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Parlament

Das moderne Parlament ist eine in allgemeinen und freien Wahlen vom Staatsvolk für eine beschränkte Amtsdauer gewählte Versammlung von Repräsentanten, die regelmässig in vom Gesetz vorgesehenen Sessionen zur Beratung und Beschlussfassung zusammentritt. Als Organ der direkten Volksvertretung obliegt dem Parlament unter Vorbehalt der Mitbestimmungsrechte des Volkes zumindest Gesetzgebung und Genehmigung von staatlichen Verträgen, Bewilligung der Staatsausgaben und Abnahme der Staatsrechnung, Oberaufsicht über Regierung, Verwaltung und Gerichte. Seine Mitglieder, die Parlamentarier, beraten öffentlich über die anfallenden Geschäfte und beschliessen darüber, im allgemeinen nicht weisungsgebunden, in einem vorbestimmten Verfahren mit Mehrheitsentscheid.

Entstehungsgeschichte

Ursprünglich wurden unter Parlament (von altfranzösisch parlement und lateinisch parlamentum) Unterredungen und Verhandlungen, später institutionalisierte Versammlungen und schliesslich auch deren Tagungsgebäude verstanden. Die Wurzeln des modernen Parlaments liegen im Europa des 12. und 13. Jahrhunderts, wobei England in der Entwicklung dieser beratenden und rechtsprechenden Ständeversammlung, die dem König nach und nach wichtige bürgerliche Rechte abzuringen vermochte, eine Schrittmacherfunktion zukam. Die Institution des House of Commons diente verschiedenen Staaten wie den USA, Frankreich und der Schweiz als Vorbild.

Auch im übrigen Europa bildeten sich ab dem 13. Jahrhundert – unter Bezeichnungen wie Cortes oder Reichstag – parlamentarische Versammlungen, deren Entstehung mit dem Wunsch der Fürsten nach besserer Kontrolle ihres Territoriums und Befriedigung ihres Finanzbedarfs zusammenhing. In der Schweiz entwickelten sich beratende und rechtsprechende Ständeversammlungen nur in den geistlichen und weltlichen Fürstentümern. Entwicklungen zu landständischen Verfassungen wurden aber auch unter kommunalem Einfluss in republikanische Richtung gelenkt. Die Ständeversammlungen, wie die sich vom 14. bis 16. Jahrhundert aus kommunalen Bewegungen herausbildende Institution des Grossen Rats (Ancien Régime), waren jedoch keine direkten Vorläufer des modernen Parlaments. Erst mit der durch den bürgerlichen Liberalismus eingeleiteten Einführung des Repräsentativsystems im 19. Jahrhundert wurden die Parlamente nach der allmählichen Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts zu demokratischen Institutionen.

Entwicklung in der Schweiz

In der Helvetischen Republik konstituierte sich am 12. April 1798 das erste nationale Parlament, das aus dem Grossen Rat (Helvetische Republik) und dem Senat bestand. In der Mediationsverfassung verschwand das nationale Parlament wieder, es entstanden aber 19 kantonale Parlamente, meist Grosser Rat, Kantonsrat oder Landrat genannt. Nach 1815 verloren die Parlamente an demokratischer Repräsentanz. Im Sog der französischen Julirevolution setzte jedoch in den Kantonen eine politische Demokratisierungsbewegung ein, die zur Entstehung moderner Parlamente in den zehn liberalen («regenerierten») Kantonen führte. Erst bei der Gründung des modernen Bundesstaats und der Einführung der Bundesverfassung (BV) von 1848 erhielt die Schweiz wieder ein Parlament auf nationaler Ebene: die aus dem Nationalrat und dem Ständerat bestehende Bundesversammlung.

