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Ständische Gesellschaft

Nach dem klassischen Verständnis ist die ständische Gesellschaft eine durch Geburt bestimmte Gesellschaftsordnung im vormodernen Europa, die aus den drei hierarchisch abgestuften Ständen des Adels, des Klerus und des Dritten Standes besteht. Die Dreiteilung der Stände wurzelt in der mittelalterlichen, theologisch-juristisch abgeleiteten Vorstellung von den unterschiedlichen Funktionen der Stände: Kriegsführung durch den Adel (bellatores), Seelsorge durch die Geistlichkeit (oratores), Handel, Gewerbe und Landwirtschaft durch den Dritten Stand (laboratores). Mit der Zugehörigkeit zum Adel oder zur Geistlichkeit sind rechtliche, politische und finanzielle Privilegien verbunden, die mit den besonderen Aufgaben der ersten zwei Stände legitimiert werden. Die Stände sind voneinander abgegrenzte, ungleiche soziale Gruppierungen (Soziale Ungleichheit), doch ist diese Hierarchie nach vormodernem Verständnis gerecht und prinzipiell harmonisch, da sie die von Gott zum allgemeinen Wohl gegebene Gesellschaftsordnung widerspiegelt.

Im Unterschied zu den soziologischen Begriffen der Klasse (Klassengesellschaft) oder der Kaste bezeichnet der vielschichtige Begriff des Standes keine nach aussen abgeschlossene Gruppierung, die nach innen ein gemeinsames Gruppenbewusstsein vereint. Ebenso wenig ist Stand mit dem soziologischen Begriff der Schicht zu verwechseln.

Neuere sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze

Untersuchungen zur sozialen Wirklichkeit der Stände zeigen, dass deren normative und statische Darstellung zu kurz greift. Auf der Grundlage anthropologischer und soziologischer Modelle lässt sich die ständische Gesellschaft kulturgeschichtlich als kämpferische Gesellschaft verstehen: Der soziale Rang von Menschen, die sich alle gegenseitig kennen, wird durch ihren Anteil am ökonomischen, sozialen und symbolischen Kapital der Gesellschaft definiert, um das die Gesellschaftsmitglieder ständig konkurrieren. Geschlechtergeschichtliche Ansätze verweisen darauf, dass geschlechtsspezifische Ehrvorstellungen den sozialen Status wesentlich bestimmten, so etwa Zivilstand und Sexualverhalten bei Frauen; berufliche Redlichkeit, physischer Mut und sexuelle Integrität der Ehefrau oder der Töchter bei Männern. Grundlage dieser ständischen Gesellschaft sind Formen symbolischer Kommunikation, in denen in dynamischen und asymmetrischen Kräfteverhältnissen der sozial angemessene Lebensstil und die Ehre der eigenen Person stets behauptet werden müssen.

Das Konzept der neuständischen Gesellschaft geht davon aus, dass sich die Gebildeten zwischen 1750 und 1840 zu einer neuen Elite entwickelt hätten und dadurch eine Gesellschaftsordnung entstanden sei. Diese sei einerseits von der altständischen Ordnung zu unterscheiden, dürfe aber nicht mit der industriellen Klassengesellschaft gleichgesetzt werden.

Soziale Wirklichkeit

Die drei Stände, dargestellt von Pfarrer Caspar Schwerter in einer Chronik der Herrschaft Grüningen, 1610 (Zentralbibliothek Zürich, Ms. B 099a, Fol. 177r).
Die drei Stände, dargestellt von Pfarrer Caspar Schwerter in einer Chronik der Herrschaft Grüningen, 1610 (Zentralbibliothek Zürich, Ms. B 099a, Fol. 177r). […]

Die Idee von der ständischen Gesellschaft als Gesellschaft der drei Stände war auch in der alten Eidgenossenschaft verbreitet, wie etwa die Grüninger Chronik des Pfarrers Caspar Schwerter von 1610 zeigt. Doch bereits ein Blick in die normativen Quellen belegt, dass die soziale Wirklichkeit dieser Idee nicht entsprach. Kleiderordnungen zum Beispiel sahen eine Differenzierung vor, die über eine Dreiteilung der Gesellschaft weit hinausging.

