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Historische Hilfswissenschaften

Der Sammelbegriff historische Hilfswissenschaften – heute auch als historische Grundwissenschaften bezeichnet – umfasst wissenschaftliche Disziplinen, die für die Erforschung der Geschichte, vor allem der Zeit vor 1800, unentbehrlich sind, weil erst mit ihren Methoden und Ergebnissen Geschichtsquellen kritisch überprüft und verstanden werden können. Unter die Kategorie historische Hilfswissenschaften fallen Wissensgebiete wie die Diplomatik (Urkunden), Paläografie (Schrift), Chronologie (Kalender) und Sphragistik (Siegel), die Genealogie und Heraldik (Wappen) sowie die Numismatik (Münzen), Epigrafik (Inschriften) und Buchkunde (Kodikologie). Als historische Hilfswissenschaften beigezogen, aber nicht unter ihnen eingereiht, werden unter anderem die Sprachwissenschaften (mittelalterliche Philologie), die Erforschung der Namen (Onomastik), Ortsnamen (Orts- und Flurnamen) und Mundart (Dialektologie), die historische Geografie (Humangeografie) sowie die Zeichen- (Symbolwissenschaften) und Bildkunde (historische Ikonografie). Die Abgrenzung zu weiteren, der Geschichte verwandten Disziplinen wie der Archäologie oder Rechtsgeschichte verläuft fliessend.

Entstehung

Der Begriff historische Hilfswissenschaften entstand gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als sich die Geschichtswissenschaft im Zuge der historisch-kritischen Quellenforschung als selbstständige Wissenschaft zu etablieren begann. Die sogenannte Göttinger Schule unter Johann Christoph Gatterer und ihre Nachfolger fassten der Geschichte dienliche Disziplinen zur Gruppe der historischen Hilfswissenschaften zusammen. Diese Disziplinen bestanden lange vorher, wurden aber anderen Zweigen der Wissenschaft zugeordnet (z.B. die Diplomatik den Rechtswissenschaften) und dienten auch anderen Zwecken, zum Beispiel die Diplomatik, Heraldik und Genealogie im Prozessrecht dem Nachweis von betrügerischer Urkundenfälschung oder ungerechtfertigter Erbansprüche.

Vertretung an Schweizer Universitäten

Angewandt wurden die Methoden der historischen Hilfswissenschaften in der Schweiz bei den nach 1850 anlaufenden Urkundeneditionen. Urkundenbearbeiter wie Rudolf Wackernagel in Basel vermittelten hilfswissenschaftliche Kenntnisse in ihrer Funktion als Geschichtsdozenten. Die Etablierung der historischen Hilfswissenschaften als eigenes Fach an Schweizer Universitäten erfolgte zuerst 1868 in Bern, dann 1889 in Freiburg, 1890 in Zürich und 1897 in Basel. Die Lehrstühle, mehrheitlich Extraordinariate, wurden mit anderen Fächern (v.a. Schweizer Geschichte, Mediävistik, Archivwissenschaften) kombiniert oder nebenamtlich insbesondere durch Staatsarchivare (Paul Schweizer, Friedrich Hegi, Hans Nabholz, Anton Largiadèr, Hans Conrad Peyer und Albert Bruckner) oder Bundesarchivare (Heinrich Türler und Léon Kern) betreut.

