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Wehrpflicht

Als Wehrpflicht bezeichnet man die gesetzliche Verpflichtung der in der Regel männlichen Staatsbürger, während einer bestimmten Zeit ihres Lebens Militärdienst in Form eines Ausbildungs-, Bereitschafts- oder Kriegsdienstes (Aktivdienst) zu leisten. Die Wehrpflicht kann sich auf alle Staatsbürger erstrecken (allgemeine Wehrpflicht) oder einzelne Gruppen, etwa Frauen, Familienväter oder einzelne Berufskategorien, ausnehmen. Die Wehrpflicht und das auf altrepublikanischen Vorstellungen zurückgehende Milizsystem sind die Grundsäulen des schweizerischen Militärwesens seit dem Spätmittelalter.

Die Wehrpflicht vor 1848

Bis in die Zeit des Dreissigjährigen Kriegs war die Organisation des Wehrwesens ausschliesslich Sache der einzelnen eidgenössischen Orte. Die Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfe war in verschiedenen Bündnisverträgen geregelt. Trotz Ansätzen im Sempacherbrief (1393) und im Stanser Verkommnis (1481) kam es erst mit dem Defensionale von Wil (1647) zu einem ersten Versuch, durch die Schaffung eines eidgenössischen Kontingentsystems den Schutz des eidgenössischen Territoriums gemeinsam sicherzustellen (Defensionalordnungen). Wehrpflichtig waren grundsätzlich nicht die einzelnen Bürger, sondern die Orte, die auf der Basis ihrer Bevölkerungsgrösse ein bestimmtes Truppenkontingent zu stellen hatten. Da ein Teil der Wehrpflichtigen Militärdienst für ausländische Fürsten leistete (Fremde Dienste), aber grundsätzlich im Herkunftsort wehrpflichtig blieb, war in den Kapitulationen mit den europäischen Fürstenhöfen das Rückrufrecht von Regimentern im Verteidigungsfall verbrieft.

Die Verfassung der Helvetischen Republik von 1798 brach mit der einzelörtlichen Wehrpflicht und führte die nationale Wehrpflicht für alle Bürger von 20 bis 45 Jahren ein. Diese Regelung liess sich jedoch nicht durchsetzen. Da Frankreich von der Schweiz ein Hilfskontingent von bis zu 18'000 Mann forderte, entzogen sich viele Bürger der Wehrpflicht, sodass die Forderung Frankreichs nur mit einer Art Konskription auf der Basis von Gemeindekontingenten erfüllt werden konnte.

Weder die Mediationsverfassung von 1803 noch der Bundesvertrag von 1815 bzw. die auf den beiden Akten beruhenden Militärreglemente von 1804 und 1817 legten eine Wehrpflicht des einzelnen Bürgers unmittelbar gegenüber dem Bund fest. In allen kantonalen Verfassungen wurde zwar die allgemeine Wehrpflicht festgeschrieben. Tatsächlich wurde sie aber durch zahlreiche Ausnahmen und in einigen Kantonen durch die Möglichkeit, einen Ersatzmann zu stellen, durchlöchert. Wie im Ancien Régime waren die Kantone nach einem proportionalen Schlüssel (2 Mann pro 100 Einwohner in Auszug und Reserve) gegenüber dem Bund wehrpflichtig.

Die Wehrpflicht im Bundesstaat

Die Bundesverfassung von 1848 nahm in Artikel 18 die bis heute gültige Bestimmung auf, wonach jeder männliche Schweizer wehrpflichtig ist (BV 1999, Artikel 59). Wer keinen Militärdienst leistet, ist zu einer Ersatzleistung verpflichtet. Die Umsetzung blieb jedoch vorerst bei den Kantonen, die der Bundesarmee weiterhin Kontingente aus ihren Wehrpflichtigen zur Verfügung stellen mussten (3% der Bevölkerung für den Auszug und 1,5% für die Reserve, Sollbestand 104'354 Mann). Bestrebungen, das eidgenössische Wehrsystem zu reformieren und zu vereinheitlichen, wie zum Beispiel in Bundesrat Emil Weltis Entwurf einer eidgenössischen Militärorganisation von 1869, scheiterten.

Erst als die Grenzbesetzung von 1870-1871 die Mängel des kantonal organisierten Wehrwesens und der uneinheitlichen Umsetzung der Wehrpflicht offenbarte, wurde nach einem gescheiterten Versuch 1872 das Wehrwesen in der Bundesverfassung von 1874 und der Militärorganisation vom gleichen Jahr dem Bund übertragen. Den Kantonen verblieb mit Einschränkungen die Verfügungsgewalt über die kantonalen Truppen. Wie in der Helvetik wurde nun der einzelne Bürger gegenüber dem Bund wehrpflichtig und hatte, Tauglichkeit vorausgesetzt, nach der eidgenössisch organisierten Aushebung (Rekrutierung) eine Rekrutenschule zu durchlaufen und vom 20. bis zum 44. Altersjahr Militärdienst zu leisten. Auch gesetzlich Dienstbefreite (z.B. Lehrer und Eisenbahner) hatten eine Rekrutenschule zu absolvieren. Für die vom Dienst Befreiten wurde auf eidgenössischer Ebene eine Ersatzpflicht, der sogenannte Militärpflichtersatz eingeführt. Die Idee der Erfassung aller gesunden Männer in der Armee und die Wehrgerechtigkeit wurden schliesslich in der Militärorganisation (MO) von 1907 umgesetzt und behielten, gefördert durch die beiden Weltkriege und den Kalten Krieg, bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts eine hohe militärische und gesellschaftspolitische Bedeutung. Religiöse oder politische Gründe zur Dienstbefreiung wurden erst 1992 anerkannt (Artikel 49 MO, Absatz 5).