Konstituierende Versammlung des ersten Parlaments der Helvetischen Republik am 12. April 1798 in Aarau. Holzschnitt aus der Zeitschrift Véritable Messager boiteux de Vevey für das Jahr 1799 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Konstituierende Versammlung des ersten Parlaments der Helvetischen Republik am 12. April 1798 in Aarau. Holzschnitt aus der Zeitschrift Véritable Messager boiteux de Vevey für das Jahr 1799 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Die Gründung des Bundesstaats begünstigte die weitere Demokratisierung in den Kantonen (Kantonsverfassungen), welche ihren Bürgern in den neuen Verfassungen weitgehende Mitwirkungsrechte einräumten (z.B. Einführung des – zum Teil obligatorischen – Gesetzes- und Finanzreferendums und der Volksinitiative). Dieser Ausbau der Volksrechte bedeutete gleichzeitig aber auch eine Schwächung des politischen Einflusses des Parlaments. Auf Gemeindeebene entstanden Parlamente vor allem in der französischen, aber auch in grösseren Gemeinden der deutschsprachigen Schweiz.

Funktionen der schweizerischen Parlamente

Auch in direkten Demokratien bedarf es des Zusammenwirkens der gewaltenteiligen Staatsorgane. Dabei kommt dem Parlament die Grundfunktion zu, die politischen Leitentscheide zu treffen. Wie auf Bundesebene die Bundesversammlung (Artikel 148 BV) üben auch die kantonalen Volksvertretungen, welche alle nur aus einer Kammer bestehen, auf Kantonsebene die oberste Gewalt aus, soweit diese Rechte nicht den Stimmberechtigten vorbehalten sind (Repräsentationsfunktion). Indem die Parlamentarier Anliegen von Parteien, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessenorganisationen aufnehmen und in den parlamentarischen Entscheidungsprozess einbringen (Initiativfunktion), erfüllt das Parlament eine zentrale politische Artikulations- und Kommunikationsfunktion. Der aus der parlamentarischen Debatte resultierende Kompromiss sollte jedoch im schweizerischen Konkordanzsystem nicht nur die Mehrheitsmeinung des Rats, sondern einen möglichst breiten Interessenausgleich zum Ausdruck bringen.

Die klassische Hauptfunktion jedes Parlaments ist sowohl auf Bundes- als auch auf Kantonsebene – unter Vorbehalt des obligatorischen oder fakultativen Referendums – die Gesetzgebung (Gesetze). Zu den Gesetzgebungsakten zählt zunehmend die Genehmigung von internationalen und interkantonalen Verträgen (Konkordate) sowie grenzüberschreitenden Abkommen. Zudem ist das Parlament immer notwendiges Organ der Verfassungsgebung. Demgegenüber leitet in der Regel die Regierung das Vorverfahren der Gesetzgebung, vor allem das Vernehmlassungsverfahren (Artikel 147 BV) und die Bericht- und Antragstellung an das Parlament, und erlässt die Verordnungsgesetzgebung, soweit Verfassung und Gesetze dazu ermächtigen.

Vereidigung von Felix Calonder im Nationalratsaal des Bundeshauses in Bern. Fotografie, 1913 (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, F Fb-0016-43).
Vereidigung von Felix Calonder im Nationalratsaal des Bundeshauses in Bern. Fotografie, 1913 (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, F Fb-0016-43). […]

Staatsleitende Kompetenzen nimmt das Parlament auch im Finanzwesen wahr (v.a. Beschlüsse über Ausgaben und Budget, Abnahme der Staatsrechnung). In zahlreichen Kantonen besteht allerdings ein ausgebautes Finanzreferendum. Die neuere Entwicklung zu Globalbudgets verbunden mit Leistungsaufträgen verstärkt die traditionelle Rolle des Parlaments als oberstes Aufsichtsorgan über die Exekutive und die Gerichte. Unmittelbar wahrgenommen wird diese Aufsicht durch die parlamentarischen Aufsichtskommissionen, denen weitgehende Auskunfts-, Einsichts- und Untersuchungsbefugnisse zustehen. Das Parlament ist in Bund und Kantonen auch Wahlbehörde für wichtige Verwaltungsämter (z.B. Bundeskanzler und Staatsschreiber) und die obersten Gerichte; die Bundesversammlung wählt auch den General. Nicht notwendigerweise steht dem Parlament auch die Aufgabe der Regierungsbildung zu. So werden, im Gegensatz zu dem von der Bundesversammlung gewählten Bundesrat (Artikel 175 BV), die kantonalen Regierungen durch das Volk gewählt. Die Möglichkeit des Misstrauensvotums gegen die Regierung oder der Selbstauflösung des Parlaments kennen, von Sonderfällen abgesehen (z.B. Artikel 193 BV im Bund oder Abberufungsrecht durch das Volk im Kanton Solothurn), weder der Bund noch die Kantone. Die politische Verantwortlichkeit der Regierung kommt deshalb primär im Rahmen der parlamentarischen Oberaufsicht zum Tragen.

