundert zum überragenden Staatsgebilde im Mittelland geworden war. Die amtliche Chronistik begann 1420 mit Konrad Justinger. Benedikt Tschachtlan und Heinrich Dittlinger setzten sie bis 1470 fort. Diebold Schilling der Ältere schrieb mit der "Amtlichen Berner Chronik" (1483), der privaten "Spiezer Chronik" (1484) und der "Grossen Burgunderchronik" (1486) sowie weiteren, nicht erhaltenen Werken das bedeutendste Chronik-Korpus des eidgenössischen Spätmittelalters (Bilderchroniken). Die Beharrlichkeit Berns in der Pflege seiner amtlichen Historiografie brachte hundert Jahre nach Justinger, nun im Geist des Humanismus und von der Reformation beeinflusst, die Stadtchronik des Valerius Anshelm hervor.

In Zürich schrieben ab dem 13. Jahrhundert verschiedene Autoren an der Chronik der Stadt. Einen Höhepunkt der Zürcher Chronistik vor der Reformation bildete die "Eidgenössische Chronik" (1436-1517) des Ratsherrn Gerold Edlibach. Luzern gelangte nach bescheidenen Anfängen (Einträge im Rats- und im Bürgerbuch) im 15. Jahrhundert durch die amtliche Chronik von Melchior Russ zur ersten Darstellung der Stadtgeschichte. Die Suche nach den historischen oder fiktiven Wurzeln der Herkunft griff auf die Landschaften und Länderorte über. Elogius Kiburger verfasste in der "Strättliger Chronik" die Geschichte der Thunerseekirchen, ein Anonymus berichtete über das Herkommen der Schwyzer und Oberhasler, und der Obwaldner Landschreiber Hans Schriber stellte im "Weissen Buch von Sarnen" die Gründungsmythen der Eidgenossenschaft zusammen. Ein scharfes Gegenbild zeichnete Felix Hemmerli in seiner Streitschrift gegen die Schweizer. Basel, das im Spätmittelalter ausserhalb der Eidgenossenschaft stand und dem oberrheinischen Kulturkreis angehörte, brachte keine amtliche Chronik, hingegen private Aufzeichnungen hervor, so durch Matthias von Neuenburg, Henman Offenburg, Heinrich von Beinheim, Johannes Knebel und Hieronymus Brillinger.

Besonders fruchtbar für zeitgeschichtliche Darstellungen waren innere Verfassungskämpfe einzelner Orte wie der Twingherrenstreit in Bern, über den Thüring Fricker schrieb, oder der Waldmannhandel in Zürich. Auch kriegerische Auseinandersetzungen der Eidgenossen - Appenzeller Kriege, Alter Zürichkrieg (Klingenberger Chronik, Hans Fründs Bericht), Burgunderkriege, Schwabenkrieg, Mailänderkriege -, die vielfach aus gegensätzlicher Optik behandelt wurden, lieferten viel Stoff. Im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts und frühen 16. Jahrhundert verliehen die aufkommenden Bilderchroniken der eidgenössischen Geschichtsschreibung einen besonderen Glanz.

Von der Reformation bis zur Frühaufklärung

Ab dem Frühhumanismus bereicherten neue Elemente die Geschichtsschreibung. Albrecht von Bonstetten und Conrad Türst verbanden sie mit der geografischen Beschreibung. Der Luzerner Stadtschreiber Petermann Etterlin verbreitete in seiner "Kronica von der loblichen Eydtgnoschaft" (1507 als erste Schweizer Geschichte gedruckt) die Befreiungssagen und stärkte das eidgenössische Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Entdeckung der Helvetier und der gemeinsamen Frühgeschichte der Eidgenossen (Heinrich Brennwald, Glarean) trug ihrerseits dazu bei, die Eidgenossenschaft als Bezugsrahmen und Gegenstand der Geschichte wahrzunehmen (Befreiungstradition). Als einschneidende Wende wurde in zahlreichen lokalen Darstellungen die Reformation erfahren.

Im Humanismus übte die antike Geschichtsschreibung in Stil und kritischer Haltung einen bestimmenden Einfluss auf die Geschichte aus. Systematische Quellensuche und gründliches Quellenstudium wurden durch die wissenschaftliche Diskussion unter Gelehrten ergänzt. Es entstanden grosse Chronikwerke (von denen aber nur wenige im Druck verbreitet wurden), so die St. Galler Äbtechronik von Joachim von Watt (Vadian), Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte, die Schweizer Geschichte von Josias Simler, das "Chronicon Helveticum" von Aegidius Tschudi, das eine Fülle von Material von den römischen Anfängen bis 1470 enthält, sowie die Schweizer Geschichte von Franz Guillimann. Das bedeutendste Werk ist die 1548 gedruckte "Chronik der Eidgenossenschaft" des Zürcher Pfarrers Johannes Stumpf. In seiner Nachfolge entstanden umfangreiche Chroniken unter jeweils besonderer Berücksichtigung des eigenen Ortes, unter anderem in Zürich die Eidgenössische Geschichte von Johann Heinrich Rahn, in Bern die Bernerchronik von Michael Stettler und die Schweizer Geschichte von Johann Jakob Lauffer. Zum Kreis der humanistischen Geschichtsschreibung zählen auch die Basler Chronik von Christian Wurstisen, die Bündner Chronik von Ulrich Campell, der die Geschichtsschreibung Graubündens begründete, die Schaffhauser Chronik von Johann Jakob Rüeger und die Genfer Stadtchronik von François Bonivard.

