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Soziale Ungleichheit

Soziale Ungleichheit ist ein zentraler Begriff der sozialwissenschaftlichen Analyse und meint die ungleich verteilten Lebenschancen und -risiken von Individuen und Gruppen in verschiedenen Positionen des gesellschaftlichen Beziehungsgefüges. Der Begriff ist deshalb zentral, weil die Analyse von Ungleichheit an ein gesellschaftstheoretisches Strukturmodell gebunden ist, das die verschiedenen Dimensionen und Kategorien von Ungleichheit definiert. Im Grunde lässt sich sozialer Wandel als Abfolge von unterschiedlichen Gefügen von sozialer Ungleichheit beschreiben: Ständische Gesellschaft, Klassengesellschaft, Schichtgesellschaft (re)produzieren in historisch spezifischer Weise soziale Ungleichheit. Die «klassische» Ungleichheitsforschung ermittelt die ungleiche Verteilung von knappen Ressourcen wie Einkommen, Bildung, Macht und Prestige und die darauf beruhende Formierung von Statusgruppen. Solche Statusgruppen werden dann zu einer gesellschaftlichen Hierarchie gefügt: der Sozialstruktur. Über die Zugangsbedingungen zu diesen gesellschaftlichen Statusgruppen und die Verschiebung zwischen ihnen gibt die Erforschung der sozialen Mobilität Auskunft. Die Interaktion und Kommunikation innerhalb dieser Gruppen wie auch zwischen ihnen geben Einblick in das gesellschaftliche Selbstverständnis und die verschiedenen Gruppenmentalitäten. Die Neuorientierung der Ungleichheitsforschung von einer rein strukturellen Erfassung zu einer kulturellen Bestimmung der Bedeutung von unterschiedlichen Lebenschancen und -risiken hat die Forschung seit Mitte der 1970er Jahre massgeblich beeinflusst. Daraus hat sich bisher jedoch kein neues Paradigma entwickelt. Stattdessen ist das Feld stark parzelliert und insofern repräsentativ für die «neue Unübersichtlichkeit» in den Sozialwissenschaften. Aussichtsreich ist die Verbindung von kulturellen Lebensstilen und strukturellen Lebenschancen zu einem Konzept unterschiedlicher «Lebensführung» (Max Weber). Dieses Konzept der sozialen Ungleichheit müsste die soziokulturelle Identität von Gruppen in Beziehung zu deren politischen Durchsetzungsfähigkeit und ökonomischen Potenz setzen.

Die Verwendung von Konzepten der sozialen Ungleichheit in der Geschichtswissenschaft muss zwei Klippen umschiffen: Erstens erklärt die ungleiche Verteilung von Ressourcen – wie sie etwa für mittelalterlichen Städte anhand von Vermögenssteuerlisten beschrieben worden ist – für sich allein noch sehr wenig. Entscheidend sind jene Ungleichheiten, die gesellschaftlich mit Bedeutung belegt, also gedeutet werden. Die historische Forschung muss sich bei der Erfassung der sozialen Ungleichheit immer mit der Selbstbeschreibung der Gesellschaft und mit sozial typisierten Gruppen befassen, wenn sie nicht einem sterilen Strukturnaturalismus verfallen will. Zweitens droht der historischen Ungleichheitsforschung die Gefahr einer «rückwirkenden Deutung», die der sozialen Ungleichheit ex post unterlegt wird. Dieses Verfahren postuliert in der Regel eine Leitdifferenz der sozialen Ungleichheit (die Klasse, das Geschlecht, die Nation usw.) und erklärt damit geschichtlichen Wandel, unbesehen der realhistorischen Bedeutung der entsprechenden Kategorie. Historische Konflikte werden dann als Abfolge von Klassen-, Geschlechter- und Völkerkämpfen interpretiert. Dabei wird übersehen, dass soziale Ungleichheit an sich keineswegs konfliktiv sein muss (Soziale Konflikte). Sie ist zunächst ganz einfach Ausdruck gesellschaftlicher Differenzierung und Spezialisierung. Wann und wo Ungleichheiten zum Konflikt führen, kann aus der Ungleichheit selbst nicht erklärt werden, sondern muss sorgfältig aus der Selbst- und Fremdwahrnehmung sozialer Gruppen rekonstruiert werden.

Die schweizerische Historiografie hat sich in verschiedenen Bereichen mit sozialer Ungleichheit auseinandergesetzt: in der Geschichte städtischen und ländlichen Bevölkerung in Mittelalter und Frühneuzeit (Stratifikation, Sozialtopografie, Demografie), in der Arbeitergeschichte, in der Bürgerforschung, in der Frauen- und Geschlechtergeschichte und in der Migrations- und Minderheitengeschichte. Der theoretische und empirische Anspruch und Gehalt sind dabei sehr unterschiedlich, ein kontinuierlicher Forschungsdiskurs besteht nur in Ansätzen.

Quellen und Literatur

  • A. Perrenoud, «Die soziale Ungleichheit vor dem Tod in Genf im 17. Jh.», in Biologie des Menschen in der Gesch., hg. von A.E. Imhof, 1978, 118-146
  • P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 1982, (franz. 1979)
  • H. Zwicky, Die Wahrnehmung Sozialer Ungleichheit, 1987
  • C. McAll, Class, Ethnicity and Social Inequality, 1990
  • H.-J. Gilomen, «Sozial- und Wirtschaftsgesch. der Schweiz im SpätMA», in Geschichtsforsch. in der Schweiz, 1992, 41-66
  • H.-P. Müller, Sozialstruktur und Lebensstile, 1992
  • L. Mysyrowicz, «Bilan provisoire d'une recherche sur les inégalités sociales en Suisse à la fin du XIXe siècle», in Yesterday, hg. von H.J. Marker, K. Pagh, 1994, 221-224
  • Soziale Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit, hg. von H.-P. Müller, B. Wegener, 1995
  • R. Kreckel, Polit. Soziologie der sozialen Ungleichheit, 1997
  • R. Levy et al., Tous égaux?, 1997 (dt. Kurzfassung 1998)
  • K. Gottschall, Soziale Ungleichheit und Geschlecht, 2000
Weblinks

Zitiervorschlag

Andreas Ernst: "Soziale Ungleichheit", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 08.01.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008538/2013-01-08/, konsultiert am 28.03.2024.