Staatsform, in welcher das «Volk» (griechisch demos), d.h. die Gesamtheit der vollberechtigten Bürger, nicht ein Einzelner oder eine kleine Gruppe Mächtiger, die Staatsgewalt innehat. In der Vormoderne war die Demokratie eine Ausnahmeerscheinung. Sie kam nur in kleinen Staatswesen vor; die Mitbestimmungsrechte waren auf die wehrfähigen Männer beschränkt (Wehrpflicht), wurden unmittelbar in Versammlungen (Landsgemeinde, Gerichtsgemeinde, Zenden, Gemeindeversammlungen) ausgeübt und galten als Privileg spezieller Gruppen. Erst die moderne Demokratie, die sich nach der Amerikanischen und Französischen Revolution durchzusetzen begann, gewährte die politischen Rechte als Ausfluss der Menschenrechte, deren Garantie eine der Hauptaufgaben des demokratischen Staates wurde. Für die Geschichte der Demokratie ist die Schweiz besonders interessant, weil es in ihrem Gebiet ins Spätmittelalter zurückreichende vormoderne Demokratien gab und weil sich die moderne liberale Demokratie mit der Gründung des Bundesstaates 1848 vergleichsweise früh durchsetzte und mit der Einführung direktdemokratischer Instrumente auf kantonaler und nationaler Ebene eine besondere Ausformung erhielt.
Demokratien in Spätmittelalter und früher Neuzeit
Begriff und Inhalte
Der Begriff Demokratie war in der politisch-sozialen Sprache der frühen Neuzeit durchaus bekannt, gerade auch im Kontext der Alten Eidgenossenschaft und der zugewandten Orte. So verwendete der französische Staatstheoretiker Jean Bodin diesen Begriff zur Charakterisierung der Verfassungen Graubündens und der eidgenössischen Landsgemeindeorte. Diese bezeichnete der Schaffhauser Bürgermeister Johann Jakob Ziegler 1653 als Staaten, in denen man – im Unterschied zu den Städteorten (Zunftstädte, patrizische Orte) – die «democratischen Formen sehr liebt». In einer bündnerischen Quelle aus dem Jahr 1618 wird die eigene Staatsform auf folgende lapidare Formel gebracht: «Die Form unseres Regiments ist democratisch». An derselben Stelle, die für die Verhältnisse in den Landsgemeindeorten ebenfalls zutrifft, wird der Begriff Demokratie auch inhaltlich bestimmt: Demokratie erscheint hier als ein Gegenbegriff zu Monarchie und Aristokratie. Im Unterschied zu diesen Staatsformen, in welchen die staatliche Souveränität durch den König bzw. eine geburtsständisch abgeschlossene Gruppe adliger (Adel) oder patrizischer Herren (Patriziat) ausgeübt wird, liegt die höchste Gewalt in der Demokratie beim gemeinen Mann, d.h. der Versammlung der waffenfähigen Männer, von der die Frauen ausgeschlossen sind. Diese regelmässig durchgeführten Versammlungen, in den Quellen Landsgemeinde oder einfach Gemeinde genannt, entschieden in offener Abstimmung über alle Angelegenheiten und Fragen, die in ihrer Summe nach zeitgenössischem wie teilweise auch nach heutigem Verständnis die staatliche Souveränität ausmachen: Wahl und Abwahl der Regierungs- und Verwaltungsleute, die Wahl und Abwahl der Richter und militärischen Befehlshaber, Erlass und Aufhebung von Gesetzen, Abschluss von Verträgen mit ausländischen Mächten, Erklärung von Krieg und Frieden sowie die Festsetzung von Steuern.
Verbreitung und historische Genese
Gemessen an den in der frühen Neuzeit vorherrschenden Verfassungen waren in diesem Sinn demokratische Staaten eine seltene Erscheinung und im Wesentlichen auf Gebiete der Schweiz, genauer auf Graubünden, die Walliser Zenden (Wallis) und die eidgenössischen Landsgemeindeorte Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Glarus, Zug, Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden beschränkt. In den eidgenössischen Städteorten dagegen wurde die Souveränität nicht durch die Bürgerversammlung, sondern durch den Kleinen Rat sowie den Grossen Rat der Stadt ausgeübt. Soziologisch gesehen bedeutete dies, dass in den Landsgemeindeorten die grosse Mehrheit der männlichen Bevölkerung an wichtigen politischen Entscheiden beteiligt war, in den Städten dagegen nur eine kleine Minderheit jener Bürger, die in den Räten sassen.
Trotz des geografischen Schwerpunkts demokratischer Verfassungen in der Schweiz gab es in den österreichischen und französischen Alpengebieten sowie in der abgelegenen Küstenregion von Dithmarschen Ansätze vergleichbarer Entwicklungen, die jedoch später durch die Bildung monarchischer bzw. fürstlicher Territorialstaaten abgebrochen wurden. Tatsächlich ist die historische Genese der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Demokratie Bestandteil einer breiteren, westeuropäischen Entwicklung, wie Peter Blickle und danach Randolph C. Head gezeigt haben. Die politischen Vorstellungen und Normen, welche die Institutionen der Demokratien anleiteten, wurzeln in kollektiven, weitgehend selbstverwalteten und eigenbestimmten Lebens- und Wirtschaftsformen der getreidebauenden Dorfgemeinden und viehwirtschaftlich orientierten alpinen Nutzungsgemeinden, die sich im ausgehenden Mittelalter in vielen Teilen Europas aus der feudalen Grundherrschaft entwickelten (Dorf, Gemeinde, Genossenschaft).