Titelblatt der Basler Chronik von Christian Wurstisen, publiziert in Basel, 1580 (Universitätsbibliothek Basel).
Titelblatt der Basler Chronik von Christian Wurstisen, publiziert in Basel, 1580 (Universitätsbibliothek Basel). […]

Breiten Raum nahm im konfessionellen Zeitalter die Kirchengeschichte ein. Auf refomierter Seite ragen die "Historia ecclesiastica" des Zürcher Gelehrten Johann Heinrich Hottinger, die "Helvetische Kirchengeschichte" seines Sohnes Johann Jakob und später die Werke des Waadtländers Abraham Ruchat heraus, auf katholischer Seite die "Helvetia Sancta" des Ittinger Kartäusers Heinrich Murer und der "Historisch-Theologische Gründ-Riss" des Frauenfelder Pfarrers Johann Kaspar Lang. Die Klöster, vor allem diejenigen der Benediktiner in St. Gallen, Rheinau, Einsiedeln und Muri, arbeiteten zum Teil unter maurinischem Einfluss ihre Geschichte auf. Unter den Kriegen wurden besonders die Bündner Wirren Gegenstand mehrerer monografischer oder memoirenhafter Werke, unter anderem von Bartholomäus Anhorn dem Älteren, Fortunat Sprecher von Bernegg, Fortunat von Juvalta, Ulysses Salis-Marschlins und Herzog Henri de Rohan. Im Tessin entstanden beachtliche, doch vielfach unveröffentlichte Werke zur Kirchen- und Lokalgeschichte, die von katholischen Geistlichen und einheimischen, in Mailand wirkenden Ordensleuten geschaffen wurden, so von Nicolò Maria Laghi (vor 1557), Vincenzo Fontana (1675), Alessandro Perlasca (um 1605-1670), Giovanni Rigolo (1640-1711), Giuseppe Bellasi (1750).

Aufklärung bis 20. Jahrhundert

Konstruktion einer Nationalgeschichte

Im 18. Jahrhundert hatte sich die Geschichte noch nicht von der Philosophie getrennt. Sie bot als unerschöpfliches Reservoir von Exempla Materialien an, denen der menschliche Geist einen Sinn geben musste. Sowohl in den Republiken als auch in den Monarchien war die Kenntnis der Vergangenheit eng mit dem Staatsgedanken und dem Nachdenken über das Wesen der Herrschaft verbunden. Wenn das 18. Jahrhundert eine Vorliebe für das Altertum hatte, dann deshalb, weil das Vorbild Spartas und Roms die republikanische Staatsform legitimierte. Ein Historiker wie Ludwig Meyer von Knonau konnte gar nicht anders, als Scipio, Cato und das römische Patriziat zu bewundern.

Die Regierungen der eidgenössischen Orte beauftragten gewöhnlich Juristen oder Geistliche, die Ereignisse der Vergangenheit festzuhalten, und überwachten die Arbeit der Geschichtsschreiber sehr genau. Kritik war unerwünscht, und die Benutzung der Dokumente wurde kontrolliert, denn die Archive fielen unter das Staatsgeheimnis. So entzog die Zensur Johann Jakob Bodmer, der 1729 vom Zürcher Rat mit der Fortsetzung einer Chronik betraut worden war, diese Aufgabe und enthob ihn aller öffentlichen Ämter. In den 1770er Jahren verweigerte man dem jungen Johannes von Müller den Zugang zu den Abschieden der Tagsatzung. 1780 wurde der Zürcher Pfarrer und Statistiker Johann Heinrich Waser enthauptet, da er Dokumente entwendet hatte. Kaum veröffentlicht, wurde 1773 die "L'Histoire de Genève" von Jean-Pierre Bérenger öffentlich verbrannt. Die Obrigkeiten hatten Angst, neue Argumente aus den historischen Dokumenten würden den politischen Kampf anfachen. Im 15. und 16. Jahrhundert trachteten die souveränen Städte danach, die Archive der eroberten Herrschaften zu konfiszieren. Während Unruhen und vor allem zur Zeit der Helvetik war das Volk davon überzeugt, dass in den Archiven die Beweise für all jene Freiheiten lagen, die ihnen die Macht ausübenden Aristokraten vorenthielten (Bourla-Papey).

Die Beschäftigung mit der Geschichte führte unweigerlich zu einer politischen Stellungnahme. In Freiburg verfasste der Baron François-Joseph-Nicolas d'Alt de Tieffenthal mit seiner "Histoire des Helvétiens" (1749-1753) eine Apologie der aristokratischen Herrschaft. Da er jedoch die Schweizer Geschichte von einem katholischen Standpunkt aus betrachtete, übte er Kritik an der Exklusivität des Patrizierregiments. Aber auch Historiker wie der Genfer Jean-Antoine Gautier oder der Berner Alexander Ludwig von Wattenwyl, welche die neuen Prinzipien der Diplomatik (Historische Hilfswissenschaften) bei der Quellenkritik anwandten, wurden der Einmischung in die Politik verdächtigt.

Neue Ansichten machten die Aufgabe der Historiker ebenfalls schwierig, weil sich das Verhältnis zur Zeit änderte. Der geschichtliche Ablauf wurde nun als Etappen auf dem Wege zu immer mehr Zivilisation und Fortschritt gedeutet. Auch neue anthropologische Konzepte zwangen die von biblischen Vorbildern geprägte politische Kultur der Schweiz zur Revision traditioneller Vorstellungen. Die Annahme des Jahrhunderts, dass nämlich in den Alpen glückliche, von den Makeln der Zivilisation unberührte Völker lebten, rückte wieder die Frage nach den Ursprüngen der Eidgenossenschaft in den Vordergrund.

