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Verfassung

Der Begriff Verfassung beschreibt «die rechtliche Grundordnung des Staates». Die Verfassung enthält die ranghöchsten Rechtsnormen, welche für den Bestand des Gemeinwesens von zentraler Bedeutung sind und das Zusammenspiel der Staatsorgane regeln. Es spielt keine Rolle, ob diese Rechtsregeln in einem einzigen Erlass kodifiziert sind, in mehreren Urkunden teilweise normiert oder gar nicht schriftlich festgehalten werden.

Entstehung des westeuropäisch-amerikanischen Verfassungsbegriffs

Das moderne Verfassungsdenken entwickelte sich in England organisch aus der Königsherrschaft. Schon vor der Glorious Revolution von 1688, mit der sich die Bezeichung British Constitution als fester Begriff etablierte, trotzten Barone, Adel, Bischöfe und die freien Bürger dem Königtum Rechte ab, die immer wieder bestätigt wurden. Parallel dazu bildeten sich im Lauf der Jahrhunderte gewisse Verfahrensregeln für das Parlament und das Königshaus heraus. So entwickelten sich Anforderungen an die Ausübung staatlicher Herrschaft, ohne dass diese in einer Verfassungsurkunde kodifiziert worden wären.

Der moderne Konstitutionalismus kam in englischen Kolonien Nordamerikas zur vollen Entfaltung. Die Kolonisten knüpften nach dem erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg von 1776-1783 an die englische Tradition an und entwickelten diese in zwei Punkten weiter. Erstens legten die Kolonisten ihre Verfassungen jeweils schriftlich in einer Urkunde nieder. Zweitens führte der Bruch mit der englischen Krone direkt in die Volkssouveränität: Die geschriebene Verfassung musste vom Volk gebilligt werden, und die Staatsgewalt gründete letztlich auf dem Volk. So entstanden in den einzelnen Kolonien geschriebene Verfassungsurkunden, welche die Menschenrechte anerkannten und eine Staatsorganisation vorschrieben, welche direkt dem Schutz der Grundrechte dienen sollte. Dieses Verfassungsverständnis schlug sich in der amerikanischen Unionsverfassung von 1787 bzw. ihren Amendments I-X von 1789 nieder, und es wurde von der Französischen Revolution rezipiert. Der 16. Artikel der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 umschrieb die inhaltliche Anforderung an eine Verfassung auf allgemein bestimmende Weise: «Eine Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte gesichert, noch die Gewaltenteilung festgelegt ist, hat keine Verfassung».

Schweizerische Verfassungen

Das westeuropäisch-amerikanische Verfassungsverständnis verbreitete sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der Schweiz. Die von Frankreich aufoktroyierte Helvetische Verfassung von 1798, die Peter Ochs in Paris ausgearbeitet hatte, war die erste moderne schweizerische Verfassung. Sie war der französischen Direktorialverfassung von 1795 nachgebildet und wies einen Grundrechtskatalog und eine gewaltenteilige Staatsorganisation auf. Nach dem Zusammenbruch der Helvetischen Republik erhielten zwar alle 19 Orte neue Kantonsverfassungen, auf Bundesebene setzte dagegen eine gewisse Rückentwicklung ein. Die Mediationsakte von 1803 konnte nicht als wirkliche rechtsstaatliche Verfassung aufgefasst werden; entsprechendes gilt für den Bundesvertrag von 1815, der auch nicht als Bundesverfassung, sondern als Allianz der Kantone verstanden wurde. Das rechtsstaatliche Verfassungsdenken kam in der Regeneration ab 1830 zum Durchbruch ― in einem knappen Jahr entstanden elf neue Kantonsverfassungen ― und wurde mit der Bundesverfassung (BV) 1848 zum rechtlichen Standard: Infolge der Homogenitätsklausel des Artikels 5 BV 1848/1874 war dieser Verfassungsbegriff jetzt auch für die Kantone rechtsverbindlich. 1874 erfolgte die Totalrevision der BV; dabei beliess man allerdings viele Bestimmungen der Vorgängerin von 1848 unverändert. Die Kantonsverfassungen wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig total revidiert. Diese Bestrebungen kamen gegen Ende des Jahrhunderts fast ganz zum Erliegen. Erst um die Mitte der 1960er Jahre setzte in den Kantonen eine Welle erfolgreicher Verfassungserneuerung ein; bis 2012 wurden 21 Verfassungen revidiert. Auch die BV wurde nach einem über 30 Jahre dauernden Prozess 1999 total revidiert. Diese Revision beinhaltete die Aktualisierung und die Nachführung des geschriebenen und ungeschriebenen Verfassungsrechts in einer modernen Sprache und übersichtlichen Anordnung, verzichtete aber auf grössere Neuerungen.

Quellen und Literatur

  • W. Kägi, Die Verfassung als rechtl. Grundordnung des Staates, 1945
  • F. Renner, Der Verfassungsbegriff im staatsrechtl. Denken der Schweiz im 19. und 20. Jh., 1968
  • J.-F. Aubert, «La constitution, son contenu, son usage», in ZSR 2, 1991, 9-141
Weblinks

Zitiervorschlag

Andreas Kley: "Verfassung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 25.02.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009615/2013-02-25/, konsultiert am 19.03.2024.