Aus den Beobachtungen zur Verbreitung und historischen Genese kann man folgern, dass offenbar periphere Gebiete wie die Alpen und Voralpen gute Voraussetzungen für die Weiterentwicklung dörflich-kommunaler Institutionen zu grossräumigen demokratisch verfassten Staaten boten. Die Bedingungen für den Getreidebau und damit auch für die Erhebung lagerfähiger Abgaben waren weniger günstig als im Mittelland, was dazu beitrug, dass der Alpen- und Voralpenraum im Mittelalter schwach feudalisiert wurde und der kommunalen Selbstverwaltung umso grösseren Raum liess.
Vormoderne und moderne Demokratiekonzepte
Im frühneuzeitlichen Europa bestand weitgehend der Konsens, dass die Monarchie und die Aristokratie die ideale Art einer Regierung darstellten. Dementsprechend stösst man in den Berichten ausländischer Reisender und Botschafter häufig auf negative Urteile über die politischen Verhältnisse, die in den Länderorten und in Graubünden herrschten. Sie galten gemeinhin als anarchisch, als Pöbelherrschaften. Diese Sehweise muss im Kontext der weithin anerkannten Dreiständelehre erklärt werden (ständische Gesellschaft). Danach war die Ausübung der souveränen Gewalt ausschliesslich Männern adliger Herkunft vorbehalten, während der gemeine Mann und der Klerus von politischen Entscheiden, welche die Souveränität berührten, per definitionem ausgeschlossen wurden. Aus diesem Grund sind die frühneuzeitlichen Demokratien Graubündens und der Landsgemeindeorte als ein «Gegenmodell» zum feudal geprägten Europa interpretiert worden (Peter Blickle). Eine derartige Einordnung unterschätzt jedoch die grundlegenden Unterschiede zwischen vormodernem und modernem Demokratiekonzept. Während die moderne Auffassung das Recht auf politische Partizipation naturrechtlich begründet und dieses Recht prinzipiell jedem Individuum kraft seiner natürlichen Eigenschaft als Mensch zubilligt (Naturrecht), betrachtet die frühneuzeitliche Auffassung die Demokratie als ein Privileg, als eine besondere Freiheit, die ein bestimmtes politisches Kollektiv durch eigene Leistungen erworben hat und an seine Mitglieder weitervererbt.
In Graubünden und in der Alten Eidgenossenschaft kursierten in der frühen Neuzeit strukturell ähnlich aufgebaute Geschichten, die den Erwerb dieses Privilegs erzählten, historisch erklärten und rechtfertigten. Entweder wurde die demokratische Freiheit als Ausfluss feudaler Herrschafts- und Rechtstitel erklärt, welche die Väter vor langer Zeit durch Kauf oder Schenkung legal von adligen Herren erlangt hätten, oder als Ergebnis einer historischen Befreiungstat dargestellt. Weil die feudale Herrschaft – so der Grundgedanke sowohl der eidgenössischen wie der bündnerischen Version der Befreiungstradition – zur Tyrannei entartet sei, habe der gemeine Mann die Adligen mit Waffengewalt vertrieben, als Kollektiv deren Rechtsnachfolge angetreten und sich fortan selbst verwaltet und regiert. Mit diesem vormodernen Konzept der Demokratie als historischem Privileg lässt sich zugleich der aus moderner Sicht widersprüchliche Sachverhalt erklären, dass die demokratischen Rechte in der frühen Neuzeit nicht prinzipiell allen Menschen zugestanden wurden und es möglich war, dass die Demokratien Graubündens und der Landsgemeindeorte eigene Untertanen beherrschten, die man genau gleich wie Könige oder adlige Feudalherren regierte und wirtschaftlich ausnutzte. Die vormoderne Auffassung von der demokratischen Freiheit als historischem Privileg schloss stets die Freiheit ein, anderen Menschen dieses Privileg zu verwehren, wenn nötig mit Waffengewalt, wie das im Tessin (Livineraufstand) oder im Veltlin durch die Landsgemeindeorte bzw. die Bündner Gemeinden verschiedentlich geschehen ist (ländliche Unruhen). So betrachtet stellte die vormoderne Demokratie kein Gegenmodell zum feudalen Europa dar: Sie war mit dem vorherrschenden ständisch-feudalen Modell von Politik kompatibel und wesensverwandt. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass sich die moderne schweizerische Demokratie keineswegs organisch aus der vormodernen Demokratie entwickelte, sondern ein Ergebnis von tiefgreifenden Brüchen und Umwälzungen, von Revolution und Bürgerkrieg war, welche die Schweiz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte.
