Landsgemeinde

«Lands-Gemeind-Ordnung» der Zuger Landsgemeinde. Radierung aus der Karte Helvetia, Rhaetia, Valesia, gedruckt von Heinrich Ludwig Muos in Zug 1698 (Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett; Fotografie Martin Bühler).
«Lands-Gemeind-Ordnung» der Zuger Landsgemeinde. Radierung aus der Karte Helvetia, Rhaetia, Valesia, gedruckt von Heinrich Ludwig Muos in Zug 1698 (Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett; Fotografie Martin Bühler). […]

Die Landsgemeinde war und ist zum Teil immer noch die verfassungsmässige, unter feierlichem Zeremoniell abgehaltene Versammlung der Stimmberechtigten in den Länderorten, an der die Behörden gewählt werden und über Sachgeschäfte abgestimmt wird. Sie entstand ab dem Spätmittelalter und hielt sich teilweise bis ins 21. Jahrhundert. Seit der zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgten Einführung des kantonalen Frauenstimmrechts nehmen auch Frauen an Landsgemeinden teil. Auf kantonaler Ebene bestehen solche heute nur noch in Appenzell Innerrhoden und in Glarus. Vergleichbare Institutionen gibt es heute ausserdem in Graubünden für einzelne Kreise sowie in Schwyz für die Bezirke. In der historischen Literatur werden auch die Bürgerversammlungen von Landschaften und Talschaften, die sich nicht zu selbstständigen Orten entwickelten, als Landsgemeinden bezeichnet.

In lateinischen Urkunden wird das Volk als Rechtsträger fideles, universi homines oder universitas genannt. 1275 wurde die Bezeichnung Gemeinde der Leute des Tals erstmals für die Landsgemeinde verwendet; in Schwyz hiess sie Landtag. Ab 1500 war der Begriff Landsgemeinde für die oberste Behörde der Länderorte gebräuchlich. In abhängigen Landschaften und Tälern sowie in den zugewandten Orten finden sich auch Bezeichnungen wie: Talgemeinde (Ursern, Haslital, Obersimmental), Landsgemeinde (Toggenburg), Teding (für Engelberg überliefert), parlamento (Leventina), cumin, tschendada, mastralia, Landsgemeinde oder Bsatzig (Gerichte und Hochgerichte in Graubünden), Zendgemeinden (Zenden des Wallis).

Entstehung

Die Landsgemeinden der Innerschweizer Länderorte entstanden aus den im Spätmittelalter nachgewiesenen Landtagen, den Versammlungen der Gerichtsgemeinden. An den Landtagen hatte der Vogt gerichtet, in reichsunmittelbaren Gebieten der Reichsvogt, als Vertreter des Grafen. An den Gerichtstagen waren nebst den Zeugen zusätzliche Personen (Volk, alii quam plures) anwesend gewesen. Die Länderorte übernahmen die frühere Kompetenz der herrschaftlichen Vögte und die gesamte Gerichtshoheit (Gerichtswesen). An die Stelle des Vogtes trat ein Ammann. Aus der Gerichtstagung des Landammanns ging die Landsgemeinde hervor, eine Versammlung, die auch wählte, verwaltete und Recht setzte. Die Landsgemeinden fanden oft an den früheren Gerichtsstätten statt. Ihr Hervortreten kann in der Urschweiz ab dem 13. Jahrhundert beobachtet werden. Die Bezeichnung Landtag hielt sich in Schwyz bis ins 15. Jahrhundert, in Nidwalden für das Blutgericht, das eine Form der Landsgemeinde darstellte, sogar bis ins 19. Jahrhundert. Die Landsgemeinden der zahlreichen kleinen, abhängigen Landschaften können aus dem Vogtgericht und auch aus den Hoftagen und Hofgerichten der weltlichen oder klösterlichen Grundherrschaften hervorgegangen sein. Überholt ist die Meinung, sie sei aus der Tagung der Marchgenossenschaft entstanden, wenn auch eine Anlehnung an genossenschaftliche Institutionen, namentlich dort, wo Talgenossenschaften (z.B. Uri, Ursern, Leventina) bestanden, naheliegt. Hypothetisch ist auch die lange vertretene These der Herkunft der Landsgemeinde aus dem germanischen Ding und der Kontinuität desselben bis zur mittelalterlichen Landsgemeinde.

Mittelalter und frühe Neuzeit

Eigentliche Landsgemeinden gab es zuerst in den Urschweizer Länderorten: 1231 in Uri, 1294 in Schwyz, 1309 in Unterwalden. In Zug ist sie ab 1376 belegt. In Glarus bestand sie ab 1387, ab 1623 gab es zudem konfessionelle Sondergemeinden. Die Anfänge der Landsgemeinde in Appenzell reichen zurück ins Jahr 1378, ab 1403 fand sie regelmässig statt und wurde nach der Trennung des Landes durch den Konfessionskonflikt 1597 in den Halbkantonen weitergeführt. Auch der kleine Freistaat Gersau hatte ab 1433 eine Landsgemeinde. Mehrere von Ländern oder Städten abhängige Landschaften und Täler wiesen Landsgemeinden auf, darunter Ursern, Leventina, Bellinzona, Riviera, Blenio, March, Einsiedeln, Küssnacht (SZ), Werdenberg, Gaster, Uznach, Oberhasli, Obersimmental, Saanen, Entlebuch, Pomat (Val Formazza), Sargans sowie Val Lavizzara. Ihre Entstehung ist teilweise unmittelbar auf den Einfluss der eidgenössischen Schirmorte zurückzuführen.