Die Diskussionen um die Dienstverweigerung führten 1992 zur Einführung eines nicht militärischen Ersatzdienstes von anderthalbfacher Dauer des verweigerten Militärdienstes (Zivildienst). 2008 wurde die Gewissensprüfung aufgehoben. Versuche, die Wehrpflicht auch auf die Frauen auszudehnen, zum Beispiel durch die geschlechtsneutrale Interpretation der Verfassungsbestimmungen, blieben politisch und juristisch folgenlos. Seit der Einführung des Frauenhilfsdienstes 1940 leisten Frauen freiwillig Militärdienst (Militärischer Frauendienst).

Besonderheiten der schweizerischen Wehrpflicht

Die Wehrpflicht breitete sich nach der Französischen Revolution (levée en masse) unter dem Druck der Erfolge der französischen Revolutionsheere in ganz Europa aus. Die demokratischen Revolutionen verstärkten die Entwicklung hin zum wehrpflichtgestützten Massenheer. Im üblichen Typ des stehenden Heers leisten die wehrpflichtigen Mannschaften ihren Dienst an einem Stück ab und werden anschliessend für einige Jahre in die Reserve eingeteilt. Die eidgenössische Miliztradition hingegen kennt eine Friedens- und eine Kriegswehrpflicht, letztere für alle waffenfähigen Männer im Rahmen einer Mobilmachung. Die Friedenswehrpflicht war in den Kantonen bis 1848 sehr unterschiedlich geregelt, basierte aber grundsätzlich immer noch auf einer Wehrpflicht der Orte gegenüber dem Bund. Die Wehrpflicht des einzelnen Bürgers beruhte auf dem die Ehrbarkeit voraussetzenden Recht zum Waffentragen, wie es sich bis in jüngster Zeit an der Appenzeller Landsgemeinde erhalten hatte. Mit ihr war auch eine dingliche Wehrpflicht verbunden, etwa das Halten der Waffe mit Munition im Haushalt, die zum Beispiel im Kanton Luzern erst 1877 aufgehoben wurde. Das Stellen des eigenen Pferds hat sich bei der Kavallerie als letzter Rest einer dinglichen Wehrpflicht bis zu ihrer Auflösung 1972 gehalten.

Mit der Revision der Bundesverfassung von 1874 wurden früher unentgeltlich zu erbringende Leistungen zugunsten des Gemeinwesens, wie etwa das Stellen der Schutz- und Trutz-Bewaffnung durch den Einzelnen, vom Staat übernommen, indem er unter anderem für Ausrüstung, Sold, Unterkunft, Verpflegung sowie Fürsorgeleistungen für Kranke, Verwundete und Hinterbliebene aufkommt. Die Armeeangehörigen erhalten seither die persönliche Waffe, Uniform und übrige Ausrüstung als Leihmaterial mit nach Hause. Im Rahmen der sogenannten ausserdienstlichen Pflichten obliegt es ihnen, die Ausrüstung zu unterhalten, sie an Inspektionen vorzuweisen und ein obligatorisches Schiessprogramm bei einem örtlichen Schützenverein zu absolvieren. 2011 wurde die Volksinitiative für den Schutz vor Waffengewalt, welche die Aufbewahrung der Ordonnanzwaffen im Zeughaus vorgeschrieben hätte, abgelehnt.

Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurde vor dem Hintergrund der veränderten Bedrohungslage und der Professionalisierung der Streitkräfte im europäischen Raum die allgemeine Wehrpflicht zunehmend in Frage gestellt. Als Folge der Armeereform von 2003 (Armee XXI) näherte sich das Konzept der Wehrpflicht mit der Schaffung von Durchdienern und Zeitsoldaten punktuell dem europäischen Typ an. Seither wird auch die Frage der Freiwilligenarmee vermehrt diskutiert. Die Volksinitiative «Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht» wurde 2013 abgelehnt.

Quellen und Literatur

  • W. Baumann, Die Entwicklung der Wehrpflicht in der Schweiz. Eidgenossenschaft 1803-1874, 1932
  • Die Wehrpflicht  hg. von R.G. Foerster, 1994
  • Wehrpflicht und Miliz – Ende einer Epoche?, hg. von K.W. Haltiner, A. Kühner, 1999
  • Wehrpflicht zur Debatte, 2004
Weblinks

Zitiervorschlag

Hans Rudolf Fuhrer; Karl W. Haltiner: "Wehrpflicht", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.05.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008588/2015-05-04/, konsultiert am 19.03.2024.