Funktionsweise
Mit Blick auf das konkrete Funktionieren der Demokratien in Graubünden und in den Landsgemeindeorten ist ein Punkt besonders hervorzuheben. So wenig wie in modernen Demokratien bedeutete die formale demokratische Gleichheit in den Landsgemeindeorten, dass alle Bürger dieselben politischen Partizipationsmöglichkeiten besassen. Die wichtigen und einträglichen Regierungs-, Verwaltungs- und Richterämter wurden regelmässig durch Mitglieder vornehmer und exklusiver Familien, die sogenannten Häupter besetzt, die sich zwar nicht rechtlich, aber in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht sehr deutlich vom gemeinen Mann abhoben. Da die Wahl in diese Stellungen jedoch von demokratischen Mehrheitsentscheiden abhing, waren diese Häupterfamilien darauf angewiesen, ihre politische Stellung durch den Aufbau einer eigenen Klientel abzusichern und in offenen Entscheidungssituationen aktiv auf Stimmenkauf zu gehen (Klientelismus). Vor Wahlen verteilten die kandidierenden Häupter reichlich Geschenke in Form von Geld, Kleidern, Essen und Trinken unter die Stimmberechtigten. Und die Einsetzung in ein bestimmtes Amt hing zumeist von der Bestimmung ab, dass der Gewählte hohe Geldsummen direkt in die Staatskasse ablieferte – also eine eigentliche Form des Ämterkaufs.
Allgemeiner gesagt gehörte es zur politischen Kultur der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Demokratie, dass politische Entscheide stets von einem intensiven und breit gestreuten Austausch materieller Werte begleitet und beeinflusst waren. Diese «Käuflichkeit» der Landleute und der Landsgemeinde ist auch schon als eine «Degeneration» dieser Institution und als ein Zeichen ihres politischen Bedeutungsverlustes interpretiert worden. Man muss darin aber gerade umgekehrt ein Zeichen des grossen politischen Gewichts dieses Gremiums und der Stimme jedes einzelnen Landmannes sehen, dessen zentrale Stellung im Staat bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im Grundsatz unangefochten blieb. Denn niemand und auch nicht die Häupterfamilien der Alten Eidgenossenschaft gaben Geld aus, wenn sie dafür keinen reellen Gegenwert, in diesem Fall in Form von dringend benötigter politischer Unterstützung, erhielten.
19. und 20. Jahrhundert
Die Entwicklung der Demokratie im 19. und 20. Jahrhundert wird hier unter dem doppelten Aspekt des anhaltenden Ausbaus, also der Demokratisierung, und des temporären Abbaus betrachtet. Mit dem Zusammenbruch der auf einer statischen Ordnungsvorstellung beruhenden Alten Eidgenossenschaft setzte eine Dynamisierung der Gesellschaft ein, die sich auch auf die Organisation der staatlichen Herrschaft auswirkte und von dieser wiederum auf die Gesellschaft zurückwirkte. Dieser Prozess nährte sich aus dem Wechselspiel von politischen Ideen und sozioökonomischen Voraussetzungen, er entwickelte sich ungleichzeitig auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Regionen, oft im Gleichschritt mit transnationalen Entwicklungen, selten gegenläufig zu den Verhältnissen im Ausland. Man kann die gesamte Entwicklung als fortschreitende Perfektionierung des Prinzips der kollektiven Selbstbestimmung lesen; immer wieder sind aber auch reaktive Verwerfungen und Rückschritte zu beobachten. Gerade die direktdemokratischen Instrumente, auf denen gemäss der Volksmeinung die Überlegenheit und die Leistungsfähigkeit der schweizerischen Demokratie gründen, erwiesen sich vielfach als Hemmschuh für Innovationen.
Erster Durchbruch und zwei Rückschläge
Die grosse Demokratisierungsphase begann mit der Helvetischen Revolution, die sozusagen über Nacht die Rechtsungleichheiten aufhob und alle Untertanen, die zuvor in den meisten eidgenössischen Orten Objekte der Herrschaft einer kleinen Oligarchie gewesen waren, zu Bürgern, zu gleichgestellten Subjekten der Herrschaft über sich selber machte. Das demokratische Gleichheitsprinzip galt nur mit zwei typischen und noch längere Zeit bestehenden Einschränkungen, denn Frauen und Juden (Judentum) waren von ihm ausgeschlossen. Die in der Helvetik errungene Demokratisierung war Folge des ökonomischen und gesellschaftlichen Aufstiegs eines Teils der Landbevölkerung, des französischen, ein wenig auch des amerikanischen Vorbilds und des von Frankreich ausgehenden militärischen Drucks. Die aufoktroyierte Demokratie war zentralstaatlicher Natur, d.h. sie begrenzte die Mitwirkung des Bürgers auf die Wahl nationaler Repräsentanten und liess keine Selbstregierung auf kantonaler und kommunaler Ebene zu (Helvetische Republik). Immerhin machte sie die Durchführung der ersten gesamtschweizerischen Verfassungsabstimmung im April 1802 möglich. Die zur Wahrnehmung demokratischer Rechte unerlässliche Meinungs- und Pressefreiheit (Presse) war, wie die Verbannung von Kritikern und die Beanstandung von einzelnen Blättern zeigen, nicht gewährleistet (Zensur).
