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Rechtsquellen

Die Rechtswissenschaft versteht unter Rechtsquellen Nachrichten über das Recht. Man unterscheidet zwischen primären Rechtsquellen, die formelles Recht enthalten wie Gesetze und Rechtsbücher, und sekundären Rechtsquellen, die über das Recht Auskunft geben, aber selbst keine Rechtssätze sind wie etwa Chroniken. Überliefert sind Rechtsquellen mündlich oder schriftlich, durch gegenständliche Zeugnisse (Rechtsaltertümer) oder Handlungen (z.B. Fehde). Was im Rechtsleben der Schweiz unter formellem Recht zu verstehen ist, fasst Artikel 1 des Zivilgesetzbuchs (ZGB) zusammen, nämlich das Gesetz (wobei auch eine Verfassung als Gesetz zu betrachten ist) und das Gewohnheitsrecht. Auch Staatsverträge, internationale Konventionen und die zwischen Staaten übereinstimmend anerkannten Rechtsgrundsätze sind Rechtsquellen (Völkerrecht). Umstritten ist, ob Gerichtsurteile bzw. die Rechtsprechung der Gerichte (Gerichtswesen) und die Rechtslehre in der Rechtspraxis als primäre Rechtsquellen gelten sollen.

Die Richtstätte in der Nähe der Kapelle Sainte-Marguerite von Champsec östlich von Sitten. Planausschnitt, um 1780 (Staatsarchiv Wallis, Sitten, AV 107 Bonvin 314, S. 18).
Die Richtstätte in der Nähe der Kapelle Sainte-Marguerite von Champsec östlich von Sitten. Planausschnitt, um 1780 (Staatsarchiv Wallis, Sitten, AV 107 Bonvin 314, S. 18). […]

Die Geschichtswissenschaft, die nicht nur an den Grundlagen von Rechtssätzen, sondern auch an vergangener Rechtspraxis und Rechtswahrnehmung interessiert ist, meint mit Rechtsquellen in der Regel die Quellen, die ihr als Grundlage zur Erforschung der Rechtsgeschichte dienen. Dazu gehören in erster Linie die – zumeist in Archiven aufbewahrten, zum Teil nun auch in Quelleneditionen veröffentlichten – Aufzeichnungen von Rechtssätzen (Gesetzen, Rechtsbüchern), aber auch die sekundären Rechtsquellen

Römisches Vulgarrecht, Stammesrechte und die Rezeption des römischen Rechts

Fragmente, einzelne Begriffe und Regeln des römischen Rechts in der Form des in der westlichen Reichshälfte überlieferten Vulgarrechts haben sich möglicherweise in einzelnen Gebieten der heutigen Schweiz (z.B. im Churer Rheintal), in den Klöstern St. Gallen und Reichenau, in den Bischofsstädten Konstanz, Basel, Lausanne und Genf sowie im Wallis erhalten. Hierfür zeugen die – allerdings umstrittene – Lex Romana Curiensis, die Capitula Remedii, die St. Galler und die Reichenauer Formeln sowie der Abrogans (lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch des 8. Jahrhunderts).

Die Schweiz stand im Frühmittelalter unter dem Einfluss der germanischen Stammesrechte: Die Westschweiz wird dem Rechtskreis der Burgunderrechte zugeordnet, die östliche Schweiz dem der Alemannenrechte und die südliche Schweiz dem des langobardischen Rechts. Ob diese Rechte in der Schweiz allerdings je gegolten haben, lässt sich nicht nachweisen.

Der grössere Teil des römischen Rechts floss im Mittelalter aber erst nach der Wiederentdeckung des «Corpus iuris civilis» Justinians in lokale Rechte ein. Studenten rezipierten vom 12. bis 15. Jahrhundert römisches Recht an den damaligen Universitäten, insbesondere in Bologna, und verbanden es, zurück in der Schweiz, mit lokalem Recht. Auf sie gehen römische Rechtsfiguren wie zum Beispiel das Testament zurück. Zusammen mit dem römischen Recht wurde auch das kanonische Recht (Kirchenrecht) rezipiert, vor allem über die bischöflichen Offizialate in Chur, Konstanz, Basel, Lausanne, Sitten und Genf.

