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Korporativismus

Als Weltanschauung eines «dritten Weges» zwischen ungezügeltem Kapitalismus und den Klassenkampf schürendem Sozialismus suchte der Korporativismus eine Lösung für die Soziale Frage, die sich ab den 1870er Jahren ernsthaft zu stellen begann. Er fand sie in der Organisation der Berufe, in der Modernisierung der Zünfte des Ancien Régime, in denen er die Symbole einer althergebrachten Harmonie sah, die durch die Französische Revolution zerstört worden sei. Die auf die Vergangenheit und die Nation ausgerichtete Theorie erfuhr verschiedene Ausprägungen und schlug sich auch in den Enzykliken «Rerum novarum» (1891) und «Quadragesimo anno» (1931) der Päpste Leo XIII. und Pius XI. nieder (Christlichsoziale Bewegung). In Frankreich manifestierte sich der Korporativismus ab dem Ende des 19. Jahrhunderts in der katholisch-sozialen Richtung und in der christlichen Soziallehre. Die totalitären Staaten – das faschistische Italien, Portugal unter António de Oliveira Salazar sowie das Franco-Regime in Spanien – setzten den Korporativismus in Form des Ständestaats um, wobei der Staat die Korporationen autoritär schuf und kontrollierte. Demgegenüber wollten die Verfechter des Korporativismus in der Schweiz es den Berufsständen selbst überlassen, sich zu organisieren.

In der Schweiz trat der Korporativismus erstmals in den 1880er Jahren auf (Katholisch-Konservative, Union de Fribourg), seinen Höhepunkt erlebte er in der Zwischenkriegszeit. In Opposition zur parlamentarischen Demokratie, stellte er die Fundamente der liberalen, auf Vernunft aufbauenden Staatsgründung von 1848 in Frage. Ihm schwebten eine Gemeinschaft, die ohne das als Trugschluss betrachtete allgemeine Wahlrecht auskam, und ein Staat vor, in dem sich alle sozialen Schichten eingebunden und nicht bevormundet fühlten. Über weltliche Vereine, die stark vom Klerus beeinflusst waren, drang der Korporativismus in die Schweiz ein. Sein wichtigster Wortführer, der Freiburger Abbé André Savoy, zielte vor allem auf die Organisation der Arbeiter. Im Gefolge des gescheiterten Landesstreiks von 1918 machte er in diesem Bereich zwischen 1920 und 1925 bedeutende Fortschritte.

Dann begannen auch Arbeitgeber, den Korporativismus als Heilmittel für die Demokratie in Betracht zu ziehen. Da sie sich um die Produktivität der Wirtschaft sorgten, die in einem immer härter werdenden Konkurrenzkampf stand, erwarteten kleine wie grosse Unternehmer vom Korporativismus zunächst eine Reform des Staates. Diese sollte sie vor den Interventionen des von ihnen heftig kritisierten Parlaments schützen, das in ihren Augen nur noch die Interessen der politischen Parteien vertrat. Unter dem Banner des Korporativismus vereinten sie auch Werte wie den Sinn für Ordnung und den Respekt vor Hierarchien. In der Folge entstand 1919 mit Unterstützung der Gewerkschaften das Bureau industriel suisse, das ein Instrument des organisierten Kapitalismus war, 1927 in der Schweizerischen Zentrale für Handelsförderung aufging und als Förderinstrument für die schweizerische Produktion sowie als institutionalisierte Vermittlerin zwischen den Dachverbänden der Wirtschaft und dem Staat wirkte. Doch die Allianz zwischen Industrie und Gewerbe, die aus dem Wunsch heraus geschlossen wurde, das Parlament bei der Lösung von Problemen der Wirtschaftsordnung zu umgehen, hielt der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre nicht stand.

Der Korporativismus, der die Schweiz vor 1798 nostalgisch verklärte und von sich selbst das Bild einer in undurchlässigen Ordnungen bestehenden Gemeinschaft mit starkem – sehr idealisiertem – innerem Zusammenhalt entwarf, forderte eine Beschränkung des freien Wettbewerbs. Letzterer sollte durch die Planung, welche nicht der Staat, sondern die Berufsstände koordinierten, und die Ablehnung des Parlamentarismus, der nur als Quelle des Chaos betrachtet wurde, erfolgen. Der Korporativismus stellte sich auch gegen den zentralistischen Interventionismus des Bundes und gegen den Vormarsch des Sozialstaats, der in seinen Augen nur zu Abspaltungen führte. Antikapitalistisch und antisozialistisch eingestellt, plädierte er für die Versöhnung und nicht für den Kampf der Klassen, für die Zusammenarbeit von Kapital und Arbeit und für die Verteidigung des Mittelstands. Er bejahte den Föderalismus, blieb dem traditionellen Bild einer echt demokratischen Urschweiz verhaftet und träumte von einem Staat in der Rolle des Schiedsrichters, der von den Körperschaften der Gesellschaft, den Pfeilern der nationalen Einheit, getragen werde: von der Gemeinde, der Familie, dem Beruf, der Kirche, der Nation. Kurz: Er träumte von einer naturwüchsigen direkten Demokratie.