Mit der Mediationsakte erhielten die 19 eidgenössischen Orte 1803 erstmals eigene Kantonsverfassungen, die allerdings die demokratische Mitwirkung durch die (Wieder-)Einführung des Zensuswahlrechts sowie der Lebenslänglichkeit der Ratsherrenstellen beschnitten und die Landbevölkerung in den vormals patrizischen Orten wieder zurückstellten. Nach dieser kleinen brachte die grosse Restauration von 1815 wie im übrigen Europa in allen Punkten eine weitere Restriktion, ohne aber die vorrevolutionären Untertanenverhältnisse wiederherzustellen. Allerdings wurde die wirtschaftliche Freiheit (Handels- und Gewerbefreiheit) als wichtige Komplementärseite der Demokratie durch das Zunftregime vielerorts erneut eingeengt (Zünfte).
Zwei Durchbrüche und eine Gegenbewegung
Wie die Lesezirkel und gemeinnützigen Gesellschaften des ausgehenden 18. Jahrhunderts bildeten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die zahlreichen Vereine jeglicher Art (Kunstvereine, Studentenverbindungen, Gesellschaften der Turnbewegung, des Schützen- und des Chorwesens) kleine Zonen demokratischer Kultur, in denen vermehrt Kritik an der autoritären Herrschaftsordnung geäussert wurde. In den Vereinen wurde mit den statutarischen Versammlungen und Vereinsämtern in privatem Rahmen Demokratie eingeübt. Zudem stellte die von konservativen Kräften geförderte Modernisierung (z.B. im Verkehrswesen) über den Wandel des gesellschaftlichen Fundaments in wachsendem Mass das konservative System zusätzlich in Frage. All diese Faktoren begünstigten eine Entwicklung, in deren Verlauf aus Bürgern nach und nach Stimmbürger werden sollten, welche sich mit einer gewissen Kontinuität um Probleme der öffentlichen Ordnung kümmerten.
Die wachsenden Spannungen mündeten in die beiden Demokratisierungsschübe von 1830 und 1848. Von der Pariser Juli-Revolution ging 1830 eine beschleunigende Wirkung aus, nachdem kurz zuvor im Tessin eine liberale Revolution stattgefunden hatte (Liberalismus). Die Hauptleistung dieses Schubes bestand in der partiellen Durchsetzung der Gleichstellung aller männlichen Bürger und damit des Prinzips One man – one vote, was in einzelnen Kantonen wegen der damit verbundenen Minorisierung der vormals privilegierten Stadtbevölkerung zu Konflikten führte (Regeneration). Wichtig war auch das Öffentlichkeitsprinzip, das den Bürgern gestattete, die Verhandlungen der Parlamente zu verfolgen (Öffentlichkeit).
Im Falle des Schubes von 1848 war die liberale Schweiz der gesamteuropäischen Bewegung voraus, wofür jeweils verschiedene Gründe genannt werden. Eine zweifelhafte Erklärung verweist auf die alte demokratische Tradition des Landes. Dem ist entgegenzuhalten, dass die oligarchischen, ständischen und statischen Verhältnisse keine günstige Voraussetzung für die moderne, egalitäre, unitarische und dynamische Demokratie bildeten und dass sie wie dynastische Ordnungen erst überwunden werden mussten. Es war vielmehr die föderalistische Parzellierung der Schweiz, welche legale Transformationen oder Staatsstreiche in einzelnen Kantonen möglich machte und schliesslich auf nationaler Ebene eine knappe Mehrheit entstehen liess, die der grossen konservativen Minderheit die liberale Ordnung mit und nach dem Sonderbundskrieg gewaltsam aufzwingen konnte. Liberale Vorreiter waren vor allem die Kantone mit sozioökonomisch günstigen Voraussetzungen, d.h. dem Bestehen eines auf weitere Entfaltung drängenden gehobenen Mittelstands. Ohne aus dem Grad der Industrialisierung eine zwingende Determinante zu machen, muss in diesbezüglich weiter fortgeschrittenen Verhältnissen doch eine der Ursachen für die vergleichsweise frühe Etablierung einer liberalen Ordnung gesehen werden. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung war sodann, dass die Armee – anders als in monarchischen Gesellschaften – alles in allem nicht ein gegen innen gerichtetes Repressionsinstrument der Verteidiger der alten Ordnung, sondern eher ein Instrument der Reformkräfte war, bis hin zu den auch mit offiziellem Kriegsmaterial ausgerüsteten Freischarenzügen. Der Volkscharakter der Milizordnung wirkte sich zum Vorteil der liberalen Bewegung aus.
