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Freie

Das Problem jener Freien, die nicht dem Adel angehörten, ist in der Mittelalterforschung seit langem Gegenstand von Kontroversen. Bis um 1930 herrschte die stark von der Rechtsgeschichte geprägte Gemeinfreienlehre vor, wie sie in der Schweiz insbesondere Friedrich von Wyss und Karl Meyer vertraten. Sie sah in den germanischen Freien die Schicht freier bäuerlicher Landeigentümer, die zusammen mit dem Adel staatstragend wirkten. In ihnen glaubte man auch die Vorfahren der Eidgenossen gefunden zu haben. Dieses im Liberalismus des 19. Jahrhunderts verwurzelte Idealbild einer Demokratie wurde in der Folge durch verfassungs- und landesgeschichtliche Forschungen erschüttert und durch die Lehre von den sogenannten Königsfreien ersetzt. Unter diesem vom österreichischen Mediävisten Theodor Mayer geschaffenen Begriff versteht man früh- und hochmittelalterliche Militär- oder Rodungssiedler, die Königsland bebauten, über privilegierte Besitzrechte verfügten und im königlichen Aufgebot standen. Nichtadlige Freiheit wurde als Zustand des Geschütztseins im Rahmen einer Herrschaft, als «freie Unfreiheit» verstanden.

Ab den 1960er Jahren erfuhr auch diese Lehre zunehmend Kritik. Besonders von Schweizer Seite (Fritz Wernli, Peter Liver) wurde ihr (faschistische) Ideologiegebundenheit vorgeworfen. Die neuere sozialgeschichtliche Forschung (z.B. Roger Sablonier) hat vor allem auf die gesellschaftliche Vielschichtigkeit unter den Freien hingewiesen und zu einer Abschwächung der rechtsgeschichtlichen Kontroverse geführt.

Frühmittelalter

Die germanischen Stammesrechte gingen unter dem Einfluss des römischen Rechts von der Zweiteilung der Gesellschaft in Freie (liberi) und Unfreie (servi) aus (Leibeigenschaft). Dazwischen standen die sogenannten Minder- oder Halbfreien (liti, liberti, aldiones, mediocres usw.). Die Freien kennzeichnete das hohe Wergeld (Bussgeld), die Eigenschaft als Träger von Gericht und Recht («rechtsständische» Freiheit) und die Befugnis, über ihr Gut (Allod) zu verfügen.

Allerdings gab es grosse wirtschaftliche und politische Unterschiede in dieser Gruppe, die grosse Herren bis hin zu zinspflichtigen Personen umfasste. Im Pactus Alamannorum (erstes Drittel 7. Jh.) erfolgte eine Dreistufung des Freienstandes in primus, medianus und minofledis. Für die gesellschaftliche Entwicklung waren vor allem die Minderfreien von zentraler Bedeutung. Zu ihnen zählten sowohl Freigelassene, die weiterhin des Schutzes bedurften, wie auch abgestiegene Freie. Für das Gebiet der Schweiz nimmt man an, dass nebeneinander Gruppen von Freien bestanden, die zu unterschiedlichen Zeiten und aus verschiedenen Gründen entstanden waren. Der Anteil der Freien an der Bevölkerung ist angesichts der spärlichen Quellen kaum auszumachen. Aus nordostschweizerischen Quellen des 8.-10. Jahrhunderts lässt sich eine privilegierte Gruppe von mehr oder weniger begüterten freien Bauern ableiten. Ihre Präsenz dürfte sowohl auf die alemannische Besiedlung (6.-7. Jh.) wie auch zum Teil auf die fränkische Neuansiedlung (8. Jh.) zurückgehen. In karolingischer Zeit traten Freie in Kleinregionen der Ostschweiz nachweisbar als Gruppen (centena) mit eigenem Vorsteher bei Gericht und in Rechtsgeschäften auf.

Im Übergang zum Hochmittelalter verschwanden viele dieser Freien, sei es infolge Unterdrückung durch mächtige Adlige, sei es indem sie, um dieser zu entgehen, sich durch Schenkung ihres Besitzes und Rücknahme als zinspflichtiges Gut einem grossen, meist geistlichen Grundherrn wie etwa dem Abt von St. Gallen unterstellten.