Mündliches und schriftliches Recht des Mittelalters und der frühen Neuzeit

Das Recht, das lokale wie auch das fremde, wurde in der mittelalterlichen Schweiz zunächst mündlich überliefert. Es war durch Übung oder Gewohnheit entstanden, und es wurde aus mündlicher Tradition im Gericht geschöpft, übertragen und aufrechterhalten. Der Gegensatz zwischen Gewohnheits- und Statutarrecht ist nicht absolut, da einerseits im Verlauf des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit das Gewohnheitsrecht aufgezeichnet wurde, andererseits gewohnheitsrechtliche Rechtsformen in das gesetzte Recht einflossen (z.B. Statuti).

Neben mündlich tradiertem Recht kannte das Mittelalter mit den Urkunden auch schriftliche Rechtsquellen. Vereinbarungen wie Schenkungen, Ehe- und Erbverträge sowie die damit verbundenen Renuntiationen wurden schriftlich festgehalten, ebenso Bündnisse (Gottesfrieden, Landfrieden, Burgrecht), vor allem die eidgenössischen und regionalen Bünde (Eidgenössisches Recht) sowie die städtischen Einungen. Verurkundet wurden ferner Rechtsverleihungen: Als sogenannte Freiheiten (lateinisch libertates, französisch franchises) werden vor allem vom Papst, König, von Fürsten, Bischöfen oder anderen Herrschaftsträgern an Kirchen, Klöster, Burgen, Territorialherren, Gemeinschaften, Städte, Dörfer oder Höfe verliehene Rechte bezeichnet. Eine besondere Art stellten die Handfesten dar, womit Bewidmungen mit dem Stadtrecht oder andere Rechtsverleihungen an Städte bezeichnet wurden. Der quellensprachliche Ausdruck Rechte (französisch droits, italienisch diritto und dirittura) verweist auf Eigentums- und Nutzungsrechte an Liegenschaften und Gegenständen (Urbare, Eigentum), Territorien und Gerichten (Grundherrschaft, Herrschaftsrechte) oder Kirchen (Patronatsrecht).

Mit der Verbreitung der Schriftlichkeit wurde das bisher weitgehend mündlich überlieferte Recht aufgezeichnet, zunächst oft von privaten Gelehrten (z.B. Schwabenspiegel). Unter Offnungen und Coutumes versteht man daher nicht nur das mündlich tradierte, lokale oder regionale Gewohnheitsrecht, sondern auch dessen verschriftlichte Form. Die Rechtsaufzeichnungen wurden von den Obrigkeiten gefördert. So entstanden in der frühen Neuzeit Landrechte und Gerichtsordnungen. Die Carolina galt in manchen Gebieten der Schweiz als subsidiäres Strafrecht. Rechtssätze wurden auch in den Abschieden festgehalten. In reformierten Gebieten wurden Sittengerichte eingerichtet und, sowohl in reformierten wie in katholischen Orten, Sittenmandate und Polizeiordnungen erlassen. Für die führenden schweizerischen Rechtsgelehrten des 18. Jahrhunderts, Johann Jacob Leu und Samuel Mutach, stand die obrigkeitliche Satzung, das positive Gesetz im Vordergrund; ihnen zufolge hatte das Gewohnheitsrecht nur noch die Lücken, welche die Satzung hinterliess, zu füllen. Diese Theorie entsprach jedoch nicht der damaligen Rechtswirklichkeit: Vielmehr galt das Gewohnheitsrecht voraussetzungslos subsidiär zum Satzungsrecht und entwickelte sich bis zum Ende des Ancien Régime sogar praeter legem weiter.

