Der Begriff Strafrecht bezeichnet die Gesamtheit aller Rechtssätze, die zum Schutze sozialer und individueller Rechtsgüter bestimmte verbotswidrige Verhaltensweisen (Straftaten) kriminalrechtlich sanktionieren (materielles Strafrecht). Das Strafprozessrecht regelt das zum Verhängen dieser Sanktionen führende Verfahren und die dafür zuständigen Behörden (formelles Strafrecht). Die Durchführung der Sanktionen wird durch das Strafvollzugsrecht normiert (Strafvollzug). Strafbar ist menschliches Tun oder Unterlassen nur dann, wenn es sich als tatbestandsmässig, rechtswidrig und schuldhaft erweist. Es gelten die Grundsätze des Schuldprinzips (nulla poena sine culpa), das Legalitätsprinzip, aus welchem sich auch das Analogie- und das Rückwirkungsverbot ableiten (nullum crimen sine lege). Die Grundsätze über strafbares Verhalten, dessen Geltungsbereich, die einzelnen Sanktionen sowie das Jugendstrafrecht sind im allgemeinen Teil des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) aufgeführt, während dessen besonderer Teil die einzelnen Straftatbestände (Verbotsnormen) festhält. Daneben statuieren zahlreiche Spezialgesetze wie zum Beispiel das Betäubungsmittel-, das Strassenverkehrs- oder das Zollgesetz weitere Straftatbestände, die zusammen das sogenannte Nebenstrafrecht bilden. Die Armeeangehörigen unterstehen einem eigenen Militärstrafrecht (Militärjustiz).
Mittelalter und frühe Neuzeit
Die historischen Wurzeln des Strafrechts liegen im Rachebedürfnis des durch individuelles Unrecht Verletzten und dessen Sippe. Magisch-sakrale Vorstellungen verlangten nach einem Bruch der Friedensordnung innerhalb eines Sippenverbands die Wiederherstellung derselben durch Fehde und Blutrache. Die im Frühmittelalter allmählich erstarkenden Herrschaftsträger der verschiedenen germanischen Völkerschaften versuchten, Rache und Fehde durch sogenannte Kompositionsordnungen einzudämmen (Germanische Stammesrechte), gemäss denen ein Rechtsbrecher ein Sühnegeld (compositio) an den Verletzten bzw. dessen Sippe sowie ein Friedensgeld (fredus) an den Herrschaftsträger zu entrichten hatte. Für das Gebiet der deutschen Schweiz war diesbezüglich die auch auf fränkische und kirchliche Einflüsse zurückgehende «Lex Alamannorum» (Alemannenrechte) aus dem 8. Jahrhundert von besonderer Bedeutung, aber auch das «Edictum Rothari» (Langobardisches Recht) und die «Lex Burgundionum» (Burgunderrechte), die schon früher in Teilen des Tessins bzw. in der Westschweiz zur Anwendung kamen, enthielten Wergeldkataloge.

Nach dem Auseinanderbrechen des Frankenreiches führte der Zerfall der staatlichen Ordnung erneut zu einer Zunahme des Fehdewesens. Ab dem 11. Jahrhundert stellten die von der Kirche erlassenen Gottesfrieden sowie die von den Inhabern der weltlichen Herrschaftsgewalt verordneten Landfrieden Rechtsbrüche unter Strafe. Auf Verstösse gegen das Friedensgebot stand die Todesstrafe. Erst im 13. Jahrhundert waren die Städte und die Landesherren stark genug, um gesetztes Recht mehr und mehr durchzusetzen und die Selbstjustiz einzuschränken. So statuierten Sachsen- und Schwabenspiegel Mitte des 13. Jahrhunderts, jedoch mit nur geringem Einfluss auf die eidgenössische Rechtsentwicklung, wesentliche Bestimmungen über die landesherrliche Ahndung von Rechtsverletzungen und das Verfahren. Der von den Waldstätten 1291 vereinbarte Bundesbrief hielt erste Bestimmungen strafrechtlicher Natur fest, die bei der Erneuerung des Bundes 1315, im Pfaffenbrief 1370 und im Sempacherbrief 1393 jeweils ergänzt wurden. Aus dem Spätmittelalter stammen zahlreiche eidgenössische Stadtrechte (z.B. Zürcher Richtebrief 1304; Luzerner Statut 1373; Basler Stadtgerichtsordnungen 1411 und 1457; Berner Gerichtssatzung 