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Stadtrechte

Stadtrechte sind die in den mittelalterlichen Städten (Stadt) geltenden verbrieften Rechte, die Städte gegen das grundherrlich-agrarische Land abgrenzten und sich von Landrechten unterschieden. Wie diese beruhten auch Stadtrechte auf Privilegien. Sie wuchsen als Rechtssammlungen über längere Zeit hinweg und wurden bis ins 19. Jahrhundert oft mehrmals neu redigiert. Vom 15. Jahrhundert an wurden die Stadtrechte von Hauptstädten zunehmend zu subsidiärem, dem Recht der Landstädte übergeordnetem Landesrecht.

Entstehung

Vom 12. Jahrhundert an entwickelten sich die mittelalterlichen Städte der heutigen Schweiz als von ihrem Umland abgehobene, auf Handel, Handwerk und Märkte spezialisierte eigene Rechtskreise. In diesem Prozess ist zu unterscheiden zwischen gewachsenen und gegründeten Städten (Städtegründung), Bischofs-, Reichs- und Dynastenstädten. Den meisten ist indes gemeinsam, dass Stadtrechte den Bürgern (Bürgertum) durch Stadtherren in Form von Privilegien verliehen wurden, sei es als Einzelrechte (z.B. Marktrecht) oder als umfassenderes Rechtspaket.

Bischofsstädte – alle ehemaligen römischen Siedlungen – gelangten am frühesten zu eigenem Recht, das ihnen der Bischof als Stadtherr meist erst auf Druck der Bürgerschaft verlieh, so Lausanne um 1144, Sitten 1217, Basel 1264. Genfs Stadtrecht von 1387 dürfte auf Rechte des 13. Jahrhunderts zurückgehen. Churs älteste Stadtrechte datieren von 1368 und 1376.

Desgleichen errangen aus grundherrlichen Siedlungen gewachsene Städte wie etwa Zürich (königliche Pfalz), St. Gallen, Schaffhausen und Luzern von ihren geistlichen oder weltlichen Stadtherren im 13. und 14. Jahrhundert erste städtische Rechte und Privilegien. Städte im Rang von Reichsstädten unterstanden dem König bzw. dem Reich direkt und empfingen von ihm als Stadtherrn städtische Privilegien, so Solothurn, königliche Pfalz und Versammlungsort von Reichstagen (1038-1052), als älteste Reichsstadt der Schweiz. In anderen Städten unterstellten sich die Bürger dem unmittelbaren Schutz des Reichs, um sich von der Oberherrschaft ihres Stadtherrn zu lösen oder um einer neuen Herrschaft zu entgehen, so St. Gallen (1180), Locarno (1186) und Schaffhausen (1190/1191), im 13. Jahrhundert Zürich, Basel und Bern sowie 1415 Luzern.

Die vielen, mehrheitlich kleinen Gründungs- und Dynastenstädte, von denen nur die Hälfte das Mittelalter überdauerte, verdankten ihre Entstehung der Territorialpolitik von Adelsfamilien zur Herrschaftssicherung. Zu den bedeutendsten Städtegründern zählten vor allem die Zähringer, Kyburger und Habsburger, ferner die Frohburger und Neuenburger in der Nordwestschweiz sowie in der Westschweiz die Savoyer. Zur Förderung statteten sie ihre Gründungen gleich zu Beginn mit Stadtrechten aus. Allen voran erteilten die Zähringer ihren Städten ihr aus Freiburg im Breisgau stammendes Stadtrecht (1120). Dieses «zähringische Stadtrecht» wurde in der Folge von anderen Stadtgründern übernommen und zum Vorbild unter anderem für die Stadtrechte der Kyburger-, Habsburger- und Savoyerstädte.

Die Stadtrechte beider Freiburg als Beispiel einer Stadtrechtsfamilie
Die Stadtrechte beider Freiburg als Beispiel einer Stadtrechtsfamilie […]

Gewisse Stadtrechte wurden ― teils direkt, teils abgewandelt ― auf spätere Gründungen übertragen und so zu Mutterrechten von ganzen Stadtrechtsfamilien. Es kam zu vielfältigen Filiationen. Weiteste Verbreitung fanden die Stadtrechte beider Freiburg vor allem in der westlichen Schweiz. Das Stadtrecht von Lausanne wurde mehreren bischöflichen Orten, unter anderem Avenches, verliehen. Jenes von Bern erhielten auch Laupen, Unterseen und Kirchberg (BE), jenes von Basel die Stadt Biel (1275), eine Version, die später auch Delsberg und Laufen bekamen. Neuenburgs Stadtrecht, 1214 von Besançon übernommen, ging auch an Nugerol, Boudry und Le Landeron. Das Konstanzer Stadtrecht (Richtebrief) wurde von Schaffhausen (1294) und St. Gallen (vor 1310) rezipiert, später auch von Wil (SG), Bischofszell, Arbon und Steckborn.

