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Germanisches Recht

Das germanische Recht umfasst den gemeinsamen Bestand an Rechtsvorstellungen der germanischen Völker. Der Begriff germanisches Recht ist umstritten: Die wissenschaftlichen Bemühungen um das einheimische Recht und die Ablehnung der Vollrezeption des römischen Rechts setzten 1643 mit "De origine iuris Germanici" ein, dem Hauptwerk von Hermann Conring, dem Begründer der deutschen Rechtsgeschichte. Schwierigkeiten bereitete in der Folge die Abgrenzung zum sogenannten deutschen Recht, das einen Teilbereich des germanischen Rechts darstellt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in der Lehrbuchliteratur fast ausschliesslich vom deutschen Recht gesprochen. Im Nationalsozialismus trat dann der Begriff germanisches Recht wieder in den Vordergrund, weshalb er in der Nachkriegszeit in Deutschland abgelehnt wurde. Vom Inhalt her ist germanisches Recht jedoch genauer als deutsches Recht und zudem im französischen und italienischen Sprachgebrauch verbreitet.

Mit der Völkerwanderung ging die römische Herrschaft im Gebiet der Schweiz zu Ende. Ab dem 5. Jahrhundert siedelten die Burgunder in der Westschweiz, die Alemannen lebten in der heutigen Deutschschweiz und die Langobarden in der Südschweiz. Die Rechtsaufzeichnungen dieser Völker werden als germanische Stammesrechte bezeichnet. Sie flossen als leges barbarorum bis in die Neuzeit in das öffentliche und private Recht der Eidgenossenschaft ein. So weist das mittelalterliche Strafrecht der deutschen Schweiz sowohl in den allgemeinen Grundsätzen wie in der Behandlung der einzelnen Straftaten im Wesentlichen alemannischen Charakter auf. Auch familien-, erb- und sachenrechtliche Bestimmungen der Alemannenrechte fanden bis ins 17. Jahrhundert, teilweise sogar noch später, Eingang in die Rechtssetzung.

Das germanische Recht erfuhr grössere Umbildungen, nachdem die Völker sesshaft geworden waren. An die Stelle des Sippengefüges traten Wohn- und Siedlungsgemeinschaften, die dieses durch herrschaftliche und nachbarschaftliche bzw. genossenschaftliche Gemeinsamkeiten ersetzten. Mit der Entstehung zahlreicher Gerichtsherrschaften und Territorien im Hoch- und Spätmittelalter entstanden mehrere Rechtskreise, was zu einer Zersplitterung des Rechts führte. Die Offnungen, die Stadtrechte und Landrechte, die Land- und Talbücher sowie die Landfrieden, mit denen der Fehde Einhalt geboten werden sollte, sind jedoch bedeutende Quellen des germanischen Rechts. Die grossen Rechtsaufzeichnungen des Spätmittelalters, wie zum Beispiel der Schwabenspiegel aus dem 13. Jahrhundert, waren in der Hauptsache Hilfsmittel für die Praxis und brachten materiellrechtlich keine grundlegenden Veränderungen.

Das germanische Recht lebt in der Rechtsordnung der Gegenwart weiter. Nach Henri Legras soll die Schweiz vom 15. bis zum 20. Jahrhundert sogar die wichtigste Trägerin der germanischen Rechtsauffassung und der germanischen Rechtsinstitute geblieben sein. Allerdings dürfte der Einfluss des germanischen Rechts nicht immer richtig eingeschätzt worden sein. So weist Louis Carlen darauf hin, dass sich die Landsgemeinde aus der Gerichtsgemeinde entwickelte und nicht etwa eine Fortsetzung des germanischen Thing darstellte, das ein Mythos der "germanischen Urfreiheit" war. Allgemeine Freiheitsrechte sind erst als Produkt der Aufklärung entstanden.