Für Johann Jakob Bodmer und mancher seiner Zeitgenossen bestand die Aufgabe der Geschichte darin, durch genaue Kenntnis der Ursprünge und Sitten der Bevölkerung der Kantone die Liebe zum Vaterland zu wecken. Damit setzte er ein Gegengewicht zur umstürzlerischen Idee des Fortschritts. Bodmer unterschied drei Arten von Historikern: Die Kopisten, die lediglich Stoffmassen anhäuften, die Kritiker, die ihre Dokumente auszuwählen wussten, und schliesslich die originellen Köpfe, welche die Vergangenheit und mit ihr den Geist des Vaterlands heraufbeschwörten. Seine Liebe galt der dritten Gruppe, obwohl er selbst sich nie in dieser Art von Geschichte versuchte. In der "Helvetischen Bibliothek", die er 1735-1741 herausgab, veröffentlichte er Dokumente, welche die alten Freiheiten der Schweizer Gemeinwesen bezeugten. Damit regte er weitere Forschungen über das Mittelalter an. Andere Reihen wie der "Mercure suisse" und später die "Etrennes Helvétiennes" fuhren fort, Dokumente zu veröffentlichen, und stillten so den Quellenhunger der Forschung in diesen Anfangsjahren (Urkunden). Diese Form der Geschichte befreite sich freilich nie ganz von der legendenhaften Geschichtserzählung; nach der Auffassung von Philippe-Sirice Bridel - der Herausgeber der "Etrennes" und dann des "Conservateur suisse" war sowohl Historiker als auch Volkskundler - stammte der Bergler, der wahre Schweizer, von den Kelten ab (Volkskunde).

Titelblatt der französischen Übersetzung des Werks Der Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft von Johannes von Müller, publiziert 1795 (Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne).
Titelblatt der französischen Übersetzung des Werks Der Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft von Johannes von Müller, publiziert 1795 (Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne). […]

Das leidenschaftliche Interesse an den Ursprüngen der Eidgenossenschaft sowie die Wertschätzung jener heroischen Zeit, in der die dokumentierbare Geschichte der vier Waldstätte ihren Anfang nahm, fesselten zunächst die Aufmerksamkeit der Historiker. Diese Leidenschaft erfasste nicht nur den engen Kreis der Gebildeten, sondern auch weitere Bevölkerungskreise. Bereits Bodmer machte mit seinen für die Schulkinder geschriebenen "Historischen Erzählungen" den Schritt von der Geschichte hin zur Belehrung. Im Stil des naiven Patriotismus der "Schweizerlieder" von Johann Caspar Lavater begeisterten sich die Generationen des 19. Jahrhunderts für die Kriegstaten der tapferen Eidgenossen. Vor allem das Werk von Johannes von Müller legte den Grund für eine nationale Geschichte. Die fünf Bände seiner "Geschichte schweizerischer Eidgenossenschaft" (1786-1808) lesen sich wie ein Epos. Sie schildern die Grösse und den Niedergang eines Volkes nahe am Naturzustand sowie eine Geschichte der Freiheit, die ihren Höhepunkt in der "Befreiung" während der Jahre 1307-1308 erreichte - in diese Zeit verlegte er die Ereignisse um den ersten Bundesschluss der Waldstätte. Für Müller blieb die Geschichte im Dienste der Politik.

Die Errungenschaften der kritischen Geschichtswissenschaft

Um Fortschritte zu erzielen, musste die Geschichte aber erst ihre Unabhängigkeit erlangen. Sie tat dies im 19. Jahrhundert schrittweise, indem sie sich als empirische Wissenschaft zu definieren begann. Ausgehend von den Spuren der Vergangenheit, den Quellen, stiess man zu dem vor, was als historische Objektivität betrachtet wurde (Positivismus). Trotzdem fuhren die Schweizer Historiker in der Tradition des deutschen Historismus fort, nicht nur die Ereignisse der Vergangenheit zu schildern, sondern sie versuchten auch, zu einem Verständnis der Geschichte zu gelangen, um aus diesem Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Diese doppelte Zielsetzung setzte jetzt aber die Quellenarbeit voraus.

Les Suisses illustres. Ölgemälde des Pfarrers Jean-Elie Dautun, um 1829 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).
Les Suisses illustres. Ölgemälde des Pfarrers Jean-Elie Dautun, um 1829 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich). […]

Das 18. Jahrhundert bereitete diese Entwicklung mit der Veröffentlichung von Aegidius Tschudis "Chronicon Helveticum" (1734-1736), einer Quelle des 15. Jahrhunderts, vor. Gottlieb Emanuel von Haller stellte die erste Bibliografie zur Schweizer Geschichte zusammen, die 1785-1788 erschienene "Bibliothek der Schweizer-Geschichte", ein Werk in sieben Bänden mit mehr als elftausend Titeln. Als aber derselbe Haller und Uriel Freudenberger nach einer kritischen Untersuchung der Quellen 1760 die Geschichte von Wilhelm Tell als "dänische Mährgen" bezeichneten, wurde ihr Büchlein durch den Henker verbrannt. Nach 1820 war dergleichen nicht mehr möglich.

