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Sicherheitspolitik

Die Sicherheitspolitik eines Staates umfasst dessen Androhung oder Einsatz von militärischen und zivilen Machtmitteln zum Schutz der Bevölkerung, zur Aufrechterhaltung der territorialen Unversehrtheit, zur Wahrung der politischen Selbstbestimmung und/oder zur Umsetzung eines politischen Gestaltungswillens jenseits der Landesgrenzen.

Die westdeutsche Politikwissenschaft der 1960er Jahre trug mit der Lehnübersetzung Sicherheitspolitik für den amerikanischen Begriff security policy einem sich erweiternden Bedrohungsspektrum Rechnung. Zudem definierte sie einen von Verwaltungsstrukturen unabhängigen Politikbereich. Der Bundesrat sprach erstmals im «Bericht 73» von Sicherheitspolitik, wobei er den Terminus einem Positionspapier der Sozialdemokratischen Partei (SP) aus dem Vorjahr entnahm. Er bemühte sich dabei um eine konsensfähigere Bezeichnung. Bereits 1969 hatte der Begriff Gesamtverteidigung den bis dahin geläufigen Ausdruck totale Landesverteidigung abgelöst. Bis 1999 bestanden Gesamtverteidigung und Sicherheitspolitik als Synonyme nebeneinander.

Seit dem sicherheitspolitischen Bericht 2010 versteht die Schweiz unter Sicherheitspolitik die Gesamtheit aller Massnahmen von Bund, Kantonen und Gemeinden zur Vorbeugung, Abwehr und Bewältigung machtpolitisch oder kriminell motivierter Drohungen und Handlungen, die darauf ausgerichtet sind, die Schweiz und ihre Bevölkerung in ihrer Selbstbestimmung einzuschränken oder ihnen Schaden zuzufügen. Dazu kommt die Bewältigung natur- und zivilisationsbedingter Katastrophen und Notlagen.

Im internationalen Vergleich zeichnet sich die schweizerische Sicherheitspolitik durch die sich aus der Neutralität abgeleitete Bündnisfreiheit und verteidigungspolitische Autonomie, durch eine Orientierung an traditionellen Bedrohungsbildern und entsprechend durch eine starke Gewichtung der militärischen Komponente (Armee), durch eine reaktive Handlungsweise gegenüber äusseren Herausforderungen sowie durch grosse Bemühungen zum (passiven) Schutz der Zivilbevölkerung (Zivilschutz) aus. Während des Kalten Kriegs kamen ein antikommunistischer Grundkonsens in der Bevölkerung und eine unablässige Kriegserwartung hinzu (Antikommunismus).

Die staatliche Organisation der Sicherheitspolitik

Da im Zeitalter der umfassenden, auch nuklearen Bedrohung die Verteidigung des Landes mehr als nur militärische Anstrengungen erforderte, brauchte es für den Extremfall eine Konzentration der Führungsgewalt über die staatlichen Instrumente. Diese Notwendigkeit stand aber stets im Widerspruch zur schweizerischen Regierungs- und Verwaltungsstruktur, welche auf die Diffusion der Macht angelegt ist. So behielt sich der Bundesrat anfänglich die Koordination der sicherheitspolitischen Mittel vor. Bereits in den 1950er Jahren kam es auf Verwaltungsebene zu Versuchen, die militärischen und zivilen Instrumente aufeinander abzustimmen: Ab 1956 fanden Landesverteidigungsübungen statt und 1958 wurde als Koordinationsorgan ein überdepartementaler Landesverteidigungsrat geschaffen, der verwaltungsexterne Stellen einbezog. Ihm folgte 1962 der Koordinationsausschuss für zivile und militärische Landesverteidigung. Eine gewisse operationelle Bedeutung erlangten erst die Leitungsorganisation und der Rat für Gesamtverteidigung, ab 1970 mit einem permanenten Stabsorgan, der Zentralstelle für Gesamtverteidigung (ZGV), die nur noch administrativ dem Eidgenössischen Militärdepartement (EMD) unterstellt war. Die Führungsstrukturen auf Stufe Bund und Sonderstäbe in den Departementen für ausserordentliche Lagen wurden in Gesamtverteidigungsübungen (so die ab 1977 übliche Bezeichnung) überprüft.

Der Bundesrat gab sich 1994 einen Sicherheitsausschuss, dem das EMD (später VBS), das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement sowie bis 2010 das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten bzw. seit 2011 das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement angehören. Ihm zur Seite steht eine Lenkungsgruppe, die Spitzenbeamte strategischer und nachrichtendienstlicher Einheiten einschliesst. Das Organ behandelt sicherheitspolitische Fragen, die der Regierung zu unmittelbarem Handeln Anlass geben können. Im Gefolge des Berichts «SIPOL B 2000» wurde anstelle der ZGV das Lage- und Früherkennungsbüro geschaffen, das für eine auf die Bedürfnisse des Bundesrats abgestimmte Lagebeurteilung der Dienste verantwortlich war. Dieses Büro verlor seine Funktion, als es Anfang 2006 im Stab Sicherheitsausschuss des Bundesrats aufging, der im Oktober 2005 gegründet worden war, um den Sicherheitsausschuss und die Lenkungsgruppe zu unterstützen. Der Stab Sicherheitsausschuss wurde 2011 aufgelöst.