Arbeitsweise der schweizerischen Parlamente

Sämtliche schweizerischen Parlamente sind Arbeitsparlamente, d.h. Ratsentscheide werden in hohem Masse durch Sachkommissionen, in denen die parlamentarischen Kräfte proportional vertreten sind, vorbereitet und gesteuert. Die Kommissionen tagen in der Regel vertraulich, was der Konsenssuche dient. Im schweizerischen Milizsystem erfolgt die Parlamentsarbeit neben- und oft auch ehrenamtlich. Faktisch haben sich vor allem auf Bundesebene jedoch Halb- oder Teilberufsparlamente herausgebildet, weil die Parlamentsarbeit – zeitlich und sachlich – aufwendiger und anspruchsvoller wird, während die kantonalen Parlamente mit der steigenden Bedeutung der interkantonalen und internationalen Zusammenarbeit an Bedeutung verlieren. Durch gezielte Bestrebungen, diese Entwicklung mit effizienzsteigernden (z.B. Verkleinerung der Parlamente) und kompensatorischen Massnahmen auszugleichen (z.B. Verstärkung der Führungsrolle der Kommissionen, eigenständiger Beizug von Experten, interkantonale parlamentarische Gremien), wird versucht, die Parlamentsfunktionen im schweizerischen Konkordanzsystem zu stärken.

Parlamente im kommunalen Bereich

In rund einem Zehntel aller Schweizer Gemeinden, vor allem den grösseren, übernehmen Gemeindeparlamente die Aufgaben der Gemeindeversammlungen. Sie haben zwischen neun und über hundert, meist im Proporzsystem gewählte Mitglieder. Im Gegensatz zur Gemeindeversammlung, die fast immer vom Gemeindepräsidenten geleitet wird, ist die Gewaltenteilung bei den Parlamenten auf kommunaler Ebene verwirklicht. Ihre Aufgaben entsprechen im Rahmen der Gemeindeautonomie denjenigen der kantonalen Parlamente und des eidgenössischen Parlaments. In den grossen Städten kommt ihnen eine erhöhte Bedeutung zu, da diese Städte hinsichtlich Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft und Infrastruktur teilweise nationales Gewicht haben.

Quellen und Literatur

  • A. Ochsner, Die schweiz. Bundesversammlung als Arbeitsparlament, 1987
  • J.-F. Aubert, Die Schweiz. Bundesversammlung von 1848-1998, 1998 (franz. 1998)
  • B. Ehrenzeller, «Auswirkungen eines EU-Beitritts auf die Bundesversammlung und ihr Verhältnis zum Bundesrat», in Der Beitritt der Schweiz zur Europ. Union, hg. von T. Cottier, A. Kopše, 1998, 293-322
  • W. Linder, Schweiz. Demokratie, 1999
  • S. Möckli, Über die Funktionen eines kant. Parlaments, 2000
  • M. von Wyss, Maximen und Prinzipien des parlamentar. Verfahrens, 2000
  • R. Lüthi, «Das Parlament», in Hb. der Schweizer Politik, hg. von U. Klöti et al., 42006, 125-149
  • P. Mastronardi, «St. Galler Kommentar, Vorbemerkungen zu Art. 148-173», in Die Schweiz. Bundesverfassung, hg. von B. Ehrenzeller et al., 22008, 2299-2309
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernhard Ehrenzeller: "Parlament", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 01.12.2009. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010082/2009-12-01/, konsultiert am 19.03.2024.