Der kritische Zeitgeist band nun die historische Wahrheit an die Existenz eines authentischen Dokuments. Joseph Eutych Kopp ging auf diesem Weg sehr weit mit seinen "Urkunden zur Geschichte der eidgenössischen Bünde" (1835-1851), in denen er die bis anhin gültige Geschichtsauffassung verwarf. Während des 19. Jahrhunderts prangerten zahlreiche Historiker die "fausseté" (Pierre Vaucher, 1889) der romantisierenden Erzählungen von Johannes von Müller an und strebten danach, sich von der "auréole imaginaire" (Albert Rilliet, 1868) der Anfänge der Eidgenossenschaft zu entfernen. Die Frage nach den Ursprüngen bewegte jedoch das 19. Jahrhundert, und die Historiker hatten für die ältesten Zeiten - Vorgeschichte, Altertum und Mittelalter -, die auch von den Archäologen (Archäologie) und den Vertretern der Altertumswissenschaften studiert wurden, eine Vorliebe. In den alten Schulbüchern hatte man die biblische Geschichte noch selbstverständlich mit der Geschichte des christlichen Zeitalters verbunden. Eine solche Kontinuität der Zeitalter befriedigte das laizistische und nationalistische 19. Jahrhundert jedoch nicht mehr, so wenig wie die in legendenhaften Wolken gehüllten Ursprünge der Eidgenossenschaft. Gründungsdokument der Eidgenossenschaft wurde nun eine Urkunde: Der seit 1758 bekannte und 1760 zum ersten Mal veröffentlichte Bundesbrief von 1291. Die Historiker Carl Hilty und Wilhelm Oechsli wurden später beauftragt, eine Abhandlung zu verfassen, welche die Wahl des Jahres 1891 für die erste Bundesfeier rechtfertigte.

Die Schweizer Geschichtsschreibung legitimierte auf diese Weise die Anfänge der Eidgenossenschaft, befreite sich aber nur unter Schwierigkeiten von der "finalistischen" Betrachtung der Zeit, wonach die Erforschung der Vergangenheit dazu diene, die Gegenwart zu verstehen und zu gestalten. Die politischen Ereignisse der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trugen das ihre zu dieser Ansicht bei. Denn die Periode der helvetischen Revolution löste eine Flut von ideologisch geprägten Veröffentlichungen über die Ereignisse der jüngsten Zeit aus, etwa die Schriften von Peter Ochs für und diejenigen von Jacques Mallet-du Pan gegen die Revolution. Der reaktionäre Zeitgeist inspirierte auch Autoren wie Heinrich Zschokke und Johann Anton von Tillier, deren Werke rasch ins Französische übersetzt wurden.

Die Revolutionszeit war für die Geschichte von grosser Wichtigkeit. Die Generationen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neigten nach dem Untergang der alten Eidgenossenschaft dazu, die gesamte Schweizer Geschichte auf die Errungenschaften von 1798, 1815 oder der liberalen Revolutionen in den 1830er Jahren hin zu deuten. Insbesondere die Sieger von 1848 nutzten ihre starke Stellung, um den Ereignissen, an denen sie selbst beteiligt waren, eine historische Rechtfertigung zu geben. Die Geburt der modernen Schweiz weckte einen erheblichen Bedarf an Geschichte. Dieser mündete in eine Reihe von Forschungsvorhaben, die von neu gegründeten Organisationen an die Hand genommen wurden. Der Fokus der Geschichte war nun auf die Verfassung von 1848 gerichtet, die als das Ergebnis einer langen und organischen Entwicklung gesehen wurde. Eine solche Sicht, die das Wirken der Liberalen und Radikalen des 19. Jahrhunderts ins Zentrum stellte, folgte den Bedürfnissen der Politik (Politische Geschichte).

Unter dem Einfluss der liberalen Ideen veränderten sich die äusseren Bedingungen für die Produktion historischen Wissens. Mochte auch die materielle Grundlage für die Forschung nicht immer ideal sein, so sorgte der Grundsatz der Öffentlichkeit demokratischer Entscheidungsfindungen doch dafür, dass die Quellen jedermann zugänglich wurden, zumindest für die Zeit vor der Französischen Revolution. Von den Staatskanzleien getrennte Kantonsarchive entstanden, und im Zug des neuen Bundesstaats wurde 1849 das Bundesarchiv gegründet. Die Anstrengungen zur Veröffentlichung von Quellen nahmen zu: Ab 1856 erschien die "Amtliche Sammlung der ältern Eidgenössischen Abschiede", ab 1886 für die umstrittene Zeit der Helvetik die "Aktensammlung aus der Zeit der Helvetik", ab 1877 die "Quellen zur Schweizer Geschichte" und ab 1898 die "Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen" (Akten, Rechtsgeschichte). Den Zugang zum Schrifttum erleichterten die Kantonsbibliotheken und die 1894 gegründete Landesbibliothek. Gegen Ende des Jahrhunderts schufen vor allem Josef Leopold Brandstetter und Hans Barth bibliografische Repertorien zur Schweizer Geschichte.

Die Überzeugung, die Kenntnis der Vergangenheit sei der Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart, führte zur Popularisierung der Geschichte, zumal diese unter dem Einfluss liberaler Vorstellungen in die Unterrichtspläne der Schulen aufgenommen worden war. Bevorzugt wurden die am weitesten zurückliegenden Epochen sowie das heroische Zeitalter der alten Eidgenossen. Die Wirren des 18. Jahrhunderts und die Ereignisse, die allzu sehr an die Gegenwart heranreichten, blieben hingegen unberücksichtigt. Dennoch diente der Geschichtsunterricht der Verknüpfung der grossen nationalen Traditionen, welche die Schaffung des Bundesstaats ermöglichten.