In den 1920er Jahren eroberte diese Weltanschauung breite Kreise der Gesellschaft. 1924 konstituierten sich die Amis de la corporation, die in zahlreichen Kantonen, vor allem der Westschweiz, Verbreitung fanden. Die Kantone Waadt und Genf brachten Berufsstände hervor, Freiburg nahm ein Gesetz zur Errichtung von Korporationen an, das aber nie in Kraft trat. 1933 entstand die Union corporative suisse, welche die verschiedenen Ableger der Amis de la corporation in der Deutschschweiz, namentlich in St. Gallen, vereinigte. Der Umstand, dass zahlreiche radikale und liberale Politiker in einem klar politischen Korporativismus eine Ordnung zur Rettung des Landes sahen, belegte die tiefe Verunsicherung, in die das demokratische System geraten war. Auf Bundesebene sympathisierte der Schweizerische Gewerbeverband mit korporatistischen Vorstellungen, aber auch Gruppierungen wie die Neue Schweiz strebten eine Erneuerung der Schweiz in einem solchen Rahmen an. Doch nur die Katholisch-Konservativen machten den Korporativismus zu ihrem Programm. Dessen von Jacob Lorenz ausgearbeiteter Entwurf entsprach ihrem Wunsch, den Antagonismus zwischen Liberalismus und Sozialismus zu überwinden.

Plakat des Aktionskomitees für die Volksabstimmung vom 8. September 1935 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat des Aktionskomitees für die Volksabstimmung vom 8. September 1935 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).

Die korporatistische Begeisterung fand 1934 in der Lancierung der Volksinitiative zur Totalrevision der Bundesverfassung ihren Höhepunkt. Laut diesem Anliegen sollte der Nationalrat als Vertreter der Körperschaften öffentlichen Rechts in jedem Kanton von den Gemeindeexekutiven und nicht mehr vom Volk gewählt werden. Doch es lastete eine schwere Hypothek auf dem Projekt. Die Anhänger der Totalrevision, darunter zahlreiche Katholisch-Konservative, scheiterten in ihrem Versuch, die Industrie und die Freisinnigen für ihr Anliegen zu gewinnen, und erhielten nur die Unterstützung der Fronten, die ab 1933 aktiv waren und von denen einige deutlich faschistische Züge trugen (Frontenbewegung). Obwohl die Korporatisten Gegner eines Korporativismus im Sinne der mittelalterlichen Zünfte oder des Ständestaats nach dem Vorbild der Faschisten waren, gelang es ihnen nicht, den Vorwurf der Zweideutigkeit zu entkräften, der aus der Nähe eines Teils ihrer Kampfgefährten zu nationalistischen, ja faschistischen Gruppierungen resultierte. Die Faszination, die das italienische System Mussolinis auf Theoretiker – auch demokratische – des schweizerischen Korporativismus ausübte, sowie die Rufe nach einem starken autoritären Staat, die von gewissen Korporatisten, zum Beispiel der Ligue vaudoise, oft zu hören waren, unterstrichen die unterschiedlichen Anschauungen, die man aus dem politischen Korporativismus ziehen konnte. Dieser bewegte sich stets zwischen demokratischer und autoritärer Erneuerung. Die Hinwendung der Gewerkschaften zum Korporativismus, vor allem nach dem Abschluss des Friedensabkommens im Juli 1937 (Arbeitsfrieden), und die Bestätigung korporatistischer Vorstellungen im Rahmen der Geistigen Landesverteidigung, die sich am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz herausgebildet hatte, festigten die nationale Bestimmung des Korporativismus als Bollwerk gegen fremde Einflüsse.

Doch der Korporativismus stiess an seine Grenzen. Die Ablehnung der Volksinitiative zur Totalrevision der Bundesverfassung im September 1935 markierte den Anfang seines Niedergangs. Die Diskreditierung durch den Faschismus, das Scheitern der Einheit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern innerhalb der Korporationen ab 1940 und das Nicht-Zustandekommen einer neuen Verfassungsrevision 1942 (Initiative Stalder) machten die Hoffnungen seiner Anhänger zunichte. Zu den Erben des «dritten Weges» gehörten in Genf die Fédération des syndicats patronaux (1928, ab 1983 Fédération romande des syndicats patronaux), im Kanton Waadt die Groupements patronaux de la Fédération vaudoise des corporations (1940, ab 1947 Groupements patronaux vaudois, ab 1995 Fédération patronale vaudoise). 1942 wechselte der Schweizerische Gewerbeverband ins liberale Lager, da er die wirtschaftliche Freiheit einer immer unsichereren Unterstützung durch den Staat vorzog. Das Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit unterstrich den Erfolg des organisierten Kapitalismus, der zur Begrenzung der Konkurrenz, zur Einführung von Gesamtarbeitsverträgen, zur Ausdehnung des Wohlfahrtsstaats und zum Triumph des Arbeitsfriedens führte (Sozialpartnerschaft). Die Reorganisation der liberalen Wirtschaft (Wirtschaftsartikel) bezweckte eine Synthese der Antagonismen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Gesellschaft aufgebrochen waren. In diesem Sinn übte der Korporativismus sicherlich einen Einfluss aus und brachte neue Ideen, aber er setzte die nach 1945 einsetzende Entwicklung nicht eigentlich in Gang.

Quellen und Literatur

  • R. Ruffieux, Le mouvement chrétien-social en Suisse romande, 1969
  • Q. Weber, Korporatismus statt Sozialismus, 1989
  • K. Angst, Von der "alten" zur "neuen" Gewerbepolitik, 1992
  • P. Maspoli, Le corporatisme et la droite en Suisse romande, 1993
  • C. Werner, Für Wirtschaft und Vaterland, 2000
  • Liberté économique et responsabilité sociale: des corporations au mondialisme, hg. von J.-F. Cavin, 2004
Weblinks

Zitiervorschlag

Olivier Meuwly: "Korporativismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 06.08.2007, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009931/2007-08-06/, konsultiert am 16.03.2025.