Nach dem Schub von 1830 setzten (z.B. in Luzern und in Zürich) konservative Gegenbewegungen ein, welche den Liberalen das politische Terrain zum Teil wieder abnahmen, dies sogar mit Hilfe des liberalen Instrumentariums (Berufung auf die Volkssouveränität, Petitionen, Volksversammlungen und allgemeines Wahlrecht). Dies zeigt, dass auch die moderne Demokratie verschiedene Gesichter hatte und der Glaube an die Unaufhaltsamkeit des liberalen Fortschritts eine Illusion war. Die Demokratisierung der Schweiz lebte von auswärtiger, vor allem französischer und amerikanischer Inspiration und verdankte ihre Umsetzung zu einem wichtigen Teil der Mitwirkung deutscher Emigranten. Für die eine Variante stehen der Luzerner Ignaz Paul Vital Troxler und der Lausanner Benjamin Constant, die während ihrer Studienaufenthalte in Jena und Wien bzw. in Erlangen, Edinburgh und Paris das liberale Gedankengut kennengelernt hatten, für die andere der deutsche Emigrant Ludwig Snell, der sich seit 1827 in der Schweiz aufhielt, an den Universitäten Zürich und Bern lehrte und ein Handbuch des schweizerischen Staatsrechts verfasste. Die Schweiz profitierte in hohem Masse von der Verfolgung der deutschen Liberalen. Sie konnte den Emigranten in ihren neu gegründeten Universitäten und Lehrerseminarien ein attraktives Betätigungsfeld anbieten und kam so auf günstigem Weg zu einer Auffrischung und Stärkung ihrer eigenen Bildungselite (Eliten). Politische Energie schöpfte der schweizerische Liberalismus vor allem aus der Mittelklasse, zu der das junge Unternehmertum, aber auch Ärzte, selbstständige Juristen und Wirte in den ehemaligen Stadtkantonen zu zählen sind. Mittelständisch waren auch die Angehörigen der ländlichen Oberschicht, die auf vollständige Gleichstellung mit dem städtischen Patriziat drangen. Prototypen waren diesbezüglich der erste Bundespräsident Jonas Furrer, Sohn eines Winterthurer Schlossermeisters, oder der aus Olten stammende und zuvor als Gewürzkrämer tätige Bundesrat Josef Munzinger.
Solche Gemässigte und Praktiker – und nicht die Radikalen, welche die Revolution ebenfalls mittrugen – dominierten 1847/1848 das liberale Lager und steuerten die Ereignisse. Sie befürworteten nicht zuletzt darum eine kleinere Revolution, um die Gefahr einer grösseren zu bannen und einigermassen ordentlich von oben abzuwickeln, was andernfalls ungeordnet von unten hätte hingenommen werden müssen. Zunächst wurde in den 1840er Jahren ideologisch mobilisiert und über die Diffamierung des katholisch-konservativen Gegners eine liberal-radikale Aktionsgemeinschaft hergestellt, dann gab man Raum für etwas Bewegung mit dem Ziel, schnell wieder zur Ruhe zu kommen. Nach dem Sieg im Sonderbundskrieg liess das liberale Regime rasch einen Teil seiner ohnehin nicht sehr ausgeprägten Revolutionsattitüde fallen, und die Bereitschaft, deutschen Revolutionären Asyl zu gewähren, ging stark zurück. Der Schub von 1848 brachte dem Einzelnen auch nur insofern mehr Demokratie, als er die Errungenschaften von 1830 im Prinzip auf die ganze Schweiz ausdehnte. Dabei ging es aber um das ganze Paket der liberalen Prinzipien: Um Volkssouveränität, Konstitutionalismus (mit Revisionsklausel und Verfassungsreferendum), Gewaltentrennung und Rechtsgleichheit, aber auch um Handels- und Gewerbefreiheit und Garantie des Privateigentums. Die Bundes- bzw. Gründungsväter blieben im Grossen und Ganzen im Rahmen der repräsentativen Demokratie, den die Regenerationsverfassungen vorgaben; sie schufen keine direkten Mitwirkungsrechte und keinen unitarischen Nationalstaat, wie es die Radikalen gerne gehabt hätten (Bundesverfassung).
Stetiger Ausbau
Die freisinnige Siegerpartei übte zunächst ihr Herrschaftsmonopol ohne Rücksicht auf die unterlegene Minderheit aus, zum Teil mit fragwürdigen Methoden wie etwa im Kanton Freiburg. Die zunehmende soziale Differenzierung führte mit der Verselbstständigung des Mittelstands und dem Entstehen der Arbeiterbewegung zu einer Auffächerung des politischen Kräftespektrums, das bis anhin im Wesentlichen von den liberalen Führungseliten und den katholischen und protestantischen Konservativen bestimmt worden war (Konservatismus), und sekundär zu einer Weiterentwicklung des politischen Systems. Die neuen oppositionellen Kräfte brachten nicht nur gemäss ihrer Interessenlage Sachforderungen ein, sondern wollten auch das System umgestalten, um die Erfolgschancen ihrer Anliegen zu vergrössern. So hat die Demokratische Bewegung in den 1860er Jahren auf Kantonsebene, zu Beginn der 1870er Jahre auch auf Bundesebene die repräsentative oder indirekte Demokratie zu einer direkten Demokratie umgebaut, indem sie mit Verfassungsrevisionen die Volkswahl der Kantonsregierungen und Volksabstimmungen zu Parlamentsbeschlüssen sowie Sachvorlagen durchsetzte. Das auf eidgenössischer Ebene 1874 eingeführte Gesetzesreferendum (Referendum) wurde 1891 durch die Verfassungsinitiative (Volksinitiative) ergänzt. Bezüglich der oft vertretenen Auffassung, die Einführung dieser Instrumente sei «fortschrittlichem» Wollen entsprungen, ist auf das paradoxe Faktum hinzuweisen, dass sich auch die konservativen und reaktionären Kräfte schnell dieser Mittel zu bedienen wussten; dies belegen das mit der ersten eidgenössischen Volksinitiative 1893 zur Abstimmung gebrachte Schächtverbot und die 13 erfolgreichen Referendumskämpfe zwischen 1874 und 1891, mit denen Katholisch-Konservative und Föderalisten die parlamentarische Mehrheitspolitik des Freisinns blockierten. Das Referendum zwang so den Freisinn zu politischen Kompromissen; er musste durch vorparlamentarische Zusammenarbeit versuchen, das Risiko von Volksentscheiden möglichst auszuschliessen. Die ursprünglich parlamentarische Mehrheitspolitik wurde so abgelöst von einer Verhandlungspolitik, die repräsentative liberale Demokratie von einer «Demokratie der Interessengruppen». Dieses Modell, das sich bereits in mehreren Kantonen durchgesetzt hatte und auf einem engmaschigen Netz von Dachorganisationen beruhte, strukturierte – mitunter sogar landesweit – die wichtigsten sozioprofessionellen Kategorien (Verbände).
