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Etatismus

Etatismus bezeichnete in der Schweiz ursprünglich eine politische Einstellung und die aus dieser resultierenden Massnahmen, die auf eine Erweiterung der bundesstaatlichen Kompetenzen abzielten. Später wurde Etatismus zum häufig polemisch verwendeten Kampfbegriff, mit dem vor allem Liberale interventionistische Massnahmen auf den verschiedenen staatlichen Ebenen (Bund, Kantone, Gemeinden) kritisieren.

Ab den 1880er Jahren verlor der traditionelle, einen schwachen Bundesstaat anstrebende Liberalismus viel an Überzeugungskraft. Der durch die demokratische Bewegung verstärkte Radikalismus forderte Staatseingriffe nicht nur in der Sozialpolitik, sondern auch in anderen Bereichen (Agrarpolitik, Banknotenmonopol, Verstaatlichung der Hauptbahnen). In den Auseinandersetzungen zwischen Vertretern des klassischen Liberalismus und dem linken Flügel des Freisinns um Ludwig Forrer, den sogenannten Staatssozialisten, übertrug wahrscheinlich alt Bundesrat Numa Droz den Begriff Etatismus von der französischen in die schweizerische politische Debatte; den Anlass boten die Bestrebungen zur Einrichtung der Sozialversicherung, deren erstes Konzept (Lex Forrer) von den Gegnern als zu zentralistisch abgelehnt wurde.

Während der Interventionismus beim Freisinn in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auf zunehmende Skepsis stiess, gewann er bei der erstarkten Sozialdemokratie an Bedeutung, gegen die das Schlagwort Etatismus jetzt vor allem ins Feld geführt wurde. Extrem liberale Positionen konnten sich auch die bürgerlichen Parteien in der krisenanfälligen Zwischenkriegszeit angesichts ihrer bäuerlichen und mittelständischen Klientel, die zum Protektionismus neigte, nicht leisten. In den 1930er Jahren bildeten zudem korporatistische Vorstellungen ein nicht zu unterschätzendes Gegengewicht zum Liberalismus. Gelegentlich verliefen die Fronten unübersichtlich: So lehnten zum Beispiel Bundesrat und Parlament in den ersten Jahren der Weltwirtschaftskrise im Zeichen der Überinvestitionstheorie eine aktive Konjunkturpolitik ab, während die traditionell freihändlerische Uhrenindustrie staatliche Unterstützung beanspruchte. Gegen Ende der 1930er Jahre bildete sich angesichts der Kriegsgefahr ein Konsens für mehr Interventionismus, der dann im Rahmen der Kriegswirtschaft einen nie gekannten Aufschwung erlebte.

Nach dem Krieg entstand eine ambivalente Lage. Einerseits erreichte die von der Exportwirtschaft – diese hatte während Krise und Krieg gegenüber der Binnenwirtschaft an Boden verloren – getragene liberale Offensive, deren Vordenker William Emmanuel Rappard und Wilhelm Röpke waren (Neoliberalismus), den raschen Abbau des kriegswirtschaftlichen Dirigismus. Anderseits brachte der Aufbau des Sozialstaats eine starke Zunahme der interventionistischen Massnahmen, vor allem in der Sozialpolitik, aber auch in der Agrar-, Umwelt-, Verkehrs-, Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Gesundheitspolitik. Trotz steigender Staatsquote blieb die Kritik, auch die der Bürgerlichen, während der andauernden Hochkonjunktur zurückhaltend.

Dies änderte sich, als ab den späten 1960er Jahren ein Teil der neuen sozialen Bewegungen auf der Linken und ab Ende der 1970er Jahre der Freisinn auf der Rechten ihre Haltung gegenüber dem Staat überdachten. Während die linke Kritik marginal blieb, erreichte die in den 1980er Jahren vom Freisinn propagierte Parole «Mehr Freiheit, weniger Staat» nachhaltige Aufmerksamkeit. Sie wurde in den 1990er Jahren von der SVP übernommen und mit der Forderung nach Steuerabbau radikalisiert, obwohl die Partei nach wie vor interventionistische Massnahmen zugunsten ihrer mittelständisch-bäuerlichen Klientel befürwortete. Die zunehmende Infragestellung des Interventionismus führte bereits zu massiven wirtschafts- und parteipolitischen Verschiebungen (Umwandlung der SBB in eine Aktiengesellschaft, Abtrennung der Swisscom von der PTT), aber noch nicht zum Rückgang der Staatsquote. Dabei spielten neben den höheren Kosten der Sozialversicherung auch wirtschaftspolitische Massnahmen wie der Bonny-Beschluss und seine Verlängerung, mit denen Gelder für die Unterstützung privatwirtschaftlicher Betriebe in den Regionen freigemacht wurden, eine Rolle. Angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten nach der Jahrtausendwende wurde der Ruf nach Staatshilfe wieder lauter und führte im Herbst 2001 zu einer ersten grossen staatlichen Intervention für ein einzelnes Privatunternehmen, nämlich zur Finanzspritze für den Flugverkehr der Swissair bzw. später der Swiss. In einer beispiellosen Aktion rettete der Bund 2008 die UBS mit einer Pflichtwandelanleihe von 6 Mrd. Franken.

Quellen und Literatur

  • N. Droz, La démocratie fédérative et le socialisme d'Etat, 1896
  • W.E. Rappard, Des origines et de l'évolution de l'étatisme fédéral en Suisse, 1938
  • B. Degen, «Genossenschaft, Verstaatlichung, Staatsintervention oder freier Markt», in Arbeit in der Schweiz des 20. Jh., 1998, 511-534
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernard Degen: "Etatismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 12.02.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009933/2015-02-12/, konsultiert am 28.03.2024.