Die allgemeine Begeisterung für die Geschichte spiegelt sich im Aufkommen der Vereine, in denen sich Gelehrte und aufgeklärte Laien zusammenfanden. Nachdem ein erster Versuch 1811 noch gescheitert war, gelang es 1848 der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz (AGGS) eine gesamtschweizerische Vereinigung zu gründen. Diese gibt seither unermüdlich Anstösse für Editionen und pflegt durch ihre seit 1843 bestehende Zeitschrift den wissenschaftlichen Austausch. Auf lokaler und regionaler Ebene erfüllen diese Funktion eine Vielzahl von kantonalen Historischen Vereinen, die mehrheitlich zwischen 1830 und 1870 entstanden.

Die Doppelaufgabe, nämlich die Quellen zu erschliessen und das Werden des Schweizer Staates zu erklären, kennzeichnete die Geschichte des 19. Jahrhunderts. Johannes von Müller hatte in seinem Geschichtswerk die Zeit bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert behandelt. Vier Autoren setzten diese Arbeit für die Neuzeit fort: 1842-1851 erschien deren Darstellung auf Französisch sowie 1853 auf Deutsch. Wenn Müller als "Erzieher" der liberalen und demokratischen Schweiz galt, so verdankte er das in erster Linie seinen Nachfolgern aus der Westschweiz, vor allem Charles Monnard, dem Führer der Waadtländer Liberalen. Selbst wenn sich die Historiker an die Regeln der historischen Kritik hielten wie der Freiburger Radikale Alexandre Daguet, dessen "Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft von den ältesten Zeiten bis 1866" zahlreiche Auflagen erlebte, blieben sie von ihrer Teilnahme an den politischen Richtungskämpfen geprägt. Das herausragendste Beispiel ist Johannes Dierauer. Seine zwischen 1887 und 1917 publizierte "Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft", die bald ins Französische übersetzt wurde, bildet den Höhepunkt dieser Periode der Schweizer Geschichte. Als Meisterwerk der Synthese ruht sie auf der profunden Gelehrsamkeit ihres Verfassers, der sich ganz seiner Aufgabe als Historiker hingab und sich um strikte Objektivität bemühte. Dennoch bot Dierauer eine politische Sicht der Schweizer Geschichte, die auf das Jahr 1848 - hier endete seine Darstellung - ausgerichtet war; eine Sicht, die bis heute die kollektive Vorstellungswelt beherrscht.

Die Professionalisierung der Geschichtsforschung

Auch während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts behielt die liberale Auffassung der Geschichte ihre Bedeutung. Die Schweizer Historiker schrieben über Themen, die sie nach eigenem Gutdünken auswählten. Nur wenige beteiligten sich an den internationalen Diskussionen und wurden auch ausserhalb der Grenzen wahrgenommen. Die in Europa bekannten Basler Johann Jakob Bachofen ("Das Mutterrecht" 1861) und Jacob Burckhardt, Kenner der italienischen Renaissance und Verfasser der "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" (1868-1869), bildeten diesbezüglich eine Ausnahme. Trotzdem begannen sich ausländische Vorbilder und neue Wissenschaftskonzepte auch in der Schweiz bemerkbar zu machen.

Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich vor allem in Frankreich und Deutschland wissenschaftliche Gemeinschaften formiert, die sich aus Berufshistorikern zusammensetzten. Die Universität war neu der Ort, an dem man berufliche Anerkennung fand und an dem beurteilt wurde, ob jemand das wissenschaftliche Rüstzeug der Geschichte beherrschte. Schweizer Historiker übernahmen während ihren Aufenthalten an ausländischen Universitäten die naturalistischen Konzepte der französischen Geschichtswissenschaft sowie die neukantianischen und hermeneutischen Strömungen der deutschen Schule, ohne selbst ein herausragendes theoretisches Werk zu hinterlassen - allerdings war die Gemeinschaft der Schweizer Universitätsdozenten auch viel kleiner als diejenigen der Nachbarländer. Die ersten Geschichtslehrstühle wurden zur Zeit des Liberalismus geschaffen. Zürich etwa errichtete bei der Gründung seiner Universität sogleich einen Lehrstuhl für vaterländische Geschichte. Gewöhnlich deckten die Lehrstühle das gesamte Feld der Geschichte ab, so an der Akademie Bern ab 1832 und an der Akademie Genf ab 1835. Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diversifizierte sich der universitäre Geschichtsunterricht. Zu Beginn ihres Bestehens (1889-1890) besass die Universität Freiburg vier Lehrstühle für Geschichte, in den 1930er Jahren gar neun (Bern hatte zu dieser Zeit fünf). Mehr und mehr wurden die historischen Teildisziplinen nach deutschem Vorbild in Seminaren zusammengefasst, in Bern und Zürich um 1870, in Basel 1887. Allerdings verfügten diese über sehr bescheidene Mittel, vor allem für die Seminarbibliotheken. Auch der Studiengang, der die Laufbahn des Historikers festlegte, wurde nur zögerlich geregelt. Erst ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden die Studenten auch in Quellenlektüre und Quellenkritik praktisch ausgebildet.