Für die Arbeiterbewegung stellte sich die Frage, inwieweit sie sich auf die allgemeinen Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung einlassen und inwieweit sie ihren Forderungen mit ihrem spezifischen Instrument des Streiks Nachachtung verschaffen wollte. Die wichtigste Weiterentwicklung des Systems, die von der Arbeiterbewegung auf Bundesebene ausging, war die Lancierung der Proporzinitiative um 1900 (Wahlsysteme). Deren Annahme im dritten Anlauf führte unter anderem wegen des gerechteren Verfahrens 1919 zu einem sprunghaften Anstieg der sozialdemokratischen Nationalratsmandate von 20 auf 41 (Sozialdemokratische Partei, SP). Zuvor herrschte die Majorzregel, welche innerhalb des Wahlkreises alle Sitze der obsiegenden Mehrheit zusprach, auch wenn die Mehrheit 50% nur minimal überstieg. Acht Kantone, als erster das Tessin 1890 (Tessiner Putsch), waren dem Bund bei der Einführung des Proporzwahlrechts vorausgegangen. Bei den in der Regel nach Majorzverfahren durchgeführten Regierungsrats- und Ständeratswahlen hätte die Mehrheit in gleicher Weise alle Mandate für sich beanspruchen können, es bildete sich jedoch gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein freiwilliger Proporz nach Massgabe der Fraktionsstärken heraus.
Verglichen mit der dürftigen Ausgangslage von 1848 erfuhr die Demokratie auch in praktischer Hinsicht erhebliche Verbesserungen, die etwa die korrekte Führung der Stimmregister, die Dichte der Abstimmungslokale und deren Öffnungszeiten, die Umschreibung der Wahlkreise, die Gewährleistung des Abstimmungsgeheimnisses oder die Qualität der Abstimmungserläuterungen betrafen. Neuerdings wird dem Stimmvolk sogar die Möglichkeit eingeräumt, auf dem Korrespondenzweg oder elektronisch abzustimmen. Der Ausbau der Demokratie schlug sich im parlamentarischen System in der Schaffung von zusätzlichen Kommissionen (parlamentarische Kommissionen, ausserparlamentarische Kommissionen) und in vermehrten Kontroll- und Mitspracherechten auf Kosten der Exekutive nieder. Mit der Einführung des Staatsvertragsreferendums 1921 und dessen Ausbau 1977, 1998 und 2003 wurde zusätzlich auch ein Teil der Aussenbeziehungen der demokratischen Mitsprache unterstellt (Aussenpolitik). Diese Erweiterung sollte den Einflussverlust kompensieren, den die zunehmende Rechtssetzung durch internationale Vertragswerke für das schweizerische Stimmvolk bedeutete. Das Budgetreferendum wurde dagegen nicht eingeführt, obwohl diese Reform immer wieder in der Öffentlichkeit gefordert und bezüglich der Militärausgaben 1993 und 2000 sogar als Abstimmungsvorlage eingebracht wurde. Bis heute harrt auch die Gesetzesinitiative, die schon Teil des gescheiterten Reformprojektes von 1872 gewesen war, ihrer Verwirklichung. Sie wurde immer wieder vorgebracht, 1961 mit über 70% Nein-Stimmen deutlich abgelehnt und im Rahmen des Reformpakets «Volksrechte» nach 1998 wieder ohne positives Resultat diskutiert. 2003 erwies sich dann zwar das Instrument der Allgemeinen Volksinitiative als mehrheitsfähig, welches dem Parlament die Entscheidung, ob eine Rechtsregel in der Verfassung oder als Gesetz verankert wird, und die Ausarbeitung des definitiven Textes überlassen hätte. Die vorgeschlagene Ausführungsgesetzgebung zu diesem neuen Instrument gestaltete sich aber als derart komplex, dass das Parlament einer parlamentarischen Initiative zu dessen Wiederaufhebung zustimmte; 2009 nahmen Volk und Stände den entsprechenden Bundesbeschluss an. Eine Stärkung der Demokratie bedeutete dagegen 1987 die Einführung des doppelten Ja, das die Spaltung des reformfreundlichen Lagers durch das Parlament mittels der Lancierung eines abgeschwächten Gegenvorschlags verunmöglicht.
