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Zugewandte Orte

Der Sammelbegriff zugewandte Orte, der in den Quellen ab 1403/1440 fassbar ist, bezeichnet in der schweizerischen Historiografie diejenigen Städte, Länder, geistlichen oder weltlichen Herrschaften, die mit den eidgenössischen Orten in einer engen, in der Regel unbefristeten (ewigen) vertraglichen Bindung standen und als zur Eidgenossenschaft gehörend galten, ohne aber voll berechtigte Orte zu sein.

Der Status des zugewandten Orts beinhaltete, bei allen Variationen im Einzelfall, gegenseitige, aber meist asymmetrische militärische Hilfspflichten, eine gewisse Koordination der Bündnispolitik im europäischen Mächtesystem (Mitunterzeichnung von Bündnissen und Allianzen) und freundnachbarliche Zusammenarbeit (Zölle, Handel, Justiz, Vermittlung in Konflikten).

In der frühen Neuzeit lassen sich zugewandte Orte mit und ohne Sitz an der politischen Versammlung der Eidgenossen, der Tagsatzung, unterscheiden. Zur ersten Gruppe gehörten Fürstabt und Stadt St. Gallen und Biel als relativ regelmässige und ab 1667 offiziell berechtigte sowie Graubünden, Wallis, Mülhausen und Rottweil als sporadische Versammlungsteilnehmer. Zur zweiten Gruppe zählten Stadt und Grafschaft Neuenburg, die Stadt Genf und der Fürstbischof von Basel.

Weitere Gebiete und Herrschaften waren im Spätmittelalter oder um 1500 gelegentlich als zugewandt oder verwandt bezeichnet worden, wie der Bischof von Konstanz, der Herzog von Württemberg, die Grafschaft Montbéliard, die Stadt Besançon und der Graf von Arona. Einige zugewandte Landschaften oder Städte wurden von einzelnen oder mehreren Orten integriert, wie Greyerz von Freiburg und Bern, Saanen und Payerne von Bern oder Bremgarten (AG) und Mellingen von den acht alten Orten.

Der Grad der (vertraglichen) Bindung eines zugewandten Orts mit Sitz an der Tagsatzung variierte sehr. Stand Biel nur mit Freiburg, Bern und Solothurn im Burgrecht, so waren die Städte Rottweil und Mülhausen mit allen dreizehn Orten verbündet – und gehören heute trotzdem als einzige nicht mehr zur Schweiz. Mit den sieben alten Orten waren der Graue Bund und der Gotteshausbund assoziiert, nur mit den reformierten Orten Zürich, Bern und Glarus der Zehngerichtenbund. Der Bischof von Sitten und die Zenden des Wallis waren einerseits mit Innerschweizer Orten, andererseits mit Bern liiert. Die Stadt St. Gallen war zugewandter Ort von sechs Orten, der Fürstabt zugewandter Ort und Schirmherrschaft von vier Orten. Zudem galt ein Teil seines Territoriums, die Landschaft Toggenburg, durch ihren 1436 mit Schwyz und Glarus geschlossenen Landrechtsvertrag selbst als Zugewandter Ort, allerdings ohne Sitz an der Tagsatzung.

Vertragliche Bindungen der zugewandten Orte zur Eidgenossenschaft
Vertragliche Bindungen der zugewandten Orte zur Eidgenossenschaft […]

Während Neuenburg und Genf vor allem als zugewandte Orte Berns galten, verfügte der Fürstbischof von Basel über ein – jedoch nur befristetes – Bündnis mit den katholischen Orten. Darüber, ob die zugewandten Orte zur Eidgenossenschaft gehörten oder nicht, waren sich die Zeitgenossen nicht einig. Auf Landkarten oder in Lexika des 17. und 18. Jahrhunderts wurden ausser Fürstabt und Stadt St. Gallen, Biel, Graubünden und das Wallis, nur manchmal auch Mülhausen, Neuenburg und Genf sowie zum Teil der südliche Teil des Fürstbistums Basel zur Eidgenossenschaft gerechnet. Die insgesamt unscharfen und umstrittenen Grenzziehungen spiegelten die staatsrechtlichen Verhältnisse: In internationalen Friedensverträgen wurde der Umfang der Eidgenossenschaft unterschiedlich definiert.

Der völkerrechtliche Schwebezustand der zugewandten Orte bot den Eidgenossen Handlungsspielraum. Je nach Situation wurde der eidgenössische Charakter der zugewandten Orte betont oder deren Autonomie. Auch boten die zugewandten Orte einen gewissen Schutz der Grenzen. So konnte die Eidgenossenschaft das militärische Potenzial der zugewandten Orte ausschöpfen, ohne die volle Verantwortung für deren Territorien tragen zu müssen.

Quellen und Literatur

  • EA 1-8
  • W. Oechsli, «Orte und Zugewandte», in JSG 13, 1888, 1-497
  • A. Meier, «Das erste Auftauchen des Ausdrucks "Zugewandte"», in ASG NF 11, 1910-13, 101 f.
  • G. Grosjean, 500 Jahre Schweizer Landkarten, 1971
  • Peyer, Verfassung
  • HbSG 2, 673-784, v.a. 752 f.
  • A. Würgler, Die Tagsatzung der Eidgenossen, 2013
Weblinks

Zitiervorschlag

Andreas Würgler: "Zugewandte Orte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 26.02.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009815/2014-02-26/, konsultiert am 19.03.2024.