1539) und Landrechte (z.B. von Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Glarus, Appenzell, Gersau) mit ausführlichen strafrechtlichen Normen bezüglich der hohen und niederen Gerichtsbarkeit; neben diese treten vom 15. Jahrhundert an besondere Blut- und Malefizgerichtsordnungen (z.B. Bremgarten 1454, Aarau 1596, Luzern 1600). Die Ähnlichkeiten, die zwischen diesen Satzungen bestehen, beruhten auf der gemeinsamen alemannischen Rechtstradition sowie auf der weitgehenden Gleichartigkeit der zu regelnden Konflikte und Rechtsfälle. In der Westschweiz sind, wie zum Beispiel in der Freiburger Handfeste von 1249, burgundische Einflüsse zu erkennen. Im Waadtland statuierten die «Coutumes des quatre bonnes villes» 1577 strafrechtliche Normen. Die revidierte Version von 1616 war stark vom bernischen Satzungsrecht beeinflusst. Das Gewohnheitsrecht nahm überall einen breiten Stellenwert ein. Im Stanser Verkommnis von 1481 wurde der Friedbruch unter Vorbehalt des lokalen Rechts unter Strafe gestellt. Der ewige Reichslandfrieden Kaiser Maximilians I. bedeutete de iure das Ende der Fehde; mit ihm trat der lange Prozess, in dessen Verlauf der Staat das Gewaltmonopol und damit auch die Strafkompetenz an sich zog, in sein Endstadium. 1532 erliess Kaiser Karl V. mit der «Constitutio Criminalis Carolina» eine neuartige, nach wissenschaftlich-systematischen und nach Grundsätzen des gelehrten römischen Rechts verfasste Strafrechtssatzung von reichsweiter Geltung unter Vorbehalt einer salvatorischen Klausel, gemäss der das Strafgesetz des Landes demjenigen des Reiches voranging. In der Eidgenossenschaft gelangte die Carolina denn auch vorwiegend als subsidiäre Rechtsquelle ab dem 17. Jahrhundert zur Anwendung. Mittelalterliche Strafrechtsformen, insbesondere öffentliche und grausame Strafen an Haupt, Haut und Haar, sind bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts nachweisbar. Im Tessin und in der französischen Schweiz wurden neben den lokalen Gewohnheitsrechten auch lombardische und französische Strafsatzungen beigezogen. In den Jahrzehnten nach dem Erlass der Carolina ist in Europa eine gewisse Zurückhaltung in der Anwendung der harten spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Körper- und Todesstrafen zu beobachten. 1557 wurde in Bridewell in London das erste House of correction in Betrieb genommen; 1595 folgte in Amsterdam die Eröffnung der ersten Arbeitserziehungsanstalt auf dem Kontinent. Der überwiegende Ahndungs- und Eliminationscharakter des alten Strafrechts wich allmählich einem rationalen Zweckstrafrecht. Ab dem 17. Jahrhundert richteten verschiedene eidgenössische Städte sogenannte Schellenwerke ein, in denen Straftäter ihre Strafe in Form gemeinnütziger Arbeit verbüssten (Gefängnisse). Mit der Reformation ging in verschiedenen Ständen eine Verschärfung der Sittengesetzgebung einher.
Die erneute Verrohung des Strafrechts während und nach dem Dreissigjährigen Krieg (1618-1648), die auch für die Eidgenossenschaft belegt ist, wurde erst durch die Aufklärung überwunden. Auch die Hexenverfolgungen – die Prozesse häuften sich zwischen 1570 und 1650 – dauerten bis ins 18. Jahrhundert an (Hexenwesen). Bis zum Ende des Ancien Régime trug die Strafrechtspraxis in der Eidgenossenschaft somit mittelalterliche und frühneuzeitliche Züge. Soweit fortschrittliches Satzungsrecht bestand, gelangte es oft nicht oder unrichtig zur Anwendung. In der Regel wurde nach alter Sitte die Todesstrafe für die sogenannten Malefiztaten ausgesprochen, also für Delikte gegen Leib und Leben sowie für schwerere Eigentums- und Sittlichkeitsdelikte. Andere Verstösse ahndete man mit Körper- und Ehrenstrafen, oft verbunden mit einer Verbannung aus dem Gerichtsbezirk.

