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Fahnenflucht

Desertion

Ein Fahnenflüchtiger oder Deserteur verlässt seine Truppe ohne Erlaubnis mit unbekanntem Ziel, ein Überläufer geht zum Feind über. Ein Dienstverweigerer hingegen will aus religiösen, philosophischen oder politischen Gründen keinen Militärdienst leisten (Dienstverweigerung).

Bereits im Sempacherbrief (1393) wurde das Verlassen der Einheit untersagt. Dies galt auch für Verwundete. Bis zum Ende des Mittelalter kehrte jedoch ein Teil der Männer regelmässig eigenmächtig nach Hause zurück, um die Felder zu bestellen.

Schweizer Regimenter in fremden Diensten

In fremden Diensten war die Fahnenflucht wie in allen Berufsheeren nach dem Tod die Hauptursache für die Verminderung des Bestandes. Zwischen 1766 und 1792 wurden im Regiment Eptingen im Mittel jährlich 22 Fahnenflüchtige auf einen Bestand von rund 1000 Mann gezählt. Diese Anzahl entspricht indessen kaum der Wirklichkeit, da die Hauptleute nicht alle Fahnenflüchtigen meldeten oder diese für tot erklärten.

Wenn der Feind nahe war, kam Fahnenflucht selten vor. Die Fälle häuften sich aber nach Feldzügen und in Friedenszeiten. Ursachen dafür waren betrügerische oder gewaltsame Rekrutierungsmethoden, elende und eintönige Lebensbedingungen, eine zu harte Disziplin, Schuldenmacherei, Furcht vor der Regimentsjustiz, Angst vor einem Feldzug, Heimweh oder die Verpflichtung bei einer anderen Einheit, um erneut Handgeld zu nehmen. Die Versammlung der Hauptleute milderte häufig die vom Kriegsgericht verhängten Strafen, und nur selten wurden Fahnenflüchtige gehängt oder erschossen. Gewisse eidgenössische Stände und zugewandte Orte verbannten Wiederholungstäter. Bis 1815 galten Offiziere, die zu einer anderen Macht übergingen, nicht als fahnenflüchtig.

Milizsystem und Fahnenflucht

Das zuerst kantonal geregelte, ab 1874 eidgenössische Milizsystem schloss lange Dienstperioden aus, was die Fahnenflucht verminderte. Das Militärstrafgesetz von 1927 unterschied Fahnenflucht in Friedenszeiten, die weniger streng bestraft wurde, Fahnenflucht in Kriegszeiten und Fahnenflucht vor dem Feind, wobei letztere die Todesstrafe nach sich ziehen konnte. Bestraft wurde auch, wer Beihilfe zur Fahnenflucht leistete, selbst Zivilisten. Die Strafen wurden in den Dienstreglementen der Jahre 1933, 1967 und 1980 in Erinnerung gerufen, in demjenigen von 1995 sind sie nicht mehr erwähnt.

Die politischen und religiösen Spannungen zwischen 1830 und 1850 liessen die Anzahl der Dienstverweigerer und Fahnenflüchtigen bei der Mobilisation der kantonalen Milizen ansteigen. Im Sonderbundskrieg wurden 1-2% Fahnenflüchtige gezählt. In ihren Berichten über den Aktivdienst erwähnen die Generäle Hans Herzog (1870-1871), Ulrich Wille (1914-1918) und Henri Guisan (1939-1945) die Frage der Fahnenflucht nicht. Die Akten der Fahnenflüchtigen, die sich einem Justizverfahren zu stellen hatten, liegen im Bundesarchiv. Bis 2004 gab es darüber keine Untersuchungen, auch wurde keine Statistik geführt.

Ausländische Fahnenflüchtige während der zwei Weltkriege

Ausländische Militärpersonen, die sich während der zwei Weltkriege in der Schweiz aufhielten, waren Fahnenflüchtige, Dienstverweigerer oder Internierte (Internierungen). 1914-1918 gestattete der Bundesrat auch den beiden erstgenannten Gruppen den Aufenthalt. Im April 1916 waren es 701 Personen, Ende September 1917 15'278, im Mai 1919 25'894 (11'818 Italiener, 7203 Deutsche, 2463 aus Österreich-Ungarn, 2451 Franzosen, 1129 Russen). Sie mussten selber für ihren Aufenthalt aufkommen und konnten deshalb den Wohnort frei wählen.

Italienische Deserteure und Flüchtlinge beim Grenzübertritt ins Tessin im Juli oder August 1943. Fotografie von Christian Schiefer (Archivio di Stato del Cantone Ticino, Bellinzona, Fondo Christian Schiefer).
Italienische Deserteure und Flüchtlinge beim Grenzübertritt ins Tessin im Juli oder August 1943. Fotografie von Christian Schiefer (Archivio di Stato del Cantone Ticino, Bellinzona, Fondo Christian Schiefer).

1935 befanden sich etwa 40 deutsche Fahnenflüchtige in der Schweiz. Während des Zweiten Weltkriegs wurde deren Behandlung durch das Völkerrecht nicht geregelt. Die Schweiz wies diese Fahnenflüchtigen nicht zurück. Im Juli 1942 wurden 102 aus Deutschland gezählt, Anfang 1944 deren 72. Vom Herbst an überquerten täglich rund 150 Fahnenflüchtige die Grenze; bei Kriegsende waren es beinahe 4700. Dazu kamen einige hundert (?) Sowjetrussen, die freiwillig in der Wehrmacht oder der Waffen-SS gedient hatten. Nach dem Krieg gab der Bundesrat dem Druck aus Moskau nach und schickte sie in ihre Heimat zurück; viele von ihnen sollen dort hingerichtet worden sein.

Quellen und Literatur

  • W. Schaufelberger, Der alte Schweizer und sein Krieg, 1952 (31987)
  • F.W. Seidler, Fahnenflucht, 1993
  • B. Durrer, «Auf der Flucht vor dem Kriegsdienst», in Zuflucht Schweiz, hg. von C. Goehrke, W.G. Zimmermann, 1994, 197-216
  • D. Bregnard, Le parcours du combattant, 1997, 93-101
Weblinks

Zitiervorschlag

Hervé de Weck: "Fahnenflucht", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 23.10.2006, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008595/2006-10-23/, konsultiert am 08.10.2024.