Die Lehrstuhlinhaber dominierten von nun an die Forschung. Der Universitätsunterricht konzentrierte sich aber keineswegs ausschliesslich auf die Schweizer Geschichte. Mehrere Professoren befreiten sich von der Erwartung, über die Geschichte ihres Landes zu schreiben, und veröffentlichten Arbeiten zur Geschichte Europas wie beispielsweise Alfred Stern in Zürich, Rudolf Wackernagel in Basel oder Gustav Schnürer in Freiburg. Dennoch machte sich der Grossteil der bekannten Historiker in der Schweiz einen Namen mit Untersuchungen zu nationalen Themen. Im Allgemeinen bildeten sie sich an den deutschen Universitäten in den kritischen Methoden fort. Jene, die sich gemäss dem angelsächsischen Vorbild sozioökonomischen Fragestellungen zuwandten, blieben marginalisiert wie William E. Rappard, der 1927 in Genf das Institut des hautes Etudes internationales ins Leben rief. Gar nicht ins damalige Schema passte Eduard Fueter. Er schrieb nicht nur ein klassisches Werk über die Historiografie und Arbeiten zur europäischen Geschichte, deren neue Gesichtspunkte Fernand Braudel ankündigten, sondern er veröffentlichte auch 1928 "Die Schweiz seit 1848". Dieses Buch leitete für viele den Neubeginn der Schweizer Geschichte ein.

In den 1920er Jahren vollzog sich ein markanter Generationswechsel. Die Historiker, welche noch die für die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz entscheidenden Jahre 1870-1910 miterlebt hatten, traten ab. Ihre Nachfolger waren mit den Problemen konfrontiert, die sich aus der Krise der liberalen Demokratien und dem Aufstieg des Totalitarimus ergaben. Monografien wie Synthesen öffneten sich nun der Wirtschaftsgeschichte und Sozialgeschichte und erweiterten den engen Fokus auf Institutionen und Politik, der die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts geprägt hatte. Die traditionelle Auffassung von Geschichte bestimmte aber noch Grossprojekte wie die "Schweizer Militärgeschichte" (1915-1936) und insbesondere das "Historisch-Biographische Lexikon der Schweiz" (1921-1934), an dem Lehrstuhlinhaber, Archivare und Gelehrte in den einzelnen Kantonen mitarbeiteten und das heute noch ein wichtiges Arbeitsinstrument darstellt (Militärgeschichte, Lexika). Aber selbst in der Gattung des Lexikons hielten Neuerungen Einzug, wie der lange Artikel "Helvetische Republik" belegt, in dem Alfred Rufer eine umstrittene, vor ihm lange vernachlässigte Periode rehabilitierte. Im Übrigen startete die Landesbibliothek 1914 die jährlich erscheinende "Bibliographie zur Schweizergeschichte", und die AGGS begann 1921 mit der Herausgabe der "Zeitschrift für Schweizer Geschichte".

Ausschnitt aus einem Glasfenster im Chor der Kathedrale St. Niklaus in Freiburg, das der Freiburger Geschichte gewidmet ist. Nach einem Entwurf von Józef Mehoffer, 1919. Das ikonografische Programm stammt von Max de Diesbach, die Ausführenden waren die Glasmaler Kirsch und Fleckner, 1936 (Amt für Kulturgüter, Freiburg).
Ausschnitt aus einem Glasfenster im Chor der Kathedrale St. Niklaus in Freiburg, das der Freiburger Geschichte gewidmet ist. Nach einem Entwurf von Józef Mehoffer, 1919. Das ikonografische Programm stammt von Max de Diesbach, die Ausführenden waren die Glasmaler Kirsch und Fleckner, 1936 (Amt für Kulturgüter, Freiburg). […]

Persönlichkeiten wie Richard Feller und Werner Näf in Bern, Ernst Gagliardi, Leonhard von Muralt und Hans Nabholz in Zürich sowie Emil Dürr in Basel drückten nun ihre Besorgnis über die politische Entwicklung der Gegenwart aus. Mit ihren Forschungen zeigten sie die Eigenart der Schweizer Geschichte auf und trugen so massgeblich zur Herausbildung des Konzepts "Sonderfall Schweiz" bei. Mehrere von ihnen engagierten sich in der Geistigen Landesverteidigung, die während der 1930er Jahre und des Zweiten Weltkriegs den Willen zum Widerstand gegen äussere Aggression und innere Subversion festigen wollte. Der in Zürich lehrende Karl Meyer nahm sich noch einmal der Ursprünge der Eidgenossenschaft an und betonte erneut die traditionelle Sicht, dass am Anfang der Befreiungskrieg gegen einen äusseren Feind gestanden habe. Die Polemik, die sein Werk auslöste, lässt sich nur einordnen, wenn man sich das Umfeld der symbolträchtigen Feier anlässlich des 650. Geburtstags der Eidgenossenschaft vergegenwärtigt. Der 8. internationale Kongress der Geschichtswissenschaften von 1938 unter dem Vorsitz von Hans Nabholz in Zürich bot ebenfalls die Gelegenheit, den multikulturellen Charakter der Schweiz herauszustreichen. Das Einstehen für die Demokratie wurde für die Schweiz nachgerade zu einer Weltanschauung.

Nur eine Handvoll Historiker wie Robert Grimm, Valentin Gitermann und Hans Mühlestein liessen sich vom Marxismus oder Sozialismus beeinflussen. Der Zugang zu institutionellen Posten blieb ihnen deshalb verwehrt, und sie hinterliessen für die Zeit atypische Werke. Andere, zum Beispiel Hermann Bächtold, zeigten ihre Sympathie für Deutschland oder gar für den Nationalsozialismus wie Hektor Ammann. Nachdem der Freiburger Aristokrat Gonzague de Reynold mit der Veröffentlichung seiner geschichtsphilosophischen Arbeit "La Démocratie et la Suisse" 1929 die liberale Tradition der Schweizer Geschichte in Frage gestellt hatte, verlor er seine Stelle an der Universität Bern.