Ab der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts prüften Zürich und Bern die Schaffung einer zeitgemässen Kriminalsatzung. Die Berner Ökonomische Gesellschaft organisierte 1777 ein Preisausschreiben zur Förderung des modernen Strafrechts. 1783 wurde die «Abhandlung von der Criminalgesetzgebung» der sächsischen Juristen Hans Ernst von Globig und Johann Georg Huster prämiert. In der Westschweiz befassten sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts der Neuenburger Jacques-François Boyve, der Waadtländer François de Seigneux und der Genfer Jean Pierre Sartoris mit Reformen des Strafrechts im Sinn der Aufklärung, wie sie zum Beispiel Montesquieu postulierte. In der übrigen Eidgenossenschaft dominierten dagegen reaktionäre Tendenzen, wie etwa im Wirken Johann Rudolf von Waldkirchs in Basel, der die Anwendung der Folter zur Erzwingung des Geständnisses verteidigte.
19. und 20. Jahrhundert
Im «Peinlichen Gesetzbuch der helvetischen Republik», das 1799 verabschiedet wurde, fand das aufgeklärte Gedankengut des französischen Code pénal von 1791 seinen Niederschlag. Das Strafgesetz war zwar modern, aber bezüglich Gestaltung und Formulierung oft schwerfällig und der eidgenössischen Tradition weitgehend fremd. Es wurde nach dem Ende der Helvetik, unter anderem wegen der Kritik von Ludwig Meyer von Knonau, in den meisten Kantonen ausser Kraft gesetzt, blieb aber etwa im Berner Jura und in Solothurn noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts subsidiäre Rechtsquelle. Die Kantone verfassten jetzt mehrheitlich eigene Strafgesetzbücher, so zum Beispiel noch während der Mediation Zürich, Aargau, Solothurn und St. Gallen (Kodifikation). Auch der Tessin verfügte bereits ab 1816 über eine eigene Strafkodifikation. Das Strafrecht erhielt damit eine moderne rechtsstaatliche Grundlage (Legalitätsprinzip) und eine rationale Zwecksetzung (General- und Spezialprävention). Diese Entwicklung wurde im deutschsprachigen Gebiet der Schweiz massgeblich vom bayrischen Strafrechtler Paul Johann Anselm von Feuerbach, dessen Denken auf den liberalen Ideen Kants aufbaut, und dem Österreicher Franz Anton Felix von Zeiller beeinflusst. Die Reformideen Montesquieus und Cesare Beccarias fanden Eingang in die Strafgesetze der romanischen Kantone. Als Vorbild diente namentlich in der französischen Schweiz auch der napoleonische Code pénal von 1810. So entstand eine Vielfalt an kantonalen Strafrechten mit unterschiedlichen Systemen, Instanzen und Strafandrohungen. Einzig Appenzell Innerrhoden, Nidwalden und Uri verzichteten auf eigene Strafgesetzbücher.

