Die Leihe war eine vom Frühmittelalter bis ins 18. Jahrhundert bestehende rechtliche Institution von hoher wirtschaftlicher und sozialer Bedeutung, bei der ein Leihegeber einem Leihenehmer Grundstücke zur Nutzung gegen Entgelt (Grundzinsen) auf bestimmte Zeit überliess. Letzterem kam bei beschränktem dinglichem Recht am Leihegut eine dem Eigentümer ähnliche Stellung zu (lateinisch dominium utile), der Leihegeber blieb aber Eigentümer (dominium directum). Heute versteht man unter Leihe (Artikel 305-311 Obligationenrecht) die unentgeltliche Gebrauchsleihe einer Sache mit der Pflicht zur Rückgabe oder die entgeltliche Gebrauchsüberlassung einer Sache bei Pacht, Miete und Darlehen.
Leihe ist ein Fachbegriff der Rechtsgeschichte, der sich in der Literatur ab ca. 1900 für die historische bäuerliche, gewerbliche und städtische Leihe zur Abgrenzung vom ritterlich-feudalen Lehen (lateinisch feudum, beneficium) einbürgerte. Die Quellensprache kennt diese Unterscheidung nicht, sie bezeichnet solche Rechtsverhältnisse bäuerlicher, gewerblicher oder städtischer Natur grundsätzlich als "Lehen", und auch die vielen in diesem Zusammenhang überlieferten Komposita sind mit Lehen gebildet. In der Mundart der Deutschschweiz überlebte Lehen in Orts- und Flurnamen und zur Bezeichnung der bäuerlichen Pacht. In der Westschweiz galten die heute ausgestorbenen Begriffe tenure (oder tenure servile), im Ancien Régime insbesondere fief rural (Waadt) und censive oder censière (Jura, Neuenburg), in der Südschweiz manso.
Urbar der Benediktinerinnenabtei Hermetschwil, nach 1312 (Staatsarchiv Aargau, Aarau, AA/4531, S. 8).
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Die ländliche Bodenleihe hatte Wurzeln in der römisch-rechtlichen widerrufbaren Bittleihe (lateinisch precarium), entwickelte aber vom Frühmittelalter an in der Grundherrschaft neue Formen. Adelige und geistliche Grundherren überliessen einen Teil ihres Bodens – Grundstücke und ganze Höfe – Kolonen zur Bewirtschaftung. Diese arbeiteten, zum Teil auf Tagländern (lateinisch diurnales) sitzend, in der Eigenwirtschaft mit bzw. waren in den grundherrlichen Fronhof und in die Ordnung und Fürsorge der grundherrlichen Familia als Eigenleute eingebunden. Verbreitet waren kurz- bis mittelfristige Leiheformen, die als Hand- und Schupflehen bezeichnet, je nach Herrschaft und individueller Abmachung ein- bis mehrjährig waren. Seltener war die Leihe auf Lebenszeit (Leiblehen) oder auf zwei Generationen. Durch die beginnende Ablösung der Leibeigenschaft und die spätmittelalterliche Krise der Grundherrschaft mit Landflucht der Bauern gefördert (Krise des Spätmittelalters), setzte sich ab Ende des 13. Jahrhunderts eine neue Leiheform – die Erbleihe – durch, kraft der ein Bauer, ob Freier oder Eigenmann, den Leihehof seinen Nachkommen vererben konnte. Sie wurde noch im 16. Jahrhundert zur wichtigsten Leiheform, verdrängte aber die kurzfristigen nicht völlig.
Der Leihenehmer übernahm vom Grundherrn ein bestimmtes Leihegut – Liegenschaft (Einzelgrundstück, Hof, Alp, Wald) oder Realrecht (Fischenz, Fährrecht) – zu voller Nutzung. Leiheform, Laufzeit, Zins und Zinstermin, Zustand des Leihegutes bei Rückgabe wurden nach örtlichem Brauch und in persönlicher Absprache festgelegt. Über den Zins an Geld und Naturalien (Ackerfrüchte, Wein, Fleisch, Eier, Holz, Tuch usw.) partizipierte der Grundherr am Hofertrag, über Frondienste an der Mannsleistung. Zinsnachlässe galten bei Missernten, Naturkatastrophen und Krieg.
Befristete Hand- und Schupflehen waren kontrollier- und kündbar, insbesondere auch das im 16. Jahrhundert aufkommende pachtähnliche Zinslehen (das sogenannte widerzügige Lehen). Das Leihegut fiel nach Ablauf der vereinbarten Zeit an den Grundherrn zurück, der frei war, es selbst zu bewirtschaften oder neu zu verleihen. Oft aber blieben kurzfristige Hoflehen bei wiederholter Übertragung dem Bauern bis ans Lebensende. Im Streit um Leihegut galt das Lehenrecht des Grundherrn als Teil seines Hofrechts; zuständig war dessen Lehengericht (Keller-, Meier-, Frongericht) oder das örtliche Niedergericht. Vor Gericht hatte grundherrlicher Bodenzins Vorrang vor Kreditzins.