Die für die alte Eidgenossenschaft spezifische soziale Stratifikation lässt sich angesichts des vorrangig rechtlichen Verständnisses der Stände in der empirischen Forschung sowie angesichts der lokalen und regionalen Unterschiede nur unbefriedigend kennzeichnen: Die Eidgenossenschaft stellte eine Allianz von Bauern- und Bürgerstaaten dar, so dass hier die klassische Ständetrias mit Ausnahme der Ständeversammlung der Waadt, des Fürstbistums Basel und des Fürstentums Neuenburg anders als in den Nachbarstaaten verfassungsrechtlich nicht existierte. Charakteristisch war vielmehr die Ausbildung politischer und sozialer Hierarchien über den zunehmend restriktiven Zugang zu korporativen (Korporationen, Genossenschaft) und kollektiven Ressourcen (Pensionen). Dank Geburt zum Beispiel Allmendrechte zu besitzen, in Geldgeschäfte eingebunden zu sein oder zünftiger Handwerksmeister (Meister) zu werden, bedeutete über materielles, soziales und symbolisches Kapital zu verfügen, das die soziale Position prägte.

Für die Sozialstratifikation der Eidgenossenschaft war der jeweilige, meistens durch Geburt begründete rechtliche Status grundlegend. Differenziert wurde zwischen dem Bürgertum in der Stadt und den übrigen städtischen Einwohnern, die wie etwa in Genf oder Bern unterschiedliche Rechte besassen (Ewige Einwohner, Hintersassen, Habitants, Natifs), sowie den Untertanen auf der Landschaft, wo die Dorfgenossen und Landsassen bessere Rechte hatten als die Hintersassen und Beisassen. Status begründend waren ferner die gegenseitige Abgrenzung durch Bildung und Konsumverhalten. Im Verhältnis der sozialen Gruppierungen zueinander führte dies zu gesellschaftlichen Ansprüchen, die einerseits rechtlich-ständischen Strukturen, andererseits kulturell-ständischen Dynamiken geschuldet waren.

Der Adel hatte seine gesellschaftliche Rolle im Mittelalter eingebüsst und war im städtischen Patriziat aufgegangen oder aus der Eidgenossenschaft verdrängt worden. An seine Stelle traten je nach politischer Struktur der Orte lokale, sich auf einige Familien konzentrierende Eliten (z.B. Zünfte), die sich in der frühen Neuzeit zu Oligarchien mit aristokratisiertem Lebensstil entwickelten und keine Neubürger in ihre Reihen mehr aufnahmen (Aristokratisierung).

Wie am Beispiel des bikonfessionellen Graubünden nachgewiesen, veränderte sich die Stellung der katholischen und reformierten Geistlichen im Ancien Régime stark. Waren im 16. Jahrhundert Geistliche meist Bauern, die ihr Amt im Nebenberuf verrichteten, wandelte sich das katholische Priester- bzw. das reformierte Pfarramt im Zug der Konfessionalisierung zu einem eigenen Berufsstand, der für Pfarrer das Einheiraten in höhere Gesellschaftsschichten ermöglichte. Im Lauf des 18. Jahrhunderts professionalisierte sich die Geistlichkeit weiter und galt immer mehr als moralische, gebildete und von der allgemeinen Bevölkerung abzugrenzende Elite.

Für den Dritten Stand war eine enorme soziale Heterogenität kennzeichnend. Wie etwa in Bern beschränkte sich der Kreis der Regimentsfähigen aufgrund ihrer sozialen Netze und Vermögensverhältnisse faktisch auf die städtischen Eliten, obwohl Handwerker, Unternehmer und Beamte ihnen rechtlich nicht prinzipiell nachgeordnet waren. Ferner grenzten sich die städtischen Gruppierungen in Lebensstil, Bildung und Vorrangansprüchen untereinander und insbesondere gegenüber der wiederum in sich differenzierten Landbevölkerung ab.