Die Geschichtsschreibung seit 1950

1951 gab die AGGS ihrem Organ einen neuen Titel: Aus der "Zeitschrift für Schweizer Geschichte" wurde die "Schweizer Zeitschrift für Geschichte". Diese Namensänderung kündigte eine erhebliche Ausweitung der Schweizer Geschichtsforschung an. Ab den 1960er Jahren vergrösserte sich die Zahl der Studierenden, und zwar sowohl an den Universitäten als auch an den Schulen, an denen Geschichte unterrichtet wurde. Die markantesten Zunahmen fielen auf das Ende der 1960er und den Beginn der 1980er Jahre. In den Geisteswissenschaften verdoppelte sich die Zahl der Studierenden in den 1960er und in der Geschichte in den 1980er Jahren. Einige historische Teildisziplinen wie die Rechtsgeschichte und Medizingeschichte wurden anderen Fakultäten zugeteilt. Entsprechend stieg die Zahl der Lehrer und Forscher, und neue Stellen wurden geschaffen (die Ernennung des ersten Assistenten erfolgte 1942 in Bern). Langsam öffnete sich die akademische Laufbahn auch den Frauen. Angesichts der Notwendigkeit, die zahlreichen Studierenden zu betreuen, rückte die Forschung in den Instituten und Seminaren bisweilen in den Hintergrund. Eine Ausnahme bildete die 1971 in Zürich gegründete Forschungsstelle für schweizerische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die ausserordentlich produktiv ist. Im Gegensatz zu den Nachbarstaaten existieren in der Schweiz keine vom Universitätsbetrieb unabhängigen Forschungsstrukturen. Obwohl der Schweizerische Nationalfonds seit 1952 zahlreiche Historiker, aber auch Forschungsgruppen unterstützt, blieb die Geschichte zum grössten Teil von den grossen nationalen Forschungsprogrammen ausgeschlossen - vielleicht mangels einer starken Lobby.

Die steigende Zahl von Berufshistorikern schlug sich auch in der Zunahme der Veröffentlichungen nieder. Neben den alten Publikationsreihen entstanden dank der Initiative dynamischer Verleger (Zürcher Chronos Verlag) und der Universitätsinstitute neue Foren. Neue Zeitschriften erschienen, die häufig von Historikern getragen wurden, die sich nicht aufgrund ihrer Herkunft aus einer bestimmten Region, sondern wegen ihres Interesses für bestimmte Themen der Geschichte zusammenschlossen, wie im Falle der 1974 gegründeten Schweizer Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Unter den wissenschaftlichen Projekten sind die "Helvetia Sacra" (seit 1972), die "Diplomatischen Dokumente der Schweiz" (seit 1979) und das "Historische Lexikon der Schweiz" (seit 1988) zu nennen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen zwei Handbücher hinzu, wobei bezeichnenderweise keines von einem einzigen Verfasser stammte. Das "Handbuch der Schweizer Geschichte" (2 Bde., 1972 und 1977) vertritt noch eine herkömmliche Auffassung von Geschichte, während die neue "Geschichte der Schweiz und der Schweizer" (3 Bde., 1982-1983) - sie erschien gleichzeitig auf Deutsch, Französisch und Italienisch - zum ersten Mal versuchte, ein breites Publikum mit den Ergebnissen einer sich auf die Wirtschaft und Gesellschaft beziehenden Strukturgeschichte vertraut zu machen, die damals in der Geschichte vorherrschte.

Die Vielfalt der Forschungsrichtungen nahm in den letzten Jahrzehnten rasch zu. Diese Entwicklung führte aber auch zu neuen Abgrenzungen. Der Universitätslehrer, der mit derselben Sachkenntnis über die Renaissance wie die zeitgenössische Diplomatiegeschichte schreiben konnte, machte dem Experten einer Epoche oder eines Sachgebiets Platz (z.B. Technikgeschichte, Körpergeschichte). Dadurch verloren die Historiker einen Teil ihrer gesellschaftlichen Bedeutung als Hüter der Vergangenheit an die Ethnologie, die Volkskunde, die Soziologie, die vielen lokalen und regionalen Vereine, die sich um die Bewahrung des geschichtlichen Erbes kümmern, sowie an die wachsende Zahl von historischen Museen. Zudem lösten sich viele Professoren von der Nationalgeschichte, zumal die Umschreibung der Lehrstühle nicht mehr zum doppelten Unterricht in Allgemeiner Geschichte und Schweizer Geschichte verpflichtete. Die verschiedenen ideologischen und politischen Affinitäten, die bis anhin die Geschichte beeinflussten, wurden hingegen weniger systematisch zurückgedrängt. Auf die relative Isolierung der Schweizer Intellektuellen, die zwischen den 1930er Jahren und dem Kalten Krieg den "Sonderfall" propagiert hatten, folgte erst ab den 1970er Jahren eine Öffnung gegenüber den grossen Strömungen, die in Europa und Amerika zur Erneuerung der Geschichte beitrugen.