Das Leiherecht sah bei Misswirtschaft und Zinsrückstand oder beim Tod eines Bauern ohne Leiberben den Heimfall vor, d.h., der Hof fiel an den Herrn zurück. Bei Handänderungen um Leihegut galt der Lehenzug, das Näherrecht des Grundherrn, von Erben oder Nachbarn. In der rechtshistorischen Literatur, auch in derjenigen über das Lehnswesen, sind die Begriffe Lehen- und Mannfall (beim Tod des Lehenmanns fällt der Hof an den Herrn) sowie Herrenfall (beim Tod des Grundherrn verleiht der Nachfolger die Lehen neu) gebräuchlich.
Erbleihe
Autorin/Autor:
Anne-Marie Dubler
Mit dem Erblehen (kurz auch Erbe) kam in der Leihe ein neues Element auf: Vererbbarkeit förderte den sorgfältigen Umgang des Bauern mit dem Leihegut, über das er nun volle Sachherrschaft ausübte. Nach der allgemeinen Abmachung war der einmal vereinbarte Jahreszins zwar nicht ablösbar, aber auch nicht steigerbar. Die durch Arbeit und Investition erzielte Wertvermehrung kam als Mehrwert (Besserung) dem Bauern zu. Aus dem Mehrwert entstand ein Verkehrswert, der sich am Zustand des Hofs, an Erträgen und Zinsbelastung bemass. In der Praxis kaufte der Bauer den Hof, d.h. dessen Mehrwert, vom Vorgänger. Er leistete dann dem Grundherrn den Leheneid, ein Treue- und Sorgfaltsversprechen, und empfing von ihm den Hof zu Erblehen. Bei der Handänderung zahlte er den Ehrschatz und stellte je nach Ort Bürgen für Zins und Schäden oder eine Kaution (Einbund). Starb der Bauer, so verlangte der Herr von den Erben den Fall (Todfall), der überwiegend zur Reallast des Hofs geworden war.
Leiheverträge wurden ursprünglich nur im grundherrlichen Lehenrodel oder im Urbar (Güterverzeichnis) eingeschrieben. Mit fortschreitender Verschriftlichung ab dem 15. Jahrhundert drängten Herr und Bauer auf die Verurkundung im Lehenbrief, bei grösseren Objekten zusätzlich im Lehenrevers (Gegenvertrag des Leihenehmers). Vom 16. Jahrhundert an verlangten Landesherren die öffentliche Verurkundung durch Notare in der Kanzlei der Obrigkeit oder des Grundherrn.
Ursprünglich war die Veränderung der Bewirtschaftungsform oder des Leiheguts durch Teilung, Tausch, Verkauf, Verpfändung oder Belastung grundsätzlich verboten, da die Güterverwaltung von der Leiheeinheit des mittelalterlichen Hofs ausging. Dies liess sich bei Erblehen nicht mehr durchsetzen: Schon im Spätmittelalter belasteten Natural- und Geldzinse die Höfe, unter anderem für geistliche Stiftungen und ab dem 16. Jahrhundert immer mehr für Bodenkredite (Gült). Hofteilungen mussten ursprünglich vom Lehenherrn bewilligt werden, doch schon im 17. Jahrhundert war in den Ackerbaudörfern Realteilung unter Erben die Regel. Grundstücke wurden zunehmend frei verkauft, gekauft, getauscht, verpfändet und belastet. Die alten Hofeinheiten verschwanden und neue entstanden – kurz, der Bauer behandelte Leihegut wie Eigentum.
Damit war die grundherrliche Verwaltung im Ancien Régime trotz Verwaltungshilfen durch Urbare und periodische Urbarerneuerung schwierig geworden. Sie behalf sich ab dem 16. Jahrhundert mit der Tragerei (Gesamthaftung): Ein Trager (Einzinser), meist selbst Lehenbauer, trieb die Bodenzinse eines oder mehrerer Grundherren eines bestimmten Bezirks zu gesamthafter Ablieferung ein. Die von der bernischen Obrigkeit betriebene bezirksweise Zinsvereinheitlichung mit Zinsabtausch unter verschiedenen Herren (Bodenzins-Renovation) der 1660er und 1670er Jahre fand nirgends Nachahmung.
Insgesamt bewirkte die Erbleihe eine Besitzverschiebung zugunsten der Bauern: Im gleichen Mass, wie der Nutzungsanteil der Bauern (Mehrwert) stieg, sank jener der Eigentümer. Der Lehenherr war im 18. Jahrhundert rechtlich zwar noch Obereigentümer, ökonomisch reduzierte sich sein Anspruch aber auf den kapitalisierten Zins, Ehrschatz und Fall, wogegen dem Bauer der offizielle Verkehrswert des Hofs zustand. Der Bauer war praktisch zum Eigentümer, der Lehenherr zum Rentenbezüger geworden.
