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Prozessrecht

Prozessrecht heisst dasjenige Recht, das die Regelung von Konflikten und Vergehen, die eine Gemeinschaft belasten, zum Inhalt hat (Kriminalität). Bereits in Tacitus' «Germania» sind Gerichte (Gerichtswesen) für die Konfliktbeilegung zuständig; die gewählten Hauptleute (principes) waren verpflichtet, Leute aus dem Volk beizuziehen. Nach dem salfränkischen Stammesrecht (um 500) leitete der Richter das gesamte Verfahren von der Vorladung bis zur Vollstreckung, während der Urteilsvorschlag den sogenannten Rachinbürgen oblag ― sieben aus der versammelten Gerichtsgemeinde als Urteiler gewählten Männern ― und der Zustimmung durch das Thing bedurfte, der Gesamtheit der Waffen tragenden Männer (Germanische Stammesrechte). Nach der Lex Alamannorum (um 720) musste der Richter vom Herzog mit Zustimmung des Volkes eingesetzt werden (Alemannenrechte). Die karolingische Gerichtsreform (um 770) übertrug die Urteilsfindung ständigen Schöffen; die Zustimmung des Things entfiel. Die gleichzeitig getroffene Einteilung in Niedergericht (causae minores) und Hoch- oder Blutgericht (causae maiores) führte zur Unterscheidung von Zivil- und Strafverfahren (Strafrecht).

Der Zivilprozess

Im germanischen Zivilprozess kamen Klagen vor das Niedergericht, die Schuldsachen, Eigen und Erbe (Liegenschaften), bewegliches Gut, aber auch geringfügige Vergehen betrafen. Neben diese Rechtspraxis trat ab dem 14. Jahrhundert das in Oberitalien entwickelte sogenannte gemeine, d.h. nicht nur partikulär geltende Recht, das spätrömische, kanonische und langobardisch-fränkische Rechtsgedanken vereinte. Dieses Recht wurde nicht durch Gesetze eingeführt. Anfänglich lernten es die Juristen beim Rechtsstudium kennen, etwa aus dem «Speculum iudiciale » des Wilhelm Durantis. Erst allmählich beeinflusste das gemeine Recht die Rechtsentwicklung oder fand als subsidiäres Recht Anerkennung.

In Deutschland wurde das gelehrte Recht nur für die oberen Gerichte ― Reichskammergericht, Hof- und Schiedsgerichte ― als verpflichtend angesehen; eine Weitergabe von oben nach unten erfolgte nur zögernd und unter weitgehender Aufrechterhaltung heimischen Rechtsbrauchs. Obschon die Beamtengerichte infolge der zunehmenden Anwendung materiellen römischen Rechts die Laiengerichte verdrängten, konnte sich der gemeine Prozess nicht flächendeckend durchsetzen. Er blieb ein Lehrgebäude, das Einfluss auf den praktischen Rechtsgang nahm, diesen jedoch nie gänzlich durchdrang.

In der Schweiz blieb das gemeine Recht lange marginal, weil hier auf Rechtsvereinheitlichung drängende Obergerichte fehlten. Noch 1796 sah David von Wyss (1763-1839) die Stärke der hiesigen Rechtspflege in der kurzen Dauer der Prozesse und in den geringen Kosten. Der gemeine Prozess, der auf Schriftlichkeit basierte und geheim durchgeführt wurde, galt als schwerfällig, besonders kostspielig und unpopulär. Aber durch den logischen Aufbau seines Verfahrens, dessen strenge Gliederung in Abschnitte und die Bindung des Richters an feste Regeln schaltete er jene Willkür aus, die man dem heimischen Recht zum Vorwurf machte. Der gemeine Prozess verwissenschaftlichte und rationalisierte das Recht. Auf die Dauer konnte sich auch die Schweiz seinem Einfluss nicht entziehen. Allerdings wurden nur einzelne gemeinrechtliche Verfahrensgrundsätze und Institute rezipiert, weil an den Laiengerichten festgehalten wurde.