Die Bauernschaft (Bauern) zeichnete sich durch eine ausgeprägte soziale Binnendifferenzierung aus. Wesentlich war die Trennung zwischen den Bauern, die (mehr als) genügend Land zur Sicherung ihrer Existenz besassen, und den Taunern, die hierfür über zu wenig oder kein Land verfügten und daher auf den Zusatzverdienst etwa als Tagelöhner angewiesen waren.

Der Status der Armen (Armut, Fürsorge) wandelte sich vom ausgehenden Mittelalter an und mit der Reformation. Nunmehr wurde zwischen «ehrenhaften» und «unwürdigen», pejorativ als «Müssiggänger» bezeichneten, Armen unterschieden. Nicht ortsansässige Bettler (Fremde) und Fahrende hatten keinen Platz in der Gesellschaft und wurden ausgewiesen.

Die Stellung der Frauen war zwar durch deren rechtliche Situation formal definiert, doch beruhte die soziale Zuordnung einer Frau wesentlich auf ihrer geschlechtsspezifischen Ehre, ihrem Einkommen etwa als respektierte Person in Handel und Gewerbe oder auf ihrer Zunftzugehörigkeit, wie sie in der Stadt Zürich reguliert war (Geschlechterrollen).

Am 12. April 1798 wurden die unterschiedlichen rechtlichen Standeskategorien durch die Verfassung der Helvetischen Republik aufgehoben und alle Bewohner (mit nachträglicher Ausnahme der Juden) unter Ausschluss des Aktivbürgerrechts für Frauen juristisch zu gleichberechtigten Schweizer Bürgern deklariert. Der Zunftzwang für Handwerker wurde durch die Proklamation der Gewerbefreiheit am 10. Oktober 1798 beseitigt. Die Restauration machte die juristische Aufhebung der zivilrechtlichen Ungleichheiten von 1798 teilweise wieder rückgängig. Der Artikel 4 der Bundesverfassung 1848 garantierte schliesslich die Rechtsgleichheit aller Schweizer und schloss Vorrechte aufgrund des Orts, der Geburt, der Familie oder der Person explizit aus.

Die juristischen Veränderungen verhinderten die traditionell orientierten Abgrenzungsstrategien der sozialen Eliten nicht. Doch wurden diese Differenzierungsprozesse im 19. Jahrhundert von frühliberalen Gruppierungen in Frage gestellt, die damit an die im späten 18. Jahrhundert aufgekommenen, am Leistungs- und Bildungsprinzip orientierten Leitvorstellungen und an die Grundsatzkritik der Helvetik an geburtsständischen Vorrechten anknüpften.

Quellen und Literatur

  • A.-L. Head-König, L. Mottu-Weber, Femmes et discriminations en Suisse, 1999
  • M. de Tribolet, «Société d'ordres et égalité républicaine», in Conservatisme, réformisme et contestation, 1999, 79-85
  • U. Pfister, «Pastors and Priests in the early modern Grisons», in Central European History 33, 2000, 41-65
  • S. Burghartz, «Umordnung statt Unordnung?», in Zwischen den Disziplinen?, hg. von H. Puff, C. Wild, 2003, 165-185
  • M. Brühlmeier, B. Frei, Das Zürcher Zunftwesen, 2 Bde., 2005
  • Berns goldene Zeit, hg. von A. Holenstein, 2008
  • D. Schläppi, «Differenzmaschinen», in Die Produktion von Ungleichheiten, hg. von T. David et al., 2010, 23-33
  • Soziale Ungleichheit und Ständische Gesellschaft, hg. von M. Füssel, T. Weller, 2011
Weblinks

Zitiervorschlag

Francisca Loetz: "Ständische Gesellschaft", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.01.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009928/2013-01-10/, konsultiert am 19.03.2024.