Konzeptionen

Erst nachdem die sicherheitspolitischen Instrumente koordiniert worden waren, setzten in den 1960er Jahren die Bemühungen um eine Konzeption für die Sicherheitspolitik ein. So waren die Armeekonzeption 1966 und die Organisation der Gesamtverteidigung 1970 der 1973 verabschiedeten Konzeption für die Gesamtverteidigung («Bericht 73») vorausgegangen. Letztere fusste auf den Arbeiten der überparteilichen Studienkommission für Strategische Fragen (1967-1969) und machte Anleihen beim erwähnten Papier der SP, das geprägt von der Ost-West-Entspannung friedenspolitische Postulate erhoben hatte, unter anderem die Erhöhung der Entwicklungshilfe, die Intensivierung der europäischen und internationalen Zusammenarbeit, die Teilnahme an Verhandlungen zur Rüstungsbeschränkung und an Kriegsmaterialembargos sowie die Schaffung von Friedenstruppen und eines Instituts für Sicherheitspolitik. Der «Bericht 73» gilt als Zweikomponentenstrategie, indem er erstmals zwischen Bemühungen, im internationalen Rahmen zur Gestaltung und Sicherung eines dauerhaften Friedens beizutragen, und Massnahmen zur Verhinderung und Abwehr von feindlichen, gegen die Sicherheit der Schweiz gerichteten Handlungen unterschied. Das Schwergewicht der Mittelzuweisung lag indessen weiterhin auf der Kriegsverhinderung durch Verteidigungsbereitschaft (Dissuasion). Die Umsetzung der ausgreifenden Komponente Friedensförderung beschränkte sich auf die Teilnahme an den Konferenzen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) ab 1972.

Nach dem «Bericht 73» verabschiedete der Bundesrat fünf weitere sicherheitspolitische Konzeptionen: einen Zwischenbericht (1979), den «Bericht über die Friedens- und Sicherheitspolitik» (1988), den «Bericht 90» (1990), den «SIPOL B 2000» von 1999 (Sicherheit durch Kooperation) sowie den sicherheitspolitischen Bericht 2010. Die einzelnen Konzeptionen unterscheiden sich in der Begriffswahl und im Einbezug der zivilen Mittel, zu deren Kernbestand der Staatsschutz, der Zivilschutz und die wirtschaftliche Landesversorgung zählen. Sie widerspiegeln die jeweilige Bedrohungswahrnehmung und den Wertewandel. Um den Preis inhaltlicher Unschärfe und Unverbindlichkeit versuchten sie, einen überparteilichen Konsens herzustellen und dienten in der Folge oft als Referenz im innenpolitischen Kampf um Ressourcen.

Die Schweiz als sicherheitspolitische Akteurin

In den 1950er und 1960er Jahren trat die Schweiz international vor allem mit rüstungstechnischen Begehren und Angeboten in Erscheinung, gehörte ab 1953 der neutralen Waffenstillstandskommission für Korea an und wirkte im KSZE-Prozess als Brückenbauerin zwischen Ost und West, etwa indem sie ein System der Schiedsgerichtsbarkeit durchsetzte (Schiedsgericht). Insgesamt galt ihre Sicherheitspolitik im Kalten Krieg allgemein als klar prowestlich; Absprachen mit ihren Nachbarn für den Kriegsfall blieben jedoch, soweit bekannt, unverbindlich.

Nachdem der UNO-Beitritt vom Volk 1986 abgelehnt worden war, baute die Schweiz ihre Beiträge an UNO-Friedensoperationen aus (ab 1988 Namibia, ab 1990 Westsahara). Nach dem Ende des Kalten Kriegs verkleinerte sie schrittweise die Armee, den Hauptpfeiler ihrer Sicherheitspolitik, und verstärkte gleichzeitig ihre internationale Präsenz durch die Entsendung militärischer Kontingente 1996-2000 nach Bosnien-Herzegowina und seit 1999 nach Kosovo, durch die Gründung dreier sicherheitspolitischer Zentren in Genf und den Ausbau der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik an der ETH Zürich sowie durch den Beitritt 1995 zum Chemiewaffen-Übereinkommen, 1996 zur Nato-Partnerschaft für den Frieden, 1997 zur Minenverbotskonvention und 2002 zur UNO. Die schweizerische Sicherheitspolitik darf – vor allem dank der Existenz eines stabilen europäischen Umfelds seit dem Zweiten Weltkrieg – als erfolgreich bezeichnet werden.

Quellen und Literatur

  • Zürcher Beitr. zur Sicherheitspolitik und Konfliktforschung, 1987-
  • Bull. zur schweiz. Sicherheitspolitik, 1991-
  • G. Däniker, Schweiz. Selbstbehauptungs-Strategien im Kalten Krieg, 1996
  • M. Mantovani, Schweiz. Sicherheitspolitik im Kalten Krieg (1947-1963), 1999
  • K.R. Spillmann et al., Schweizer Sicherheitspolitik seit 1945, 2001
Weblinks

Zitiervorschlag

Mauro Mantovani: "Sicherheitspolitik", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 21.04.2016. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008679/2016-04-21/, konsultiert am 19.03.2024.