Verfassungen und Kodifikationen

Umschlagseite der Informationsbroschüre zur neuen Verfassung des Kantons Graubünden, die am 18. Mai und am 14. September 2003 vom Volk gutgeheissen wurde (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Umschlagseite der Informationsbroschüre zur neuen Verfassung des Kantons Graubünden, die am 18. Mai und am 14. September 2003 vom Volk gutgeheissen wurde (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Mit der helvetischen Verfassung vom 12. April 1798 erhielt die Schweiz ihre erste geschriebene Verfassung. 1803 wurde sie durch die Mediationsakte abgelöst. Nach dem Sturz Napoleons schlossen 1815 die 22 Kantone der Schweiz den Bundesvertrag ab. Doch erst nach dem Sonderbundskrieg gelang es, der Schweiz eine eigentliche Staatsverfassung in der Form der Bundesverfassung (BV) von 1848 zu geben. Parallel dazu setzte sich in den Kantonen die Einsicht durch, dass ein Rechtsstaat nur durch eine Verfassung legitimiert sein könne (Kantonales Recht). Gleichzeitig wurden auf kantonaler Ebene das Strafrecht, das Zivilrecht und das Prozessrecht in entsprechende Gesetze gekleidet. Mit diesen Kodifikationen kam das Legalitäts- und Rechtssicherheitsprinzip zum Durchbruch. Der im 19. Jahrhundert vorherrschende Gesetzespositivismus hatte auch zur Folge, dass das bisher massgebende Gewohnheitsrecht vom Gesetz verdrängt wurde. Für die Kodifikation des Zivilrechts wurden, seiner starken Stellung im damaligen Universitätsunterricht entsprechend, viele Figuren des römischen Rechts entlehnt, sodass man von einer weiteren römischrechtlichen Rezeptionswelle sprechen kann. Bedeutsam für das Zivilrecht war der Code Napoléon, der von manchen Kantonen mit einigen Anpassungen übernommen wurde und auch das schweizerische Zivilgesetzbuch von 1907 beeinflusste.

Sekundäre Rechtsquellen

Zu den sekundären Rechtsquellen zählen neben literarischen Quellen, Chroniken, Lebensbeschreibungen, Rechtssprichwörtern, Rechtsversen, Rechtsinschriften, Orts- und Flurnamen, Gebäuden, Gegenständen, Volksbräuchen, Volksschauspielen und Kinderspielen auch Rechtsinterpretationen oder -theorien wie das Naturrecht, bestimmten Auffassungen zufolge auch Gott oder die Bibel.

Rechtsquellen in der Geschichtswissenschaft

Den Historiker interessiert ausser dem historischen Rechtszustand und der historischen Rechtspraxis auch deren Entwicklung. Dabei ist nicht nur das normative Recht – Rechtsaufzeichnungen, gesetzgeberische Rechtssätze oder vor Rat und Gericht geschaffenes Urteilsrecht – von Bedeutung, sondern auch dessen Anwendung und konkrete Auswirkung. Es werden somit Geschichtsquellen, die sich in irgendeiner Form mit der Regelung des Alltags befassen, als Rechtsquellen betrachtet. Rechtsquellen dienen daher nicht nur als Grundlage für die Erforschung von Themen im Kontext der von der Rechtswissenschaft bestimmten Rechtsgeschichte. Vielmehr bezieht die Geschichtsforschung aus Rechtsquellen wichtige Erkenntnisse insgesamt zu Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Politik, Verwaltung und Kirche von der Antike bis in die neueste Zeit.

Rechtsquellen sind mehrheitlich schriftliche Aufzeichnungen des für die einzelnen Individuen wie für die Gesamtheit (Herrschaft, Staat, Stadt, Dorf) wichtigen Rechts zur Ordnung des Alltags. Sie haben öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Charakter: Zu den Rechtsquellen mit öffentlich-rechtlichem Charakter zählen Bündnisse und Verträge unter Herrschaften und Staaten, Herrschafts-, Stadt- und Landrechte, Lehen-, Verfassungs- und Strafrecht, Strafverfahrens- und Verwaltungsrecht. Sie wurden von einer höheren Instanz verliehen (so u.a. päpstliche Bullen, königliche und landesherrliche Privilegien, Handfesten) oder von einer Behörde gesetzt (Ratsgesetze, Stadt- und Landsatzungen, Gerichtssatzungen), erlassen (z.B. Ratserlasse, Markt-, Gewerbe- und Forstordnungen), diktiert (Mandate des Landesherrn, Dekrete im 19. Jahrhundert) oder beschlossen (z.B. Tagsatzungsbeschlüsse). Privatrechtliche Rechtsquellen umfassen Quellen wie Handänderungsverträge, Testamente, Ehe- und Erbabreden.