Die schweizerischen Rechtsordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts regelten den gemeinen Prozess nur dürftig. Die Basler Gerichtsordnung von 1719 übernahm aus dem württembergischen Landrecht gemeines Prozessrecht, die Berner Gerichtssatzung von 1761 rezipierte die Prozesseinreden und die Eventualmaxime. Gemeinrechtliche Einflüsse finden wir auch im Solothurner Stadtrecht von 1614, in den «Loix du Pays de Vaud» von 1616 und in den städtischen St. Galler Gerichtsordnungen von 1726 und 1781. Erst nach dem Zusammenbruch der überlieferten Gerichtsorganisation 1798 und mit deren völligem Neuaufbau wurde das nur lückenhaft geregelte heimische Prozessrecht in der Praxis mit dem gemeinen Recht ergänzt oder im Zuge neuer Regelungen ― vor allem den Entwürfen zu einem helvetischen Gesetzbuch über den bürgerlichen Rechtsgang ― zur Geltung gebracht. Eine schweizerische Prozesslehre existierte nicht; die wenigen Werke schweizerischer Autoren zu diesem Gegenstand, etwa die «Principes sur la formalité civile-judiciaire du Pays de Vaud» (1777) von Samuel Porta oder das «Handbuch des Zivilprozesses» (1810) von Samuel Ludwig Schnell, fussten auf gemeinem Recht.

Das gemeine Prozessrecht gelangte in die kantonalen Zivilprozessordnungen des 19. Jahrhunderts und in das Gesetz von 1851 über den Bundes-Zivilprozess. Das französische Recht (Code Napoléon) beeinflusste über den «Code de procédure civile» von 1806 die Prozessrechte der Kantone Genf (1819), Tessin (1820), Bern (1821), Waadt (1824) und Wallis (1824). Nach französischem Vorbild wurden Friedensrichter, Gewerbegerichte, Parteiherrschaft und allgemeine Verfahrensgrundsätze wie Rechtskraft, Gerichtsstand des Sachzusammenhangs, Garantie- und Fälschungsklage geregelt. Weniger stark war später der Einfluss der deutschen (1877) und österreichischen (1895) Zivilprozessordnung, der sich unter anderem auf die Handelsgerichte erstreckte.

Die Vereinheitlichung des Zivilprozessrechts wurde 1872 in einer Volksabstimmung verworfen. Auch die 1961-1962 neu belebte Vereinheitlichungsdiskussion konnte dieses Ziel nicht verwirklichen. Der Bund hatte 1874 über die Artikel 59-61 der Bundesverfassung (BV) wichtige Fragen des interkantonalen Zivilprozessrechts geregelt und den Spielraum der Kantone eingeengt. Die BV 1999 beliess das Zivilprozessrecht in der Zuständigkeit der Kantone (Artikel 122). Es bestanden zu diesem Zeitpunkt 26 kantonale Zivilprozessordnungen (Kantonales Recht) und eine des Bundes (Bundesrecht). Ab 1999 trieb eine Kommission die Vereinheitlichung des Prozessrechts voran und auf 2011 trat eine neue Zivilprozessordnung in Kraft, die die bisherigen kantonalen Zivilprozessordnungen ersetzte.

Der Strafprozess

In germanischer Zeit hatte sich der von einem privaten Kläger Beschuldigte öffentlich vor Gericht zu verantworten. Das formstrenge Verfahren trug sakrale Züge: Dem Eid schien eine grössere Bedeutung zuzukommen als der Aufhellung des Sachverhalts. Ab dem 11. Jahrhundert vollzog sich ein Wandel, als das Kompositionensystem, d.h. die Wiedergutmachung von Verbrechen durch gesetzlich festgelegte Busszahlungen, unter dem Einfluss der Gottes- und Landfrieden von Todes- und Leibesstrafen abgelöst wurde und obrigkeitlich-staatliche Züge annahm.

