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Ständeversammlung

Ständeversammlungen sind eine charakteristische Erscheinung der ständischen Verfassung (Ständische Gesellschaft) als eigenständiger Phase der verfassungs- und strukturgeschichtlichen Entwicklung Europas. Unter den Anforderungen der sich konsolidierenden monarchischen Gewalten schlossen sich im Spätmittelalter Adel, Geistlichkeit und (Stadt-)Gemeinden als «die sozio-ökonomisch potenten Schichten und autonomen lokalen Gewalten des Landes» (Gerhard Oestreich) zu Einzelkorporationen sowie zu einer Gesamtvertretung im Land zusammen. Ständeversammlungen erfüllten eine doppelte Funktion: Die vom Landesherrn einberufenen, in Kurien tagenden Stände wirkten «mit Rat und Hilfe» in der Landespolitik mit (u.a. Steuerbewilligung, -verwaltung, Gesetzgebung, Rechtswahrung, Gerichtsverfassung) und verteidigten gleichzeitig ihre autogenen und erworbenen Rechte gegen landesherrliche Eingriffe und Forderungen. Ständeversammlungen erlebten ihren Höhepunkt im 15. und 16. Jahrhundert, im Absolutismus erfuhren sie allgemein einen Bedeutungsverlust.

In der Schweiz fanden Ständeversammlungen nur in geistlichen und weltlichen Fürstentümern mit landständischer Verfassung statt: in der savoyischen Waadt (Etats de Vaud) spätestens ab 1361, im Fürstbistum Lausanne zwischen 1478 und 1526, im Fürstbistum Basel ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (letzte Ständeversammlung 1791) sowie – mit Einschränkungen – auch in der Grafschaft bzw. im Fürstentum Neuenburg (Audiences générales, 1618 aufgehoben, ab 1467 Trois Etats). In den häufig tagenden Ständeversammlungen der Waadt hatten die bonnes villes (v.a. Moudon, Yverdon, Morges, Nyon) ein besonderes Gewicht; Moudon konnte aus eigenem Recht Ständeversammlungen einberufen. Die Stände berieten in allen das Land berührenden Fragen mit (v.a. Steuer, Gesetzgebung, militärische Hilfe) und waren in der Wahrung der partikularen Rechtsgewohnheiten und Freiheiten besonders erfolgreich. Nach der Eroberung der Waadt 1536 berief Bern die Etats 1570 noch einmal ein, liess aber bis in die 1720er Jahre konsultative Versammlungen der Stände zu, die vor allem von den bonnes villes beschickt wurden.

Im Fürstbistum Basel spielten Ständeversammlungen vor allem in Steuerfragen bis in das 18. Jahrhundert eine Rolle. Besonders häufig tagten die aus Geistlichkeit, Adel (ab 1650) und Tiers Etat (Städte und Vogteien der Reichsgebiete des Fürstbistums) zusammengesetzten Landstände 1621-1637, 1650-1717 sowie unter dem Eindruck der Landestroublen 1730-1740.

Nur bedingt als Ständeversammlungen anzusprechen sind die Trois Etats von Neuenburg, ein aus den gräflichen Hof- und Gerichtstagen hervorgegangenes, ständisch besetztes, oberstes Appellationsgericht. Dieses setzte sich aus je vier adeligen Staatsräten, Geistlichen (nach der Reformation durch Kastlane abgelöst) und Vertretern des Magistrats der Stadt Neuenburg zusammen und erhielt im 17. Jahrhundert wichtige Kompetenzen in der Gesetzgebung sowie in Fragen der Souveränität und Erbfolge des Fürstentums.

In den Hochstiften Chur und Sitten wurde die im 14. Jahrhundert in Gang gekommene Entwicklung zu landständischen Verfassungen im 16. und 17. Jahrhundert unter dem Einfluss kommunaler Kräfte in republikanische Richtung abgebogen. In der Landgrafschaft Thurgau nahm im 16. bis 18. Jahrhundert der Gerichtsherrenstand die Rechte und Interessen der lokalen Herren gegenüber dem eidgenössischen Landvogt und den Gemeinden wahr.

In der Schweiz haben der Zerfall fürstlich-dynastischer Gewalten (Staufer, Habsburg-Österreich, Toggenburg), die Festigung und territoriale Ausbreitung von Stadt- und Landrepubliken mit jeweils eigenen Repräsentationsorganen (Territorialherrschaft) und die Einbindung der verbliebenen Feudalherren in das Burgrecht der Städte die Entstehung landständischer Verfassungen und Ständeversammlungen verhindert. Auch die Tagsatzung war keine Ständeversammlung. Das Fortleben eigenständiger Rechtskorporationen in Landstädten, Ämtern, Landschaften, Talschaften und Gerichten gewährte den eidgenössischen Untertanen gewisse institutionelle Möglichkeiten zur Verteidigung korporativer Rechte gegenüber der Obrigkeit, was allerdings öfters erst ländliche Unruhen und eidgenössische Vermittlung unter den Parteien bewerkstelligen konnten. Besonders Zürich und Bern haben im 15. und 16. Jahrhundert ihre Untertanen mit Ämteranfragen in wichtigen politischen Fragen (z.B. Sold- und Pensionenwesen, Bündnisse, Reformation) konsultiert.

Quellen und Literatur

  • Peyer, Verfassung, 59-61, 68-73, 121, 134-141, (mit Bibl.)
  • G. Oestreich, «Die Ständ. Verfassung in der westl. und in der marxist.-sowjet. Geschichtsschreibung», in Strukturprobleme der frühen Neuzeit, hg. von B. Oestreich, 1980, 161-200
  • M. de Tribolet, «Audiences générales, Etats et Trois Etats durant la seconde moitié du XVe siècle», in MN 18, 1981, 3-17
  • R. Ballmer, Les Etats du pays, ou les assemblées d'états dans l'ancien évêché de Bâle, 1985
  • D. Tappy, Les Etats de Vaud, 1988
  • A. Holenstein, «Polit. Partizipation und Repräsentation von Untertanen in der alten Eidgenossenschaft», in Landschaften und Landstände in Oberschwaben, hg. von P. Blickle, 2000, 223-249
Weblinks

Zitiervorschlag

André Holenstein: "Ständeversammlung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.02.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009929/2012-02-27/, konsultiert am 11.12.2024.