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Literaturwissenschaft

Der Begriff Literaturwissenschaft, der so nur im deutschen Sprachraum (französisch critique littéraire, italienisch critica letteraria, englisch literary criticism) existiert, bezeichnet verschiedene wissenschaftliche Richtungen, deren Hauptgegenstand die Literatur im weitesten Sinne ist. Er wurde in den 1830er Jahren zum ersten Mal verwendet und setzte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch. Im Bereich der nationalen Philologien steht er für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Literatur und umfasst somit ihre Entstehungsbedingungen, ihre Verbreitung und ihre Rezeption. Die literarische Interpretation und die Einordnung in geschichtliche, ideengeschichtliche, sozialhistorische und ideologische Zusammenhänge gehören wie die Untersuchung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Nationalliteraturen zueinander und zu anderen Künsten ebenfalls zu den Betätigungsfeldern der Literaturwissenschaft. Der Begriff Philologie reduzierte sich allmählich auf die Beschäftigung mit der Sprachgeschichte und mit der älteren Literatur. In der Gegenwart findet eine weitere Aufspaltung in eine ältere und eine neuere Literaturwissenschaft sowie in die historische Sprachwissenschaft und Linguistik statt. Als übergeordnete Begriffe, welche Sprach- und Literaturwissenschaft umfassen, setzten sich im 20. Jahrhundert Germanistik, Romanistik (zunächst als Sammelbegriff für alle romanischen Sprachen, später für das Französische) bzw. Italianistik durch.

Die grossen Namen der Literaturwissenschaft

Schon Beat Ludwig von Muralts «Lettres sur les Anglais et les Français» und die Schriften Jean-Jacques Rousseaus enthielten Elemente einer vergleichenden Literaturwissenschaft. Ulrich Bräker, «Der arme Mann im Toggenburg», und der Neuenburger Pfarrer und Redaktor Henri-David Chaillet gehörten jeder auf seine Weise zu den Ersten, die auf dem europäischen Kontinent Shakespeares Werke interpretierten. Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, die führenden Köpfe der sogenannten Zürcher Schule, der auch Johann Kaspar Lavater, Gotthard Heidegger und Johann Jakob Hottinger angehörten, brachten den Lesern sowohl die alte als auch die zeitgenössische Literatur näher und übten einen starken Einfluss auf die deutsche Frühromantik aus. Der Zürcher Jakob Heinrich Meister publizierte in Paris und in Zürich die «Correspondance littéraire». Zu Beginn des 19. Jahrhunderts strahlte die Groupe de Coppet rund um Madame Germaine de Staël auf ganz Europa aus. Sie entwarf im Werk «De la littérature» die Grundlagen einer literaturwissenschaftlichen Theorie und legte in «De l'Allemagne» (deutsch «Deutschland») das lange Zeit vorherrschende Bild des romantischen Deutschland fest, während Jean Charles Léonard Simonde de Sismondi mit grosser Subtilität die «Littérature du midi de l'Europe» analysierte. Ein kosmopolitischer Geist kommt auch in den Schriften Karl Viktor von Bonstettens und Benjamin Constants zum Ausdruck.

In der Deutschschweiz war Josef Viktor Widmann der wichtigste Vertreter der journalistischen Literaturkritik, während Jakob Bächtold und später Emil Ermatinger die Literaturgeschichte entscheidend prägten. Alexandre Vinet begründete den ersten, protestantisch und bürgerlich geprägten Zweig der Literaturwissenschaft in der Westschweiz, dem später auch Henri Warnery, Gaston Frommel und Charles Secrétan angehörten. Der zweite Zweig, dessen Vertreter Philippe Godet und Virgile Rossel waren, hatte universitären Charakter und war der historischen Wahrheit verpflichtet. Der dritte Zweig wies mit Edouard Rod und Marc Monnier eine deutliche europäische Ausrichtung auf. Aus dem italienischsprachigen Graubünden stammte Giovanni Andrea Scartazzini, der Dante Alighieris Werk kommentierte und edierte. Die Literaturkritik von Schriftstellern wie Carl Spitteler, Charles Ferdinand Ramuz, Edmond Gilliard, Gonzague de Reynold oder Charles-Albert Cingria markierte bereits den Übergang ins 20. Jahrhundert.