Solange Zivil- und Strafprozess noch eine Einheit bildeten, bedurfte es auch im Strafprozess eines privaten Klägers, eines Verletzten, der die Wiedergutmachung des Schadens verlangte, und eines Beklagten, der sich zu verteidigen hatte. Das hochmittelalterliche Verfahren war mündlich, öffentlich und kontradiktorisch. Leugnete der Beklagte und konnte das Gericht nicht durch Zeugen, Urkunden oder Augenschein überzeugt werden, wurde der Beweis durch Eid oder Gottesurteil erbracht.

Ein Dominikaner wird im Inquisitionsverfahren während des Berner Jetzerhandels gefoltert. Holzschnitt von Urs Graf, 1509 (Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett).
Ein Dominikaner wird im Inquisitionsverfahren während des Berner Jetzerhandels gefoltert. Holzschnitt von Urs Graf, 1509 (Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett). […]

Das von Papst Innozenz III. um 1200 zur Disziplinierung fehlbarer Kleriker eingeführte und später für die Ketzerverfolgung angewandte Inquisitionsverfahren drang ― wenngleich nicht unwidersprochen ― auch in das weltliche Recht ein (Kirchenrecht). Da es um die Erforschung der Wahrheit ging, wurde der Anklageprozess zurückgedrängt und durch die Verfolgung von Amtes wegen ersetzt, die sogenannte Offizialmaxime. Die Funktionen von Richter und Kläger kamen in eine Hand. Der Anklageprozess war nur zulässig, wenn der Kläger das Risiko für die Beweisbarkeit seiner Beschuldigung übernahm. In Frankreich schuf die «Ordonnance criminelle» von 1670 eine selbstständige Anklagebehörde, wodurch das Anklageverfahren ― jedoch mit Offizialmaxime ― erhalten blieb.

Das Ziel, mit rationalen Mitteln die Wahrheit zu erforschen, verlangte eine Abkehr von Beweismitteln wie Eid und Gottesurteil. Das Geständnis rückte als Grundlage für das Urteil in den Vordergrund. Dabei kam es, zum Beispiel während der Hexenverfolgungen, oft zum Einsatz der Folter. Die aus dem italienischen Recht rezipierte Indizienlehre, die von der «Constitutio Criminalis Carolina» von 1532 als subsidiäres Recht eingeführt wurde, versuchte den Einsatz der Folter zu regulieren. In der Schweiz wurde die Carolina nur teilweise angenommen ― zum Beispiel in der Fürstabtei St. Gallen ―, obschon sie in hohem Ansehen stand und die kantonalen Strafgesetze beeinflusste. Neben der Folter kannte der Strafprozess auch die Verdachtsstrafe, d.h. eine weniger strenge Strafe bei nicht vollem Schulderweis, wie sie noch 1803 in Bern verhängt wurde, oder die zum Geständniszwang eingesetzten Lügenstrafen wie Haft bei Wasser und Brot und Rutenschläge.

In Bern wird ein Verurteilter im Trüllhäuschen (Trülli) ausgestellt, um 1780. Stich aus den Tableaux topographiques, pittoresques [...] de la Suisse (1780-1788) von Beat Fidel Zurlauben (Fotografie Bibliothèque de Genève, Archives A. & G. Zimmermann).
In Bern wird ein Verurteilter im Trüllhäuschen (Trülli) ausgestellt, um 1780. Stich aus den Tableaux topographiques, pittoresques [...] de la Suisse (1780-1788) von Beat Fidel Zurlauben (Fotografie Bibliothèque de Genève, Archives A. & G. Zimmermann). […]