Die spätmittelalterliche Erbleihe hatte sich somit im 18. Jahrhundert durchwegs dem freien Grundeigentum genähert. Die Helvetik schaffte die Feudallasten 1798 ab und erklärte Bodenzinse für ablösbar (1867 generell gelöscht). Der Lehenbauer war damit auch offiziell Eigentümer seines Hofes.
Städtische und gewerbliche Leihe
Autorin/Autor:
Anne-Marie Dubler
Von der bäuerlichen unterschied sich die städtische Leihe: Das Nutzungsrecht an der dem Zuzüger zugewiesenen Bauparzelle führte nie zu persönlicher Abhängigkeit vom Stadtherrn. Der Beliehene zahlte einen Zins (Udel) für den Boden, aber das von ihm erbaute oder vom Vorgänger gekaufte Haus war sein Eigentum. Städtische Leihe war damit zinspflichtiges, vererb-, veräusser- und unterverleihbares Eigentum. Der Begriff der Miete bürgerte sich erst im 18. und 19. Jahrhundert ein.
Dagegen hatte die gewerbliche Leihe dieselben Wurzeln wie die bäuerliche, da sie das grundherrliche Gewerbe betraf, nämlich Ehaften wie Mühlen, Tavernen, Schmieden, Gerbereien, Färbereien, Sägereien, Ziegeleien, Metzgereien, Bäckereien, Trotten, Badestuben usw., deren Betreiber ursprünglich Angehörige der Familia des Grundherrn waren. Daher galten dieselben kurz- und längerfristigen, künd- und vererbbaren Leiheformen, allerdings mit gewissen Besonderheiten. Insbesondere Leiheverträge um Mühlen und Tavernen regelten über die Leihe hinaus den öffentlichen Auftrag von Dienstleistungsbetrieben – bei Mühlen den Mahlzwang und tarifierte Mahllöhne, bei Tavernen den Beherbergungszwang und Preistarife sowie die Denunziationspflicht im Fall delinquierender Gäste bzw. delinquierenden Gesindes. Ehaften- und Hofinhaber trugen ähnliche Risiken, vor allem die Verantwortung für Unterhalt und Erneuerung der Gebäude und technischen Einrichtungen. Vom 16. Jahrhundert an beanspruchten die Landesherren die Oberhoheit über die Ehaften, erteilten die Konzession und nahmen den Amtseid des Leheninhabers entgegen.
Viele Stadt- und Burgmühlen, ehemalige Mannlehen des Adels, waren vom 15. Jahrhundert an in der Hand von Städten und lehnsfähigen Familien, die sie durch Müller in Unterleihe oder Pacht (kurzfristig, kündbar, anpassbarer Geldzins) betreiben liessen. Bei städtischen Grossbetrieben wie Hammerschmieden und Papiermühlen, bei obrigkeitlichen Bergwerken, Glashütten und Pulvermühlen dominierte neben dem Regiebetrieb die Verpachtung an Privatunternehmer.
Andere Leiheformen
Autorin/Autor:
Anne-Marie Dubler
Die Kolonisten-Leihe entstand vom Frühmittelalter an in Rodungsgebieten und an Transitwegen, als Kolonisten teils mit militärischen Aufgaben zu Erbzinsrecht angesiedelt wurden. Ihre Höfe, sogenannte Freigüter, waren an kein Hofrecht gebunden, nicht zum Frondienst verpflichtet und teilbar. Ihre Genossenschaften mit besonderem Rechtsstand bildeten Freigerichte (Freiämter). Gehäuft erscheint die Kolonisten-Leihe bei St. Galler Besitz von der Ostschweiz bis in den Oberaargau.
Pachtähnliche Leiheformen entwickelten sich am öffentlichen Gut. Ab dem 16. Jahrhundert verliehen Dorfgemeinden ihren Bürgern gegen Geldzins zeitlich befristet Pflanz- und Torfland (Bünt-, Mooslehen), Obrigkeiten Neusiedlern gegen Zins Siedlungsplätze auf Allmenden (Allmend-, Schachenlehen).
Bei der pachtähnlichen Ämter-Leihe stand der Inhaber in einem öffentlichen Auftrag – ein Zolllehen ermächtigte zur Zollerhebung, ein Salzlehen zum Salinenbetrieb, ein Pfründerlehen zur Seelsorge im Kirchspiel, ein Zehntlehen zur Eintreibung des Zehnten. Zu dieser Kategorie gehörten die mittelalterlichen grundherrlichen Ämter, unter anderem von Meier und Keller, deren Verwaltungs- und Gerichtsaufgaben an die Hofleihe der Meier-, Keller- (Keln-), Fron- und Twinghöfe gebunden war.
Anne-Marie Dubler: "Leihe", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.02.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008974/2012-02-10/, konsultiert am 02.12.2023.