Gemessen am Idealmodell der maximalen Selbstbestimmung blieb die Schweiz bis tief ins 20. Jahrhundert eine unvollständige Bürgergesellschaft. 1848 brachte den Juden zwar die politische, aber mit der Vorenthaltung der Niederlassungsfreiheit noch nicht die grundrechtliche Gleichstellung. Erst die Verfassungsrevision von 1866, die infolge des mit Frankreich geschlossenen Handelsvertrags nötig geworden war, räumte auch den Juden die Niederlassungsfreiheit und Rechtsgleichheit ein. Keineswegs gesichert war 1848 auch die Gewährung der politischen Rechte für die Heimatlosen, Armengenössigen und Straffälligen. Den Frauen wurde die Teilhabe an der Demokratie auf eidgenössischer Ebene bis 1971 vorenthalten. Auch hier spielten neun Kantone eine wegbereitende Rolle. Nach ersten negativ ausgegangenen Abstimmungen 1919-1921 führte die Waadt 1959 das kantonale Frauenstimmrecht ein, während die am gleichen Tag zur Abstimmung gebrachte gesamtschweizerische Vorlage noch verworfen wurde. Die direktdemokratische Partizipation verzögerte die Reform nachhaltig, und wie im Falle der Gleichstellung der Juden war die «älteste Demokratie der Welt» im Rückstand auf die Entwicklungen im Ausland.
Bis Ende des 20. Jahrhunderts wurde der Wahlkörper noch zweimal erweitert. Eine erste Vergrösserung ergab sich 1991 aus der Senkung des politischen Mündigkeitsalters von 20 auf 18 Jahre, die in der Abstimmungspropaganda als Ausgleich zur Überalterung der Gesellschaft und als Geschenk an die Jugend anlässlich des 700-jährigen Jubiläums dargestellt wurde. Die zweite Erweiterung verschaffte den Auslandschweizern 1992 die Möglichkeit, sich an gesamtschweizerischen Abstimmungen und Wahlen zu beteiligen, sofern sie sich entsprechend anmelden, was 2002 etwa 18% der rund 454'000 Berechtigten taten. Diese Erweiterung stand im Zusammenhang mit der transnationalen Tendenz, die Ausübung demokratischer Rechte unabhängig vom aktuellen Wohnort zuzulassen. Nichtschweizern waren politische Aktivitäten auf schweizerischem Territorium im Bundesstaat untersagt gewesen, bis die Schweiz 1990 die konsularische Stimmabgabe (erstmals im Falle der russischen Wahlen) erlaubte und darauf den eigenen Bürgern im Ausland die gleichen Möglichkeiten gewährte, die man Ausländern im Inland einräumte.
Ein weiterer Schritt Richtung vollständige Bürgergesellschaft bestünde im Ausbau des Ausländerstimmrechts in schweizerischen Angelegenheiten. Mitwirkungsrechte räumen den Ausländern der Kanton Neuenburg seit 1849 auf Gemeinde- und seit 2002 auf Kantonsebene und der Kanton Jura seit 1979 auf Gemeinde- und Kantonsebene ein. Verfassungsmässig garantieren auch die Kantone Waadt (seit 2003), Genf (seit 2005) und Freiburg (seit 2005) entsprechende, jedoch auf die kommunale Ebene beschränkte Rechte. In den Kantonen Appenzell Ausserrhoden (seit 1996), Graubünden (seit 2004) und Basel-Stadt (seit 2006) ist ihre Einführung den Gemeinden überlassen; sie war bis 2019 erst in den Ausserrhoder Gemeinden Wald, Speicher, Trogen und Rehetobel sowie in ca. 20% der Bündner Gemeinden realisiert. Bezeichnenderweise waren diese Teilinnovationen nur innerhalb von Gesamtrevisionen der kantonalen Verfassungen durchsetzbar; die seit den 1990er Jahren speziell zum Ausländerstimmrecht lancierten Initiativen wurden dagegen von den Stimmenden deutlich abgelehnt.
Unter den Gesichtspunkten der formalen Mitwirkungsmöglichkeiten und der Ausdehnung des Wahlkörpers erweist sich die Verfassungsgeschichte der Schweiz als die eines permanenten Ausbaus der Demokratie. Es gab aber auch Unterbrüche, Rückschläge und Gegenbewegungen.
Eine Phase der Krise für die Demokratie bildeten die 1930er und 1940er Jahre, in denen das Referendumsrecht durch die ausserordentlich häufige Anwendung der Dringlichkeitsklausel praktisch ausser Kraft gesetzt wurde. Eine erste Volksinitiative wurde 1939 noch zurückgezogen; der Gegenvorschlag konnte allerdings dem Missstand nicht abhelfen. Erst die Initiative «Rückkehr zur direkten Demokratie», die 1949 gegen den Willen von Bundesrat und Parlament angenommen wurde, führte zu einer Neuformulierung des Dringlichkeitsrechts. Schliesslich beruhten viele Massnahmen, die der Bundesrat zur Bewältigung der Notlagen in den Weltkriegen und während der Weltwirtschaftskrise ergriff, auf extrakonstitutionellem Notrecht (Vollmachtenregime).