Die striktere savoyische Landesverwaltung schränkte die bürgerlichen Freiheiten der zähringischen Stadtrechte bei der Übertragung an Westschweizer Städte zum Teil ein. In der Folge wurde das Stadtrecht von Moudon durch Verleihung an andere Kleinstädte zum Mutterrecht einer ausgedehnten Stadtrechtsfamilie, die über die Waadt hinaus bis ins Greyerzerland reichte. Im Tessin übergab der Bischof von Como als Stadtherr seinen Städten Lugano, Locarno und Bellinzona eigene Stadtrechte, jedoch später als seinen lombardischen Städten. So erhielt Lugano ein der Stadt Como verwandtes Recht erst 1439. Die Stadtrechte von Locarno und Bellinzona sind nur in Fassungen des 16.-17. Jahrhunderts erhalten.

Inhalt und Überlieferung

Die Stadtrechte, bestehend aus den vier Elementen städtischer Friede, städtische Freiheit, spezifische Stadtrechte und Stadtverfassung, prägten den Charakter der mittelalterlichen Stadt. Der von den Bürgern beschworene Stadtfrieden ― Friedenssicherung auf Stadtboden, Schutz von Personen und Eigentum ― umfasste auch das Gerichtswesen und das Strafrecht. Die städtische Freiheit führte zur Aufhebung der Leibeigenschaft, da «Stadtluft» nach Jahr und Tag frei machte und der nachjagende Grundherr nach diesem Zeitpunkt den Zugriff auf seine Eigenleute verlor. Das spezifische Stadtrecht, abgestimmt auf die Bedürfnisse der Bürgerschaft, regelte privatrechtliche Aspekte wie Schuld- und Vollstreckungsrecht, Handels-, Verkehrs- und Marktrecht. Der gemeinsame Eid der Bürger bei der Beschwörung der Stadtrechte begründete die kommunale Struktur der mittelalterlichen Stadt und die Stadtverfassung.

Stadtrechte beinhalteten daher Verfassungsrecht (Ratsverfassung, Verfassung), Privatrecht, Prozessrecht und Strafrecht, und zwar in Form neuer Privilegien und/oder als Bestätigung von Rechtsgewohnheit. Je nach Stadttypus und Stadtrechtsfamilie war der Inhalt etwas anders gewichtet, doch stellten sie überall Rechtssammlungen in der Regel ohne Vollständigkeit und systematische Gliederung dar.

Stadtrechte galten ursprünglich innerhalb der Stadtmauern, später auch im Bezirk des Stadtgerichts (Bannmeile, in den Stadtkreuzen, im Burgernziel usw.), je nach Ort auch darüber hinaus für alle Stadtbürger und im Stadtgericht auch für Ausbürger. Sie alle waren trotz unterschiedlicher ständischer Herkunft vor dem Stadtrecht gleich. Die Stadtrechte unterschieden sich daher deutlich von den grundherrlich-agrarischen Rechtsverhältnissen auf dem Land, nicht zuletzt auch durch ihre frühere Schriftlichkeit.

Häufigste Überlieferungsform von Stadtrechten ist die besiegelte Pergamenturkunde, bezeichnet als Handfeste (ursprünglich durch Handauflegen bestätigt, lateinisch cartam manu firmare) oder Freiheitsbrief (auch kurz Freiheit[en], lateinisch libertates, französisch charte de franchises). Als wichtigste mittelalterlich-frühneuzeitliche Rechtstitel liessen Städte ihre Stadtrechtsurkunden bis ins 14. Jahrhundert, teils wiederholt, vom Stadtherrn bzw. vom König unter beachtlichem finanziellen Aufwand bestätigen. Selbst unbedeutende Städte nahmen diese Prozedur auf sich (z.B. Bestätigung von Burgdorfs Handfeste durch die Grafen von Kyburg 1300, 1322, 1326). Sie sind heute ihrem historischen Wert entsprechend grossenteils in der «Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen» ediert und somit der Wissenschaft und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Von der Handfeste zur Stadtsatzung und zum Landes- und Staatsrecht

Die Handfeste einer Stadt war die auch vom Reich anerkannte Grundlage ihres Rechts, doch verfügte nicht jede Stadt, die Stadtrechte ausübte, über eine solche. Zur Handfeste hinzu oder anstelle eines vom Stadtherrn erlassenen Stadtrechts kam das von der Gemeinde gesetzte und von der Stadtbürgerschaft beschworene Recht unter verschiedenen Bezeichnungen als geschworener Brief (u.a. Luzern 1252, Zürich 1336), Richtebrief (u.a. Zürich um 1218-1255, Schaffhausen 1291, St. Gallen vor 1310) oder Einung (u.a. Luzern 1328). Städtische Recht begründeten auch Rechtsauskünfte unter Städten, wie jene der Stadt Freiburg an Burgdorf bezüglich des Erb- und Eherechts ihrer Handfeste (1274).