Das Strafensystem wurde ab dem 17. Jahrhundert durch utilitaristisches Denken reformiert. An die Stelle der Todesstrafe traten Zwangsarbeiten wie Galeerenstrafe und Schellenwerk; für besserungsfähige Straftäter wurde das Zuchthaus geschaffen (Gefängnisse). Die Aufklärung führte im 18. Jahrhundert zu einer Humanisierung, die sich in der Abschaffung der Folter und in der Bekämpfung der Todesstrafe zeigte. Die Rezeption des französischen «Code pénal» von 1791 in der Helvetik schuf die Grundlagen für eine moderne Entwicklung von Straf- und Strafprozessrecht. Ab 1830 wurde unter dem Einfluss des Liberalismus, der den Schutz des Individuums vor der Allmacht des Staates propagierte, die Staatsanwaltschaft eingeführt und dem Beschuldigten vermehrt Rechte zu seiner Verteidigung eingeräumt. Dem gleichen Zweck dienten auch die in Frankreich nach englischem Vorbild eingeführten Schwurgerichte, die sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzten. Sie verbanden die Prinzipien der Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung mit der Loslösung von starren Beweisregeln.

Seit dem späten 19. Jahrhundert erzielt die Verbrechensbekämpfung durch technisch-naturwissenschaftliche Neuerungen wie Fotografie, Daktyloskopie, elektronische Datenverarbeitung und den Gentest sowie die internationale Zusammenarbeit grosse Fortschritte. Zugleich wurden die Rechte der Beschuldigten wie auch die der Geschädigten ausgebaut. Durch den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Menschenrechtskonvention 1974 haben die nach angelsächsischem Vorbild gestalteten Rechte zum Schutz des Beschuldigten ― etwa im Bereich des Haftrechts ― weiteren Auftrieb erfahren, vor allem aber auch durch die neue BV von 1999, welche die bisher ungeschriebenen Verfahrensgrundrechte erstmals ausdrücklich festhält (Menschenrechte). Die wichtigsten Regelungen sind unter anderem: Verbot der Rechtsverweigerung und -verzögerung (Artikel 29, Abschnitt 1), Anspruch auf rechtliches Gehör (Artikel 29, Abschnitt 2), Garantie des verfassungsmässigen Richters (Artikel 30, Abschnitt 1) und die Grundrechte des Angeschuldigten (Artikel 32). Die bereits 1937 und 1942 für den zivilen Bereich abgeschaffte Todesstrafe wurde 1992 auch im Militärstrafrecht verworfen. Wie im Zivil-, so war auch im Strafprozess eine Aufsplitterung festzustellen: Es existierten drei Strafprozessordnungen des Bundes (Bundesstrafprozess, Militärstrafprozess und Verwaltungsstrafverfahren) sowie 26 kantonale Ordnungen. Gleichzeitig mit der neuen Zivilprozessordnung traten 2011 neue Straf- und Jugendstrafprozessordnungen in Kraft, die die bisherigen kantonalen Ordnungen sowie den Bundesstrafprozess ersetzten.

Quellen und Literatur

  • A. Heusler, Der Zivilprozess der Schweiz, 1923 (Nachdr. 1970)
  • E. Schurter, Das Zivilprozessrecht der Schweiz, 2 Bde., 1924-33
  • M. Guldener, Über die Herkunft des schweiz. Zivilprozessrechtes, 1966
  • HRG 1, 1551-1563
  • P. Conod, Le code de procédure civile vaudois de 1824, 1987
  • T. Sutter, Auf dem Weg zur Rechtseinheit im schweiz. Zivilprozessrecht, 1998
  • R. Hauser, E. Schweri, Schweiz. Strafprozessrecht, 41999
  • G. Piquerez, Procédure pénale suisse, 2000
  • ZPO: Schweiz. Zivilprozessordnung, hg. von S.V. Berti, 2009
  • Schweiz. Zivilprozessordnung, hg. von K. Spühler et al., 2010
Weblinks

Zitiervorschlag

Karl Heinz Burmeister: "Prozessrecht", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.06.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009606/2012-06-19/, konsultiert am 20.09.2024.