Die verschiedenen Regelungen des schweizerischen Privatrechts waren sowohl in den Kantonen der West- wie auch der Deutschschweiz stark von germanischrechtlichen Einflüssen geprägt. Es erstaunt deshalb nicht, dass das Zivilgesetzbuch (ZGB) in bedeutenden Teilen vom germanischen Recht geprägt ist. Sein Redaktor, der Rechtshistoriker Eugen Huber, wollte der Bevölkerung der einzelnen Landesteile und Kantone die vertrauten Rechtsinstitute nach Möglichkeit erhalten, um keine Opposition gegen das neue Recht zu provozieren. Überall sollten die Eheleute auch in Zukunft den altgewohnten Güterstand behalten können, überall die üblichen Testamentsformen und Erbteilungsbräuche verwenden und ihre Grundstücke in der überlieferten Art der Verpfändung belassen können.

Zu den grundlegenden Instituten, die kein Vorbild im römischen Recht haben und deshalb aus dem germanischen Recht stammen oder diesem sonstwie zuzuordnen sind, gehören folgende: Der Ehe- und Erbvertrag, die Eigentümerdienstbarkeit, das Eigentümergrundpfand, die Reallast und beim gesetzlichen Erbrecht die Parentelen- oder Stammesordnung sowie vor allem das Publizitätsprinzip. Dieses besitzt eine weit über das Sachenrecht hinausgehende Geltung und hat seine vollendete Verwirklichung im Grundbuch gefunden. Ferner haben die mannigfaltigen Arten von juristischen Personen und von Gesellschaften und Gemeinschaften ohne juristische Persönlichkeit mit Gesamteigentum ihre Wurzeln im germanischen Recht. Ausserdem sind die Besitzesrechtsklagen zu erwähnen, die im ZGB in engerer Anlehnung an das Recht der germanischen Sachherrschaft (Gewere) ausgestaltet sind als etwa im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch. Auch dürfte die Trennung von Schuld und Haftung im ehelichen Güterrecht germanischen Ursprungs sein. Neben Eugen Huber hat vor allem Peter Liver diese Einflüsse im Einzelnen beschrieben und differenziert gewichtet. Im heutigen Strafrecht lassen sich nur noch wenige direkte Bezüge zum germanischen Recht erkennen. Beispiele dafür sind im materiellen Strafrecht etwa die Tatbestände von Haus- und Landfriedensbruch, ferner im Prozessrecht die Einrichtung der Geschworenengerichte. Die heute verbreiteten Freiheitsstrafen sind jedoch nicht auf germanisches Strafrecht zurückzuführen.

Bedeutende Vertreter der Geschichte des germanischen Rechts in der Schweiz waren Johann Caspar Bluntschli, der Schöpfer des Privatrechtlichen Gesetzbuches für den Kanton Zürich, Andreas Heusler mit seinem Werk "Institutionen des deutschen Privatrechts", Hans Fehr und Louis Carlen, die besonders das sinnfällige Recht (Rechtsaltertümer, Symbolik, rechtliche Volkskunde und Rechtssprache) gepflegt haben, und schliesslich ist auch Karl Siegfried Bader zu nennen, der das Fach an der Universität Zürich gut 20 Jahre lang betreut hat. Er schuf eine über die Landesgrenzen hinaus bekannte Forschungsstelle für Rechtsgeschichte, die von seinem Nachfolger Clausdieter Schott weiter ausgebaut und mittels einer Datenbank erschliessbar gemacht wurde.

Quellen und Literatur

  • H. Legras-Herm, Grundriss der schweiz. Rechtsgesch., 1935
  • P. Liver, Einleitung: Art. 1-10 ZGB, 31962
  • Zwei Jahrzehnte Rechtsgesch. an der Univ. Zürich, hg. von W. Müller, C. Soliva, 1975
  • L. Carlen, Rechtsgesch. der Schweiz, 31988
Weblinks
Kurzinformationen
Kontext Deutsches Recht

Zitiervorschlag

Urs Reber: "Germanisches Recht", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 05.12.2006. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008932/2006-12-05/, konsultiert am 01.11.2024.