Im Anschluss an die Verwirklichung des Frauenstimmrechts, mit der sich die Anzahl der Stimmenden verdoppelte, wurden die für das Zustandekommen eines Referendums bzw. einer Initiative notwendigen Unterschriftenzahlen von 30'000 auf 50'000 bzw. von 50'000 auf 100'000 erhöht. Diese Massnahme bedeutete keinen Demokratieabbau, auch wenn ihre Gegner dies im Abstimmungskampf so darstellten. Infolge des Bevölkerungswachstums und der Verbesserungen der Kommunikationsmöglichkeiten lag die Partizipationsschwelle im ausgehenden 20. Jahrhundert erheblich niedriger als nach 1874. Waren 1884 noch die Unterschriften von ungefähr 5% der Stimmberechtigten für das Zustandekommen eines Referendums notwendig, so genügte 2000 die Unterstützung von wenig mehr als 1% aller Stimmenden. Die einzige wirklich restriktive Neuerung war somit die Frist von 18 Monaten, die 1977 für das heutzutage vergleichsweise leichtere Sammeln von Unterschriften für Volksinitiativen eingeführt wurde.
In den 1960er Jahren erreichte die Stimm- und Wahlbeteiligung bisher nie dagewesene Tiefstwerte; danach stabilisierte sie sich zwischen 35 und 45%, um in den 1990er Jahren wieder leicht zuzunehmen. Diese niedrige Partizipation wurde gelegentlich als Kluft zwischen der sogenannten Classe politique und dem Volk sowie als Krise der Demokratie gedeutet. Dem widerspricht aber, dass sich das Verhältnis zwischen Behörden und Volk eher entspannt hat: Während der Stimmbürger Ende des 19. Jahrhunderts durchschnittlich vier von fünf Vorlagen verwarf, so folgte er zwischen 1947 und 1995 in 77% der Fälle den Vorschlägen von Parlament und Bundesrat. Ausserdem setzte in den 1960er und 1970er Jahren ein informelles Engagement für spezifische Anliegen (Ablehnung der Atomenergie, bestimmter Bauvorhaben, Gleichstellungsfragen usw.) in den sogenannten Neuen sozialen Bewegungen ein, das in mancher Hinsicht den Rückgang des staatsbürgerlichen Pflichtgefühls und der themenunabhängigen Partizipation aufwog, der aus dieser traditionellen Pflichtauffassung resultiert hatte.
Angesichts des harmonischen Verhältnisses zwischen Stimmbürger und Regierung überrascht es nicht, dass in der Schweiz einzig die direkte Demokratie als gute Demokratie gilt. Die positiven Merkmale wie grosse Stabilität, Kontinuität und Legitimität überwogen – und überwiegen – in den Augen der meisten Staatsbürger. In der historischen und politischen Wissenschaft äusserte sich diese Idealisierung auch in den Begriffsprägungen Konsens- und Konkordanzdemokratie, welche den Einbezug der referendumsfähigen Gruppierungen bei der Ausarbeitung von Gesetzesvorlagen (Vernehmlassungsverfahren) und den freiwilligen Proporz in den Vordergrund rückten und ausblendeten, dass die Organisations- und Konfliktfähigkeiten der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen ungleich sind, was dazu führt, dass kurzfristige und spezielle Interessen eher in den Verhandlungsprozess der Gesetzgebung einbezogen werden als allgemeine und langfristige. Sowohl neoliberale Kritiker (Neoliberalismus) wie auch solche aus dem Umfeld der Neuen sozialen Bewegungen betonten denn auch seit den späten 1980er Jahren die innovationsfeindliche Wirkung, die vom Referendum bzw. von einer blossen Androhung eines solchen ausgeht. Ähnlich wie beim Ständemehr – dieses sichert 20-25% aller Stimmbürger aus den 11,5 kleinsten Kantonen eine Sperrminorität, an der allein bis 2000 acht Vorlagen scheiterten – dürfte es aber auf absehbare Zeit hinaus schwierig sein, den Souverän zu einem Abbau der demokratischen Mitwirkungsrechte zu bewegen, selbst wenn diese nur verhindernd wirken und für konstruktive Lösungen unter Umständen wenig taugen. Der drohende Verlust demokratischer Selbstbestimmung infolge internationaler Bindungen oder gar Eingliederung in einen supranationalen Verband haben vielmehr den Willen, an der traditionellen Ausstattung der Demokratie festzuhalten, seit den 1990er Jahren wieder verstärkt.
Mit der 1968er-Bewegung (Jugendunruhen) verliessen demokratische Wertvorstellungen das politische Parkett und erreichten Unternehmen (Mitbestimmung), Schulen sowie Universitäten (Schüler- und Elternräte, Studentenversammlungen) und gar die Armee; in Letzterer scheiterten allerdings die Versuche zur Bildung von Soldatenkomitees Anfang der 1970er Jahre. In der reformierten Kirche wurden Formen der Mitbestimmung bereits Ende des 19. Jahrhunderts realisiert (Kirchgemeinderat, Synode, Synodalrat), und auch in der katholischen Kirche fassten solche in den staatskirchenrechtlichen Strukturen Fuss.
Quellen und Literatur
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