Lehrstühle für historische Hilfswissenschaften an Schweizer Universitäten

UniversitätLehrstuhlInhaberAmtsbeginn
BernSchweizer Geschichte und historische HilfswissenschaftenBasilius Hidberao. Prof. 1868, o. Prof. 1870
 Schweizer Geschichte und historische HilfswissenschaftenWolfgang Friedrich von Mülinenao. Prof. 1896
 Archivwissenschaften und historische HilfswissenschaftenHeinrich Türlerao. Prof. 1904/17a
 Mediävistik und historische HilfswissenschaftenLéon Kernao. Prof. 1925
 Schweizer Geschichte und historische HilfswissenschaftenHans Conrad Peyerao. Prof. 1964
 Mediävistik und historische HilfswissenschaftenPascal Ladnerao. Prof. 1966
FreiburgPaläographie-Diplomatik und historische HilfswissenschaftenFranz Steffenso. Prof. 1889
 Paläographie-Diplomatik und historische HilfswissenschaftenHans Foersterao. Prof. 1931, o. Prof. 1933
 Historische HilfswissenschaftenPascal LadnerLehrbeauftragter 1962, o. Prof. 1967
BaselSchweizer Geschichte und historische HilfswissenschaftenRudolf Thommenao. Prof. 1897, o. Prof. 1915
 Historische Hilfswissenschaften und Helvetia SacraAlbert Brucknerao. Prof. 1948, o. NF-Prof. 1967
ZürichRechtsgeschichte und historische HilfswissenschaftenBehrend Pickao. Prof. 1889
 Historische HilfswissenschaftenPaul Schweizerao. Prof. 1893
 Wirtschaftsgeschichte und historische HilfswissenschaftenFriedrich Hegitit. Prof. 1921
 Wirtschaftsgeschichte und historische HilfswissenschaftenHans Nabholzao. Prof. 1924, o. Prof. 1931
 Zürcherische Geschichte und historische HilfswissenschaftenAnton Largiadèrao. Prof. 1945
 Mediävistik und historische HilfswissenschaftenDietrich Schwarzao. Prof. 1963, o. Prof. 1969

a 1904 ao. Prof. Archivwissenschaften, 1917 zusätzlich historische Hilfswissenschaften

Lehrstühle für historische Hilfswissenschaften an Schweizer Universitäten -  Autorin

Wo Lehrstühle für historische Hilfswissenschaften fehlten, unterrichteten Mediävisten (wie Louis Junod in Lausanne) oder Lehrbeauftragte aus Staatsarchiven und Bibliotheken in Form von Leseübungen und Archivpraktika Paläografie, zum Teil auch Diplomatik, Chronologie und Kodikologie. Archivare und Mediävisten holten sich ihr hilfswissenschaftliches Rüstzeug hauptsächlich in Basel, Freiburg und Zürich, mitunter auch an der Ecole nationale des chartes in Paris. Für doktorierende Fachhistoriker war eine Prüfung in historischen Hilfswissenschaften (v.a. Paläografie, Grotefend-Benützung) lange Zeit obligatorisch.

Mit zunehmender Ausrichtung der universitären Lehre und Forschung auf die neuste Geschichte bei gleichzeitig abnehmendem Interesse an der Mediävistik verlor das Fach historische Hilfswissenschaften ab den 1970er Jahren deutlich an Studierenden. Die entsprechenden Lehrstühle wurden in den 1980er Jahren an den Universitäten – mit Ausnahme von Freiburg – abgeschafft und die historischen Hilfswissenschaften nur noch als Nebenfach angeboten. Lehraufträge in historischen Hilfswissenschaften sichern seither ein minimales hilfswissenschaftliches Angebot, das sich pragmatisch auf die Nachfrage ausrichtet. Neue Arbeitsweisen, zum Beispiel die quantitativen Methoden (Statistik), oder die zunehmende Vielfalt der Forschungsrichtungen wie die Wirtschaftsgeschichte (Volkswirtschaftslehre) verlangen nach anderen hilfswissenschaftlichen Kenntnissen, wobei die Informatik heute für die gesamte Geschichtswissenschaft eine wichtige Rolle spielt.

Quellen und Literatur

  • A. von Brandt, Werkzeug des Historikers, 1958 (162003)
  • J. Stiennon, Paléographie du Moyen Age, 1973 (31999)
  • Historische Hilfwissenschaften, hg. von P. Rück, 1989-
  • Elementa diplomatica, hg. von P. Rück, 1994-
  • B. Andenmatten et al., Ecrire et conserver: album paléographique et diplomatique de l'abbaye de Saint-Maurice d'Agaune (VIe-XVIe s.), 2010
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler: "Historische Hilfswissenschaften", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.10.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008287/2011-10-19/, konsultiert am 25.04.2024.