Hoch- und Spätmittelalter

Mit der Herausbildung der ständischen Gesellschaft kam es zu weiteren Veränderungen. Während sich der hohe Adel als von Geburt edelfreier Stand abgrenzte, verwischten sich die Grenzen zwischen den darunter liegenden Kategorien insbesondere durch Aufstiege innerhalb der Ministerialität, durch das Aufkommen der städtischen Freiheiten, durch Freikäufe und durch die mit dem Landesausbau verbundenen rechtlichen Vorzugsstellungen (sogenannte Rodungsfreiheit). Entgegen der unhaltbaren Vorstellung einer bäuerlichen Urfreiheit innerhalb der Eidgenossenschaft muss von markanten sozialen Unterschieden und einer ausgeprägten Mobilität ausgegangen werden.

Vom 12. Jahrhundert an entwickelten sich die Städte als vom Land abgehobene Rechtskreise (Stadtrechte). Ihre Bürger genossen in lokal unterschiedlichem Ausmass persönliche Freiheiten. Unfreie Zuzüger kamen in der Regel, falls sie von ihrem Herrn nicht zurückgefordert wurden, nach Jahr und Tag in den Genuss dieser bürgerlichen Rechte («Stadtluft macht frei»). Eine verbesserte Stellung erreichten auf dem Land sesshafte Freie dadurch, dass Städte sie insbesondere im 14. Jahrhundert in grosser Zahl als Ausbürger aufnahmen, um den eigenen Einfluss auf das Umland auszudehnen. In der französischen Schweiz war dieses Phänomen seltener, dafür kam es hier im 15. Jahrhundert in weiten Teilen zur Ausdehnung städtischer Freiheiten auf die Landschaft (Landrechte).

Die Situation auf dem Land – mit zahlreichen Freien, die etwa im 1303 angelegten Habsburgischen Urbar oder in Offnungen des 14. und 15. Jahrhunderts belegt sind – erscheint im Spätmittelalter kompliziert und vielschichtig. Freie finden sich in nord- und ostschweizerischen Gebieten oder Personenverbänden, die als Freiämter, Freigerichte, Freivogteien und ähnliches bezeichnet wurden und über eine eigene Gerichts- oder Verwaltungsorganisation verfügten. In geistlichen Herrschaften begegnen sie uns als nur vermögensrechtlich gebundene «freie» Gotteshausleute, wie etwa die Freien von Laax, die sich 1434 freiwillig unter die Hoheit des Bischofs von Chur stellten. Eine Präsenz von Freien findet sich auch in der Westschweiz (z.B. Broyetal, Payerne, Yverdon) und im Tessin (v.a. Locarnese, Sottoceneri).

Mit dem Übergang zur Rentengrundherrschaft und der damit verbundenen Ablösung der Leibeigenschaft im 14. und 15. Jahrhundert nahm die Zahl der Freien insbesondere in den alpinen und voralpinen Gebieten zu. Wer sich loskaufte, wurde nun frei, nicht nur Freigelassener. Der Erwerb der persönlichen Freiheit war auch notwendige Voraussetzung, um dem Klerus angehören zu dürfen. Rechtliche und politische Handlungsfähigkeit wurde durch individuellen (v.a. in den weltlichen Herrschaften der Westschweiz), hauptsächlich aber durch kollektiven Freikauf erreicht (z.B. im Nordtessin um 1200, in der Grafschaft Greyerz im 14. Jh.). Auch grundherrliche Bodenrechte (z.B. Uri 1359/1426, Laax 1428, Saanen 1448) und sogar feudale Rechtstitel (Schwyz 1389) wurden durch Kauf abgelöst. Dieser Entfeudalisierungsprozess stand in Verbindung mit dem Aufbau kommunaler Strukturen und der Ausbildung eines dem städtischen Bürgerrecht vergleichbaren Landmannrechts. Fraglich ist allerdings, ob aus der Reichsunmittelbarkeit, wie sie Uri (1231), Schwyz (1240) und Unterwalden (1309) erreichten, auf grössere Gruppen von personenrechtlichen Freien geschlossen werden kann.