Vom 14. Jahrhundert an ergänzten die städtischen Räte diese Grundrechte durch eigene Erlasse, die Stadtsatzungen, und durch Urteilsrecht, die den Veränderungen in Institutionen und Stadtverwaltung laufend Rechnung trugen. Die chronologischen, sachlich uneinheitlichen Gesetzessammlungen wurden bereits im 15. Jahrhundert in eine gewisse Ordnung gebracht und kodifiziert. Im 16. Jahrhundert erfolgte in allen grösseren Städten die Revision und Neuaufzeichnung der Stadtsatzungen, wobei diese hinsichtlich Terminologie und Systematik oft dem römisch-gemeinen Recht angepasst wurden, im Bestreben, überliefertes und römisches Recht zu verbinden. Diese Gesetzeswerke nannte man Stadtgerichtsordnung (Basel 1539), Gerichtssatzung (Bern 1539), Gerichtsbuch (Zürich 1553), Stadtbuch, Stadtrodel und ähnlich. Ihr Rechtsstoff umfasste in der Regel Gerichtsverfahren, Privatrecht (Personen-, Ehegüter-, Sachenrecht, Erbrecht), Bauordnungen, Strafrecht und Strafverfahren sowie allgemeines Staats- und Verwaltungsrecht, ferner Gesellschaftsrecht (Zunftrecht) usw. Alle diese Satzungswerke galten als blosse Ergänzung der unverändert bewahrten mittelalterlichen Handfeste.

Vom 15. bis 16. Jahrhundert an erfolgte mit dem Aufbau der Territorialherrschaft die Ausdehnung des Rechts der Hauptstädte auf die ihnen untergebenen Landstädte. Die neuen Landesherren anerkannten zwar die lokalen Stadtrechte, nahmen aber für sich das Aufsichts- und Bestätigungsrecht in Anspruch. Wo Stadtrechte fehlten, erteilten sie als Landesobrigkeiten neue (z.B. «Freiheit» für Wiedlisbach 1516). Sie versuchten nicht zuletzt die eigenständige Weiterentwicklung des landstädtischen Rechts zu unterbinden, wo es dem hauptstädtischen hätte zuwiderlaufen können, und engten daher landstädtische Kompetenzen auf den Wortlaut der garantierten Handfesten und Freiheiten und auf lokale Polizeiordnungen ein.

Im Lauf des 16. und 17. Jahrhunderts wurde hauptstädtisches Recht zunehmend zu subsidiärem Landesrecht, das direkt oder über obrigkeitliche Reglemente und Mandate in sonst autonome Stadt- und Landrechte der Untertanengebiete einging. Im Zug dieser Entwicklung gaben die Hauptstädte die Berufung auf ihre archaischen Handfesten auf und arbeiteten vielmehr ihre Stadtsatzungen zu eigenständigen, umfassenden, teils auch gedruckten Gesetzeswerken aus (Berns Gerichtssatzung 1615 gedruckt). Neuredaktionen des 18. Jahrhunderts, einige mit einer deutlichen Abkehr vom römischen Recht und der Rückkehr zu deutschrechtlichen Rechtsbegriffen, galten nunmehr grundsätzlich für das ganze Staatsgebiet (z.B. Zürichs «Stadt- und Landrecht» von 1715, Berns «Gerichtssatzung für die Stadt Bern und derselben deutschen Städte und Landschaften» von 1761, ohne die Waadt mit eigenem Landrecht). Damit hatte das Recht der Hauptstädte den Übergang zum Staatsrecht geschafft.

In der Helvetik verloren die Städte ihre Autonomie und wurden zu Verwaltungsbezirken degradiert, was 1803 zwar rückgängig gemacht wurde. Doch die Entwicklung lief in Richtung Rechtsangleichung zwischen Stadt und Land im Zeichen staatlicher Rechtsetzung und staatsbürgerlicher Gleichheit: Städte wie Dörfer wurden rechtlich als Gemeinden eingestuft. Die bevorrechteten Bürgergemeinden hatten nach 1830 und vollends ab 1874 ihre politischen Kompetenzen an die Einwohnergemeinden abzutreten.

Quellen und Literatur

  • SSRQ (diverse Tl. und Bde. zu Stadtrechten)
  • H. Rennefahrt, Grundzüge der bern. Rechtsgesch. 1-2, 1928-31
  • Bibl. der Städtegesch. der Schweiz, hg. von P. Guyer, 1960
  • L. Carlen, Rechtsgesch. der Schweiz, 1968 (31988)
  • HbSG, 166-170
  • J.-F. Poudret, Libertés et franchises dans les pays romands au Moyen Age, 1986
  • Bibl. der Stadtgesch. der Schweiz 1970-85, hg. von M. Körner, 1988
  • HRG 4, 1863-1880
  • G. Vismara et al., Ticino medievale, 1990, 158-163
  • G. Dilcher, Bürgerrecht und Stadtverfassung im europ. MA, 1996, 65-112
  • LexMA 8, 24-26
  • L. Mottu-Weber et al., Ordre et désordres, 2006
  • C. Doswald, B. Meier, Die Entstehung der Stadt Bremgarten, 2009
  • A.-M. Dubler, Die Thuner Handfeste von 1264, 2013
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler: "Stadtrechte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 11.10.2017. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008950/2017-10-11/, konsultiert am 19.03.2024.