Zürich erwarb sich mit der Stilkritik der Revue «Trivium» (Gerda Zeltner) und den Namen Emil Staiger (textimmanente Analyse), Max Wehrli, Fritz Ernst und Karl Schmid einen ausgezeichneten Ruf. In Basel betrieben Walter Muschg mit einem existenzialistischen Ansatz («Tragische Literaturgeschichte») und Albert Béguin vom katholischen Standpunkt aus («L'Ame romantique et le rêve») eine engagierte Literaturbetrachtung. Die Arbeiten Marcel Raymonds («De Baudelaire au surréalisme»), Jean Roussets («Forme et signification» – dieses Werk begründete den literarischen Strukturalismus) und Jean Starobinskis verhalfen der Genfer Schule zu einem internationalen Renommee. Für die italienischsprachige Schweiz sind mindestens Giovanni Pozzi und Remo Fasani zu erwähnen, für die rätoromanische Schweiz und das lateinische Mittelalter Reto Raduolf Bezzola. Der Antagonismus zwischen traditioneller und moderner, universitärer und «militanter» Literaturkritik eskalierte 1966-1967 im Anschluss an eine Rede Emil Staigers (sogenannter Zürcher Literaturstreit).

Die journalistische Literaturkritik in Presse und Radio war und ist reichhaltig und vielfältig. Im Fernsehen dagegen nimmt sie einen untergeordneten Platz ein. Während langer Zeit erschienen in Zürich hochstehende literaturkritische Beiträge in der Zeitung «Die Tat» (Max Rychner) und im Feuilleton der NZZ (Eduard Korrodi, Werner Weber), in der Westschweiz in der «Gazette de Lausanne» und ihrer «Gazette littéraire» (Franck Jotterand) sowie im «Journal de Genève» und seiner Beilage «Samedi littéraire» (Walter Weideli, Georges Anex). Trotz der langen Geschichte und der Bedeutung der Literaturwissenschaft in der Schweiz gibt es keine thematische Gesamtbetrachtung.

Die Literaturwissenschaft an der Universität

Nach der Einrichtung philologischer Lehrstühle an den deutschen und deutschschweizerischen Universitäten im 19. Jahrhundert wurde zunächst das ganze Gebiet der jeweiligen Philologie von einem Lehrstuhlinhaber gelehrt, wobei sich die meisten mit der älteren Sprache und Literatur beschäftigten. Ab den 1870er Jahren entstanden immer mehr Stellen für den Bereich der neuen Philologien, die sich später in Lehrstühle für Literaturwissenschaft umwandelten. Die meisten deutschschweizerischen Universitäten teilten die Literaturwissenschaft in eine neuere und eine ältere Abteilung auf (Universität Bern 1871, Basel 1884, Zürich 1887). In Freiburg wurde 1894 ein Lehrstuhl für französische, 1903 einer für italienische und 1906 einer für deutsche Literatur geschaffen.

An den Westschweizer Akademien, aus denen später Universitäten wurden, gehörte die Ausbildung in Literatur, besonders auch in den Fremdsprachen, zum Lehrstoff. So wurde bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Literatur – oft die deutsche als erstes – als eigenes Fach unterrichtet (Genf und Lausanne 1844, Neuenburg 1866), die französische Literatur oft in Verbindung mit anderen Literaturen. Schon Ende des 19. Jahrhunderts gab es die Möglichkeit, nach französischem Vorbild mit einer «licence moderne», d.h. mit einem mehrere Sprachen umfassenden Lizenziat abzuschliessen.

Quellen und Literatur

Die grossen Namen der Literaturwissenschaft
  • Geisteserbe der Schweiz, hg. von E. Korrodi, 1929 (21943)
  • Le génie du lieu, hg. von C. Clerc, 1929
  • Die zeitgenöss. Literaturen der Schweiz, hg. von M. Gsteiger, 1974
  • Francillon, Littérature 3, 519-535
  • Critica litterara - Critica letteraria - Critique littéraire - Literaturkritik, 2001
Die Literaturwissenschaft an der Universität
  • Histoire de l'Université de Genève 3, annexes, 1934, 70-94
  • K. Pestalozzi, «Zur Germanistik in der Schweiz», in Germanistik internat., hg. von R. Brinkmann et al., 1978, 143-159
  • K. Weimar, Gesch. der dt. Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jh., 1989
  • Gesch. der Univ. Freiburg, Schweiz, 1889-1989, Bd. 2, 1991, 714-758
  • Histoire de l'Université de Neuchâtel 2, 1994, 309-345; 3, 2002, 360-399
  • J. Schütt, Germanistik und Politik, 1996
Weblinks

Zitiervorschlag

Rosmarie Zeller; Manfred Gsteiger: "Literaturwissenschaft", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.03.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008425/2011-03-10/, konsultiert am 29.03.2024.