Die Bundesverfassung von 1848 schuf die Todesstrafe für politische Delikte ab, diejenige von 1874 darüber hinaus auch die körperlichen Strafen. Der durch die kantonale Kodifikationstätigkeit bedingte Rechtspluralismus im jungen Bundesstaat weckte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Wunsch nach einem einheitlichen materiellen Strafrecht. Um 1890 betraute die Landesregierung Carl Stooss mit den ersten Vorarbeiten; 1898 wurde dem Bund in einer Teilrevision der Verfassung die Kompetenz zur Gesetzgebung im Bereich des Strafrechts erteilt. Bis 1916 berieten die Expertenkommissionen verschiedene Vorentwürfe; 1918 lag dann der Entwurf eines Schweizerischen StGB und die dazugehörige Botschaft des Bundesrates vor. Die kontroversen Auffassungen zwischen den Anhängern der Sühnegerichtsbarkeit und denjenigen der Besserungsstrafe sowie insbesondere auch zwischen den Gegnern und den Befürwortern der Todesstrafe führten zu heftigen Diskussionen in der schweizerischen Bevölkerung. Nach langen parlamentarischen Verhandlungen und einem ausgedehnten Differenzbereinigungsverfahren wurde das Schweizerische StGB 1937 von beiden Räten verabschiedet; die Vorlage sah die Verbannung der Todesstrafe aus dem zivilen Strafrecht vor. In der Referendumsabstimmung, welche die Befürworter der Todesstrafe erzwungen hatten, wurde das neue Gesetz 1938 mit einfachem Volksmehr gegen die Mehrheit der Stände angenommen. 1942, fast ein halbes Jahrhundert nach der Schaffung der Verfassungsgrundlage, trat das StGB schliesslich in Kraft.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhr das StGB zahlreiche Revisionen. Ab 1969 galten die neu gefassten Bestimmungen über die strafbaren Handlungen gegen die Ehre und den Geheim- oder Privatbereich. 1971 wurden der bedingte Strafvollzug für Freiheitsstrafen von bis zu 18 Monaten sowie die Neugestaltung sichernder und therapeutischer Massnahmen eingeführt. Mit diesen Anpassungen und der Teilrevision von 1974 wurden auch das Kinder- und Jugendstrafrecht aktualisiert und besondere Strafbestimmungen für junge Erwachsene geschaffen.
Da sich das kriminelle Verhalten rasch änderte (Kriminalität), wandelten sich nach 1970 auch die Anschauungen über die Funktion des Strafrechts. Der enorme Anstieg der Drogendelinquenz, die Internationalisierung der Wirtschaftskriminalität, der Missbrauch der elektronischen Zahlungsmittel und der Medien verlangten einerseits nach der gesetzmässigen Definition vieler neuer Delikte. Andererseits wurden Strafbestände, deren Strafwürdigkeit nicht mehr dem Zeitgeist entsprach bzw. die anderweitig strafrechtlich erfasst waren, aus dem StGB ausgeschieden. Seit der Einführung des Opferhilfegesetzes 1993 ist auch die Perspektive der Personen, die durch die Delikte geschädigt werden, ein konkretes Anliegen des Strafrechts.
1990 traten die aktualisierten Bestimmungen über die strafbaren Handlungen gegen Leib und Leben und gegen die Familie in Kraft. 1992 wurde der Tatbestand der Geldwäscherei eingeführt, um den häufigen Missbrauch des schweizerischen Finanzplatzes als Durchgangsstation für illegal erworbene Gelder zu bekämpfen. Im gleichen Jahr trug man auch den seit der Einführung des StGB wesentlich veränderten Sittlichkeitsvorstellungen Rechnung und revidierte das Sexualstrafrecht. Seit 1994 gelten neue Normen bezüglich der Einziehung von Gegenständen, die aus einer Strafttat resultieren, deren Vorbereitung dienten oder die Allgemeinheit gefährden, und seit 1995 solche bezüglich des Vermögensstrafrechts. Im Gang ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Totalrevision des trotz Anpassungen nicht mehr zeitgemässen allgemeinen Teils des StGB. 2004 wurde die sogenannte Verwahrungsinitiative angenommen, welche die lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter verlangt.
Quellen und Literatur
- H. Pfenninger, Das Strafrecht der Schweiz, 1890
- C. Stooss, Die Grundzüge des schweiz. Strafrechts, 2 Bde., 1892-93
- R. His, Das Strafrecht des dt. MA, 2 Bde., 1920-35
- P. Thormann, A. von Overbeck, Das Schweiz. Strafgesetzbuch, 3 Bde., 1938-43
- A. von Overbeck et al., Le nouveau droit pénal suisse, 1942
- E. Schmidt, Einführung in die Gesch. der dt. Strafrechtspflege, 31965 (Nachdr. 1983)
- H. Schultz, Einführung in den allg. Tl. des Strafrechts, 2 Bde., 41982
- L. Carlen, Rechtsgesch. der Schweiz, 31988
- W. Sellert, H. Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Gesch. der dt. Strafrechtspflege, 2 Bde., 1989-94
- S. Holenstein, Emil Zürcher (1850-1926), 1996.
Kontext | Strafgesetzbuch (StGB) |