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Psychologie

Die Psychologie entwickelte sich als selbstständige systematische Wissenschaft mit dem Beginn der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, als sich das seelische Erleben aus der religiösen Dogmatik löste und zum Untersuchungsgegenstand wurde. In der Schweiz erlangte zunächst Jean-Jacques Rousseau grosse Bedeutung, der in seinem Erziehungsroman «Emile» (1762) die Eigenart kindlicher Entwicklungsschritte betonte und damit die Pädagogik und Entwicklungspsychologie anregte. Der Naturforscher und Philosoph Charles Bonnet analysierte in seinem «Essai analytique sur la faculté de l'âme» (1760) seine Beobachtungen und vertrat dabei einen wissenschaftlichen Standpunkt, der strengen Empirismus mit philosophischen Spekulation zu verbinden suchte.

1891 wurde in Genf der erste schweizerische Lehrstuhl für experimentelle Psychologie mit Théodore Flournoy besetzt. Flournoy wurde vor allem durch seine analytischen Untersuchungen zum Phänomen des Unterbewussten bekannt und übte damit grossen Einfluss auf Carl Gustav Jung aus. 1901 begründete Flournoy mit seinem Cousin, Schüler und Nachfolger, dem Mediziner Edouard Claparède, die erste psychologische Zeitschrift der Schweiz («Archives de psychologie»). 1912 rief Claparède das Institut Jean-Jacques Rousseau als ausseruniversitäre Schule für Erziehungswissenschaften ins Leben. Ab 1921 wirkte dort der Biologe Jean Piaget, der mit bahnbrechenden Untersuchungen zur Entwicklung der kindlichen Erkenntnisfähigkeit Pionierarbeit leistete. Nach der Integration des Institut Jean-Jacques Rousseau in die Genfer Lehrerbildung und die Universität 1929-1939 gründete Piaget 1955 das transdisziplinäre Centre international d'épistémologie génétique, das Gelehrte aus aller Welt und allen Disziplinen anzog.

Carl Gustav Jung (links) im Gespräch mit dem Neuropsychiater Max Rinkel während des 2. Internationalen Psychiatriekongresses 1957 in Zürich. Fotografie von Candid Lang (Ringier Bildarchiv, RBA1-1-9875) © Staatsarchiv Aargau / Ringier Bildarchiv.
Carl Gustav Jung (links) im Gespräch mit dem Neuropsychiater Max Rinkel während des 2. Internationalen Psychiatriekongresses 1957 in Zürich. Fotografie von Candid Lang (Ringier Bildarchiv, RBA1-1-9875) © Staatsarchiv Aargau / Ringier Bildarchiv.

Um 1900 wurde auch Zürich zu einem Zentrum für die Entwicklung der Psychologie und deren Anwendungen. Nachdem Auguste Forel als Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli 1889 mit der Hypnose die erste systematische Psychotherapie für psychiatrische Krankheiten eingeführt hatte, errichteten sein Schüler und Nachfolger Eugen Bleuler und dessen Mitarbeiter Jung 1904 ein psychologisches Laboratorium für Assoziationsexperimente. Diese eröffneten den Zugang zum Unbewussten der Patienten. 1909 gründete Jung die Internationale Psychoanalytische Vereinigung. Nach seinem Bruch mit Freud befasste er sich mit der Struktur des Unbewussten (Archetypen, kollektives Unbewusstes) sowie der Dynamik und Symbolik des Individuationsprozesses. 1933-1941 lehrte er sogenannte moderne Psychologie an der Freifachabteilung der ETH Zürich, 1943 gründete er unter anderem mit Piaget die Schweizerische Gesellschaft für Psychologie.

Von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an befasste sich die Psychologie in der Schweiz vor allem mit ihrer Professionalisierung und der Angleichung an europäische Ausbildungsstandards. Dabei bestand seit Beginn ein starkes Spannungsfeld zwischen angewandter Psychologie und wissenschaftlicher Psychologie sowie zwischen ausseruniversitärer und universitärer Ausbildung. 1927 gründete Julius Suter in Zürich das Psychotechnische Institut, wo er in Kursen Psychologen für Berufseignungsprüfungen, Berufsberatung und andere Anwendungsgebiete der Psychologie ausbildete. 1937 wurde das Institut zum Seminar für angewandte Psychologie erweitert, seit 2007 ist die Einrichtung Teil der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. An den sieben Schweizer Universitäten studierten 2008 rund 7000 Studierende Psychologie im Hauptfach, ein Drittel davon in Zürich (80% Frauen). Viele Spezialisierungen können entweder ausseruniversitär (wie die meisten psychotherapeutischen Ausbildungen) oder durch neu konzipierte universitäre postgraduelle Weiterbildungen erworben werden. Die 1987 gegründete Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen vertritt als Berufs- und Dachverband die Interessen der akademischen Psychologen. 2009 vergab sie für neun Spezialisierungen (Psychotherapie, Klinische Psychologie, Kinder- und Jugendpsychologie, Berufsberatung, Neuropsychologie, Verkehrspsychologie, Rechtspsychologie, Gesundheitspsychologie, Sportpsychologie) gesetzlich geschützte Fachtitel. Die Berufsausübung ist kantonal geregelt; ein eidgenössisches Psychologieberufegesetz ist seit 2001 in Vernehmlassung.

Quellen und Literatur

  • R. Rüegsegger, Die Geschichte der angewandten Psychologie, 1900-1940, 1986
  • S. Shamdasani, Jung and the Making of Modern Psychology, 2003
  • La faculté de psychologie et des sciences de l'éducation: de l'Institut Rousseau (1912) à la FPSE, 2005
Weblinks

Zitiervorschlag

Angela Graf-Nold: "Psychologie", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 12.01.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008286/2012-01-12/, konsultiert am 31.03.2023.