Rechtsquellen entstanden bei ungeregelten oder ungerechten Zuständen, die in Behörden, im Gericht oder in der Verwaltung zu ordnen waren. Sie decken einen Bereich ab, der vom Staatsvertrag bis auf die Ebene des dörflichen Wirtschafts- und Gesellschaftslebens reicht mit Weide-, Holzhau-, Wässerungs-, Grenz- und Wegrechten, mit Reglementen zu Armenpflege, Niederlassungs-, Steuer- und Bauwesen. Diese Rechtsquellen, zumal in der deutschrechtlich dominierten Deutschschweiz, enthalten einheimisches örtliches Recht, auf das römisch-gemeines Recht, wenn überhaupt, nur geringen Einfluss hatte. Anders war das geistlich-kanonische Recht stark römischrechtlich geprägt. Mit der Reformation wurde diese kirchlich-sittliche Ordnung durch Chor- und Ehegerichtssatzungen der reformierten Obrigkeiten ersetzt; Armen- und Schulwesen kamen unter weltliches Reglement.

Titelseiten eines Rechtsquellenbandes des Kantons Luzern, bearbeitet von Konrad Wanner, 2004 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Titelseiten eines Rechtsquellenbandes des Kantons Luzern, bearbeitet von Konrad Wanner, 2004 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).

Rechtsquellen sind wie andere Geschichtsquellen als Urkunden und Akten sowie in Büchern überliefert. Während Urkunden vom Mittelalter bis heute einen Rechtsgegenstand rechtsverbindlich regeln, überliefern Akten Aufzeichnungen, die auf Rechtsgeschäfte hinführen bzw. über deren Entstehung berichten. Rechtsaufzeichnungen in Büchern können wie Urkunden öffentliche Beweiskraft haben bzw. dienen der Rechts- und Besitzstandssicherung (z.B. Notariatsregister, Lehenbücher, Urbare), sichern als Abschriften (u.a. Dokumentenbücher, Rechtssammlungen) vor Verlust des Originals oder erklären den Verlauf von Rechtsgeschäften (z.B. Protokolle, Korrespondenzen). Die aus den Amtsverwaltungen hervorgegangenen Rechtsquellen werden in Archiven, vor allem Kantons-, Gemeinde- und Kirchenarchiven, gesammelt, bewahrt und für die Benutzung erschlossen.

Neben den zum Teil älteren städtischen und regionalen Urkundeneditionen und Quellenwerken entstand in der Schweiz 1894/1898 auf Initiative des Schweizerischen Juristenvereins die der Edition von Rechtsquellen vorbehaltene Reihe «Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen» (SSRQ). In dieser Reihe bildet jeder Kanton eine eigene Abteilung, die nach Stadtrechten und Rechten der Landschaft unterteilt ist; Kirchenrecht wird nicht erfasst. Bis 2011 erschienen 112 Bände oder Halbbände, schwergewichtig in den Kantonen Bern, Aargau, St. Gallen, Luzern und Graubünden. Wegen der engen Verflechtung des einheimischen Rechts mit der regionalen Wirtschaft und Gesellschaft werden die Editionen der SSRQ ausser von Rechtshistorikern auch von Regional- und Ortsgeschichtsforschern, Wirtschafts- und Sozialhistorikern, aber auch von Volkskundlern, Namen- und Sprachforschern benützt.

Quellen und Literatur

  • SSRQ, 1898-
  • ZSR 1852-82, NF 1882-
  • H. Rennefahrt, Grundzüge der bern. Rechtsgesch. 1, 1928 (Reg.)
  • C. Soliva, Das eidg. Stadt- und Landrecht des Zürcher Bürgermeisters Johann Jakob Leu, 1969
  • F. Elsener, Die Schweizer Rechtsschulen vom 16. bis zum 19. Jh., 1975
  • T. Bühler, Rechtsquellenlehre, 3 Bde., 1977-85
  • HRG 4, 335-337
  • A. Kölz, Neuere schweiz. Verfassungsgesch., 2 Bde., 1992-2004
  • T. Bühler, Schweiz. Rechtsquellen und Schweiz. Verfassungsgesch. nach einer Vorlesung von Ulrich Stutz (1868-1932), 2010
Weblinks

Zitiervorschlag

Theodor Bühler; Anne-Marie Dubler: "Rechtsquellen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.11.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008937/2012-11-27/, konsultiert am 16.04.2024.