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Sittengerichte

Eine Verhandlung vor dem Zürcher Ehegericht. Aquarellierte Federzeichnung mit Deckweiss von Heinrich Freudweiler, um 1790 (Kunsthaus Zürich).
Eine Verhandlung vor dem Zürcher Ehegericht. Aquarellierte Federzeichnung mit Deckweiss von Heinrich Freudweiler, um 1790 (Kunsthaus Zürich). […]

Sittengerichte entstanden mit der Reformation. Sie wurden von den Pfarrern und der weltlichen Obrigkeit als Nachfolger der vorreformatorischen bischöflichen Ehegerichte eingeführt (Offizialat). Bald übernahmen sie auch die Aufgabe, die Einhaltung der Sittenmandate und kirchenrechtliche Verordnungen (Kirchenrecht) durch die Kirchgenossen zu überwachen. Das Sittengericht wurde in der Deutschschweiz unterschiedlich bezeichnet: In Zürich, Schaffhausen, St. Gallen und Appenzell Ausserrhoden hiess es Ehegericht, in Basel Bann und in Bern Chorgericht. In der reformierten französischsprachigen Schweiz wurde es consistoire genannt. In den protestantischen Regionen des Reichs wurde der entsprechende Begriff Konsistorium verwendet, der aber ausser dem Sittengericht auch den Fürstenrat des Römischen Reichs, die Versammlung der Kardinäle in der katholischen Kirche oder verschiedene andere Gremien (z.B. später auch jüdische Konsistorien) bezeichnet.

Das erste Ehegericht wurde 1525 in Zürich eingerichtet. Es setzte sich aus zwei Pfarrern und je zwei Mitgliedern des Grossen und Kleinen Rats zusammen. Die starke Vertretung von Laien und die Tatsache, dass Berufungen an den Kleinen Rat zu richten waren, illustrieren die ausgeprägte Dominanz der weltlichen Obrigkeit über dieses Gerichtsgremium. Dem zwinglianischen Modell folgten 1526 St. Gallen, 1528 Bern, 1529 Basel und Schaffhausen sowie 1600 Appenzell Ausserrhoden. In Genf und in der Grafschaft Neuenburg versuchten die Pfarrer vergeblich, die Vormacht über die Sittengerichte zu erlangen. Sittengerichte entstanden zuerst in den Städten, dann aber auch in den ländlichen Kirchgemeinden. Auf dem Land hatten sie oft nur das Recht, zu mahnen und zu rügen, so zum Beispiel in Neuenburg und auf der Zürcher Landschaft, wo sie unter der Bezeichnung Stillstand figurierten. Sie durften zwar Ehegerichtssachen untersuchen, das richterliche Urteil wurde aber in der Stadt gefällt, in Bern etwa vom Oberchorgericht. Die Gerichtsbeisitzer, angesehene Männer aus dem Dorf, waren verpflichtet, die Kirchgenossen zu überwachen. In Zürich und in Appenzell Ausserrhoden wurde diese Aufgabe von den Ehegaumern wahrgenommen, in Neuenburg von eigentlichen Sittenaufsehern, den garde-vices. Die Kirchgenossen wurden überall zur Denunziation angehalten.

Die Menschen wurden aus zahlreichen Gründen vor das Sittengericht zitiert, unter anderem wegen Verstosses gegen die Sonntagsheiligung, wegen Trunksucht, Tanzens, Unzucht und Ehebruchs. Auch für Häresie und gelegentlich für Hexerei war das Sittengericht zuständig. Die Sittengerichtsordnungen sahen als Strafen Zurechtweisung, Ausschluss vom Abendmahl, Bussen, Gefängnis, Verbannung und die Todesstrafe vor. Im 18. Jahrhundert wurden die Strafen offenbar gemildert, weil die Bevölkerung nicht mehr bereit war, die ständige Überwachung und erniedrigende Strafen hinzunehmen. In Neuenburg wurde 1755 die öffentliche Busse abgeschafft, in Genf 1789 der Kniefall vor dem Sittengericht. Zudem erreichten die Personen von höherem Stand zu dieser Zeit recht leicht, dass ihre Fälle diskret behandelt wurden. 1798 wurden die unbeliebten Sittengerichte in der Regel abgeschafft, in der Mediation dann aber zum Teil wieder eingesetzt; in Bern zum Beispiel spielten sie bis zur Schaffung der Einwohnergemeinden 1831 eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sie beschäftigten sich wie schon im Ancien Régime vor allem mit den Armen. Die Revolutionen der Radikalen in Genf 1846 und der Républicains in Neuenburg 1848 bedeuteten auch in diesen Kantonen das Ende der Sittengerichte. Das 1849 eingesetzte Genfer Konsistorium ist lediglich ein Verwaltungsorgan und entspricht der Synode in anderen Kantonen. Appenzell Ausserrhoden trennte sich erst 1875, nach der Revision der Bundesverfassung 1874, von seinem Ehegericht.

Quellen und Literatur

  • Registres du Consistoire de Genève au temps de Calvin, hg. von R.M. Kingdon, 1-, 1996-
  • W. Köhler, Zürcher Ehegericht und Genfer Konsistorium, 2 Bde., 1932-42
  • Hist.NE 2, 287-297; 3, 231-234
  • R.E. Hofer, "Üppiges, unzüchtiges Lebwesen", 1993
  • H.R. Schmidt, Dorf und Religion, 1995
  • P. Rieder, «Scandales ou anticléricalisme», in Revue du Vieux Genève, 1998, 45-53
  • L. Hubler, «Le fonctionnement du consistoire paroissial de Vallorbe au XVIIIe siècle», in Le passé du présent, hg. von B. Studer, L. Tissot, 1999, 121-134
  • Sous l'œil du consistoire, hg. von D. Tosato-Rigo, N. Staremberg Goy, 2004
Weblinks

Zitiervorschlag

Lucienne Hubler: "Sittengerichte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 14.01.2010, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009622/2010-01-14/, konsultiert am 19.03.2024.