Plakat für Richard Dindos Film Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg, 1973, von Pierre Brauchli (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat für Richard Dindos Film Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg, 1973, von Pierre Brauchli (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste). […]

Die Vielzahl der Forschungsrichtungen lässt keine Synthese oder Aufzählung von Schulen um diesen oder jenen Historiker zu. Während der 1960er und 1970er Jahre beherrschte vor allem die Wirschafts- und Sozialgeschichte die Forschung. Neben der nach wie vor unbestreitbaren Vitalität traditioneller Zugänge wie der Institutionengeschichte, der Kirchengeschichte und der Geschichte der diplomatischen Beziehungen entstanden zumeist im kantonalen Rahmen ertragreiche Studien zur Industrialisierung der Schweiz, zum Einfluss der Wirtschaftsentwicklung auf die Gesellschaftsstrukturen und zur demografischen Entwicklung der Bevölkerung. In den 1980er und 1990er Jahren verlagerten sich die Interessen erneut: Untersuchungen thematischer Art traten jetzt in den Vordergrund. Die verspätete Rezeption der französischen Annales-Schule, neue anthropologische Fragestellungen (Kulturgeschichte), der Einbezug der Sozialwissenschaften, die Hinwendung zur Alltagsgeschichte, deutsche und angelsächsische Ansätze, darunter die Geschichte von unten und die Gender Studies (Geschlechtergeschichte), sowie diskursanalytische Zugänge veränderten die Geschichte, die sich auch neuer Arbeitsweisen bediente, vor allem der Quantitativen Methoden und der Oral history. Die alte Frage nach den Ursprüngen der Eidgenossenschaft erhielt mit der Ablehnung der These, wonach am Anfang die Befreiung von der habsburgischen Herrschaft stehe, wieder Auftrieb. Die Neubewertung der heiklen Periode der 1930er Jahre und des Zweiten Weltkriegs schritt voran. Edgar Bonjour, der 1962 vom Bundesrat mit der Abfassung eines Berichts über die Aussenpolitik der Schweiz während jener Jahre beauftragt wurde, veröffentlichte 1970 die drei letzten Bände seiner meisterhaften "Geschichte der Schweizer Neutralität". Die nachfolgenden Generationen liessen selbst unter der Androhung von Prozessen nicht nach, Fragen zur Schweizer Flüchtlingspolitik und zu den Zugeständnissen gegenüber Nazi-Deutschland zu stellen. 1989 wurden die 74 Historiker, die ihren Kollegen Walther Hofer unterstützt hatten - dieser hatte in klaren Worten die politische Einstellung eines höheren Offiziers im Jahr 1940 angeprangert - freigesprochen. Als 1997 das Ansehen der Schweiz unter den Anklagen des Jüdischen Weltkongresses litt, der die Rolle der Schweizer Banken im Zusammenhang mit dem Raubgold der Nazis und den nachrichtenlosen Vermögen von Holocaustopfern kritisierte, ernannte der Bundesrat ein Expertengremium, die sogenannte Bergier-Kommission, um die Vorwürfe abzuklären. Anfang des 21. Jahrhunderts nahm das Interesse für die Schweizergeschichte merklich zu, wofür Gesamtdarstellungen wie jene von Volker Reinhardt ("Geschichte der Schweiz", 2006, diverse Neuauflagen), François Walter ("Histoire de la Suisse", 5 Bde., 2009-2010) und Thomas Maissen ("Geschichte der Schweiz", 2010, diverse Neuauflagen) sprechen. Mehr denn je werden heute die Historiker von den Erwartungen der öffentlichen Meinung und Politik herausgefordert.

Quellen und Literatur

Allgemeines
  • Feller/Bonjour, Geschichtsschreibung
  • U. Im Hof, «Von den Chroniken der alten Eidgenossenschaft bis zur neuen "Geschichte der Schweiz und der Schweizer"», in Geschichte der Schweiz und der Schweizer 1, 1982, 9-18
  • Geschichtsforschung in der Schweiz, 1992
Mittelalter bis 18. Jahrhundert
  • G. Heer, Johannes Mabillon und die Schweizer Benediktiner, 1938
  • W. Wattenbach et al., Deutschlands Geschichtsqu. im MA, 3 Tl., 1952-90
  • Repertorium fontium historiae medii aevi 1-9, 1962-2003
  • J.-P. Bodmer, Chroniken und Chronisten im SpätMA, 1976
  • LexMA 5, 45-54
  • Dictionnaire encyclopédique du Moyen Age 1, 1997, 734 f.
  • E. Tremp, K. Schmuki, Geschichte und Hagiographie in Sanktgaller Hs., 2003
Aufklärung bis Gegenwart
  • P. Stadler, «Zwischen Klassenkampf, Ständestaat und Genossenschaft», in Hist. Zs. 219, 1974, 290-358
  • P. Stadler, «L'historiographie suisse vers 1900», in Storio della storiografia, 1985, Nr. 8, 116-122
  • R. Huber, Emilio Motta: storico, archivista, bibliografo, 1992
  • G.P. Marchal, «Les traditions nationales dans l'historiographie de la Suisse», in Visions sur le développement des Etats européens, hg. von W. Blockmans, J.-P. Genet, 1993, 271-296
  • M. König, «Neuere Forsch. zur Sozialgesch. der Schweiz», in Archiv für Sozialgesch. 36, 1996, 395-433
  • S. Buchbinder, Der Wille zur Geschichte: Schweizer Nationalgesch. um 1900, 2002
Weblinks

Zitiervorschlag

Ernst Tremp; François Walter: "Geschichte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.02.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008271/2015-02-17/, konsultiert am 15.01.2025.