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Geistliche Territorialherrschaften

Die auch als geistliche Staaten und geistliche Herrschaften bezeichneten geistlichen Territorialherrschaften sind weltliche Herrschaftsgebilde (Territorialherrschaften) unter der Landeshoheit kirchlicher Würdenträger, in der Regel von Bischöfen (Fürstbistümer, Hochstifter), Äbten und Äbtissinnen (Fürstabteien) oder Domherren. Um sich die Unterstützung des Episkopats und der Äbte zu sichern, verliehen die mittelalterlichen Könige den hohen Geistlichen Ländereien, Privilegien und weltliche Hoheitsrechte, nahmen aber Einfluss auf die Besetzung der kirchlichen Ämter. Höhepunkt dieser Politik war das ottonisch-salische Reichskirchensystem unter Kaiser Otto I. (912-973) und seinen Nachfolgern. Für die westliche Schweiz waren vor allem die Schenkungen des burgundischen Königs Rudolf III. an die Bischöfe von Basel (999), Sitten (999) und Lausanne (1011) bedeutend. Trotz Konflikten zwischen geistlicher und weltlicher Macht (Investiturstreit) hatten sich bis ins 14. Jahrhundert im Heiligen Römischen Reich rund 90 geistliche Territorialherrschaften herausgebildet. In der Reformation verschwanden sie in den reformierten und lutherischen Territorien durch Säkularisationen. Ein grosser Teil überlebte und bildete als «Germania Sacra» eines der Fundamente der Reichskirche. Charakteristisch für die geistlichen Territorialherrschaften war die Doppelstellung des Fürstbischofs bzw. des Fürstabts als Landesherr eines weltlichen, direkt dem Kaiser unterstellten Reichsstandes und gleichzeitig als geistlicher, dem Papst unterstellter Amtsträger. Als Reichsfürsten besassen sie Sitz und Stimme auf dem Reichstag. Wahlorgan des Bischofs und damit des Fürsten war in der Regel das Domkapitel; die Äbte und Äbtissinnen wurden durch die Konvente gewählt. Durch den Ausschluss bürgerlicher Kandidaten aus den Domkapiteln, zum Beispiel von Patriziersöhnen aus eidgenössischen Städten (in Basel und Konstanz), sicherte sich der Reichsadel die einflussreichen und lukrativen geistlichen Territorialherrschaften, wohingegen in den Fürstabteien meistens Söhne und Töchter bürgerlicher und bäuerlicher Herkunft die Fürstenwürde erlangen konnten. Die Französische Revolution und der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 brachten in Europa mit Ausnahme des Kirchenstaates das Ende der geistlichen Territorialherrschaften.

In der Schweiz bildeten sich seit dem 10. Jahrhundert unterschiedlich grosse geistliche Herrschaften der Bischöfe von Genf, Lausanne, Basel, Sitten, Chur, Konstanz, des Domkapitels Mailand sowie der Klöster St. Gallen, Disentis, Pfäfers, Engelberg und des Fraumünsters Zürich heraus. Mehrere reiche und sogar gefürstete Abteien und Stifte wie Kreuzlingen, Allerheiligen in Schaffhausen, Einsiedeln, Muri (AG), Saint-Maurice unter anderem konnten keine oder nur kurzfristig geistliche Territorialherrschaften aufbauen. Adelige Klostervögte, Städte, Talgemeinden und schliesslich die eidgenössischen Orte verhinderten oder behinderten den Aufbau von geistlichen Territorialherrschaften ― so Schwyz im Fall des Klosters Einsiedeln ― oder brachten einige geistliche Territorialherrschaften wieder zum Verschwinden, zum Beispiel der Graue Bund die Klosterherrschaft Disentis im 14./15. Jahrhundert oder die Walliser Zenden das Fürstbistum Sitten im 17. Jahrhundert. Die Bürger der Bischofs- und Klosterstädte (z.B. Genf, Lausanne, Basel, Konstanz, Chur, St. Gallen) entzogen sich noch im Spätmittelalter der Oberhoheit ihrer geistlichen Stadtherren. In der Reformation verschwanden die Fürstbistümer Genf und Lausanne; Chur und Basel erlitten grosse Gebietsverluste. Im 18. Jahrhundert gab es im Gebiet der heutigen Schweiz zwei geistliche Territorialherrschaften, die als geistliche Staaten bezeichnet werden können: die Fürstabtei St. Gallen (77'000 Einwohner) und das Fürstbistum Basel (64'000 Einwohner). Daneben bestanden drei geistliche Kleinstterritorien: Konstanz (beidseits des Bodensees), Chur (Hof Chur sowie verstreute Herrschaftsrechte im Domleschg und im Vinschgau) und das nicht gefürstete Engelberg. Ausserdem trugen mehrere geistliche Würdenträger zwar den Reichsfürstentitel, besassen aber keine Landeshoheit mehr, so die Bischöfe von Sitten und Lausanne, die Äbte von Pfäfers, Einsiedeln und Muri (ab 1701) sowie die Äbtissin von Schänis. Die Fürstbischöfe von Basel, Konstanz und Chur kamen ihren Reichspflichten auf dem Reichstag und in den Reichskreisen bis zur Helvetischen Revolution nach, welche 1798 die geistlichen Territorialherrschaften in der Schweiz beseitigte.

Quellen und Literatur

  • M. Jorio, Der Untergang des Fürstbistums Basel, 1982
  • P. Robinson, Die Fürstabtei St. Gallen und ihr Territorium 1463-1529, 1995
  • J.-D. Morerod, Genèse d'une principauté episcopale, 2000
Weblinks

Zitiervorschlag

Marco Jorio: "Geistliche Territorialherrschaften", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 12.06.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009921/2012-06-12/, konsultiert am 18.04.2024.