Neue Freiengruppen brachte im Alpenraum auch der herrschaftlich organisierte Landesausbau. Die Rodungssiedler erhielten in der Regel Güter in freier Erbleihe, das Abzugsrecht, die Befreiung vom Ehrschatz und eine besondere Gemeinde- und Gerichtsverfassung. Beispiele dafür sind die Rechtsstellungen der Walser im zentral- und ostschweizerischen Alpenraum sowie die Besiedlung der jurassischen Freiberge.

Neuzeit

Im Zug der Territorialisierung strebten weltliche und geistliche Herrschaften nach einer vereinheitlichten Rechtsstellung ihrer Untertanen. So erhob die Fürstabtei St. Gallen vom späten 15. Jahrhundert an den Anspruch auf eine einheitliche landesherrliche Gewalt über alle ihre Gotteshausleute, ob frei oder unfrei. Im Freiamt verschwand die besondere Stellung der Freien vermutlich ebenfalls im 15. Jahrhundert, nachdem die Stadt Zürich die Herrschaft übernommen hatte. Bern erreichte die rechtliche Angleichung durch Schaffung einer einheitlichen «freien» Untertanenschaft: Während der Untertaneneid von 1465 noch zwischen Freien, Leibeigenen und Hintersassen differenzierte, rückte die Eidformel von 1576 die personenrechtlichen Trennungen in den Hintergrund.

Demgegenüber versuchten die Untertanen, die Substanz ihrer Freiheiten in ländlichen Unruhen zu behaupten. Dem sozial herabwürdigenden Untertanenbegriff stellten sie, besonders zur Zeit der Reformation, die prinzipielle Ablehnung persönlicher Unfreiheit entgegen. So beanspruchten die Untertanen der Fürstabtei St. Gallen, auch wenn sie unfreier Herkunft waren, als «freie Gotteshausleute» bezeichnet zu werden.

Insgesamt verwischten sich die Unterschiede zwischen Freien und Leibeigenen in der frühen Neuzeit immer mehr. Mit der Aufhebung der Ständeordnung und der Feudallasten durch die Helvetik (1798) sowie mit der Durchsetzung des bürgerlichen Freiheitsbegriffs verlor die bevorzugte Stellung der Freien endgültig ihre Rechtsgrundlage.

Quellen und Literatur

  • J. Grimm, Weisthümer, 6 Bde., 1840-78 (insbes. Bde. 1, 4 und 5)
  • SSRQ
  • QW I/1-3
  • F. von Wyss, Abh. zur Gesch. des schweiz. öffentl. Rechts, 1892, 161-335
  • T. Mayer et al., Das Problem der Freiheit in der dt. und schweiz. Gesch., 1955
  • F. Wernli, Stud. zur ma. Verfassungsgesch., 6 H., 1959-72
  • P. Liver, Abh. zur schweiz. und bündner. Rechtsgesch., 1970
  • G. Wielich, Das Locarnese im Altertum und MA, 1970
  • HRG 1, 1228-1233, 1513-1516; 2, 1029-1032
  • W. Müller, «Freie Gotteshausleute», in ZRG GA 92, 1975, 89-104
  • Beitr. zum frühalemann. Recht, hg. von C. Schott, 1978
  • LexMA 1, 1605 f.; 4, 896-899; 5, 1327 f.
  • J.-F. Poudret, Libertés et franchises dans les pays romands au Moyen Age, 1986
  • C. Schott, «Freiheit und Libertas», in ZRG GA 104, 1987, 84-109
  • P. Blickle, «Friede und Verfassung», in Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft 1, 1990, 15-202, v.a. 170-194
  • R. Sablonier, «Innerschweizer Ges. im 14. Jh.», in Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft 2, 1990, 9-233 v.a. 14-62
  • G. Vismara et al., Ticino medievale, 1990
  • Die abendländ. Freiheit vom 10. zum 14. Jh., hg. von J. Fried, 1991
  • P. Bierbrauer, Freiheit und Gem. im Berner Oberland, 1300-1700, 1991
  • A. Paravicini Bagliani et al., Les pays romands au Moyen Age, 1997, 315-331
Weblinks

Zitiervorschlag

Michele Luminati: "Freie", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 18.03.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008968/2015-03-18/, konsultiert am 19.03.2024.