Den Landsgemeinden ähnlich waren auch die Volksversammlungen der Gerichte und Hochgerichte der drei rätischen Bünde sowie – mit Ausnahme von Sitten – der Zenden des Wallis. Im Hochtal Engelberg und im Toggenburg, zwei äbtischen Gebieten, konnte sich auch eine Landsgemeinde entfalten. Der Form nach war sie noch weiteren Bevölkerungsteilen bekannt, weil auch die aus Siedlungsgenossenschaften hervorgegangenen Dorfgemeinden und die Allmendkorporationen sich in ähnlichen Formen verwalteten. Das Heerwesen sowohl der Länder- wie der Städteorte und die gemeineidgenössischen Kriegszüge kannten teilweise bis in die frühe Neuzeit die Kriegsgemeinden.

Die Landsgemeinde war in den Länderorten die höchste Instanz, der bei fehlender Gewaltentrennung alle Kompetenzen zukommen konnten. Die Quellen bezeichnen sie denn auch als «höchste Gewalt». Alle wichtigen Wahlen (Landesämter, oberste Gerichte, Gesandte, zahlreiche Beamte) fanden an der Landsgemeinde statt. Weiter stand ihr der Erlass neuer Gesetze zu, die Bestätigung von Gewohnheiten und Landbüchern sowie die Genehmigung von zahlreichen Entscheiden der eidgenössischen Tagsatzungen. Zahlenmässig am bedeutsamsten waren die Verwaltungsgeschäfte (Aussenbeziehungen, Reisläuferei, Steuern und Finanzen, Landrechtserteilungen, Gemeinmarch). Die Landsgemeinde war auch richterliche Instanz. Die Zivilgerichtsbarkeit ging schon im Spätmittelalter an besondere Gerichte über. Für die Strafjustiz, ausser für politische Prozesse, entstanden in der Neuzeit entsprechende Instanzen (Rat, mehrfacher Rat). Nur in Nidwalden blieb die hohe Gerichtsbarkeit bis 1850 bei der Landsgemeinde bzw. beim Landtag. Es gab aber weder eine Gewaltenteilung noch eine fixierte Aufteilung der Kompetenzen. Theoretisch war die Landsgemeinde allgewaltig und konnte in der Regel von einer anderen Instanz (Rat, Gericht) wahrgenommene Kompetenz wieder selbst übernehmen.

Zur Teilnahme an der Landsgemeinde berechtigt waren die ehr- und wehrfähigen Landleute männlichen Geschlechts, also alle im Landrecht Stehenden bzw. jene, die das Landrecht erworben hatten. In vielen Orten betrug das Zulassungsalter 14, in anderen 16 Jahre. Das Antragsrecht stand jedem Einzelnen zu, in Uri einem sogenannten Siebengeschlecht (d.h. sieben Männern aus sieben verschiedenen Geschlechtern). Jedes Jahr fand die ordentliche Landsgemeinde statt, Ende April oder Anfang Mai, nötigenfalls eine Nachgemeinde und darüber hinaus nach Bedarf zusätzliche ausserordentliche Versammlungen. Alle Landsgemeinden waren umrahmt von einem feierlichen Zeremoniell mit grossem Symbolgehalt. Der Landammann als führender Mann in den Länderorten leitete die Verhandlungen. Eine ähnliche, allerdings weniger hervorgehobene Stellung kam den Vorstehern der Bündner Gerichtsgemeinden (Landammann, Mistral, Podestà) und der Walliser Zenden (Grosskastlan) zu.

Der Vorbildcharakter der Landsgemeinden wirkte vor allem im Spätmittelalter (Appenzeller Kriege 1401-1429), 1653 im schweizerischen Bauernkrieg, 1798, bevor die Helvetische Republik dekretiert wurde, und auch in den 1830er Jahren. Die Freiheit der Landsgemeinde gründete jedoch nicht, wie das Freiheitsverständnis der Aufklärung, auf naturrechtlichen Vorstellungen, sondern galt als Privileg, das nur den Landleuten zukam. Einerseits wurden ältere Beziehungen zum Reich freiheitsbegründend, andererseits waren es die Freikäufe aus Grundherrschaften, durch die allmählich Eigenleute zu Freien und Lehen zu Eigentum wurden. Dieser Prozess war um den Vierwaldstättersee um 1400 abgeschlossen. Trotz der egalitären Organisationsform der Landsgemeinde existierte auch in den Länderorten, in Graubünden und im Wallis eine Führungsschicht. Die Verankerung der Landsgemeinde als oberste Gewalt verhinderte jedoch die Beschränkung der Regimentsfähigkeit auf ein eigentliches Patriziat. Die führenden Kreise mussten immer wieder den Konsens des Volks suchen. Die daraus entstehenden Missbräuche wie der Stimmenkauf wurden von den Landgemeinden bekämpft (Ämterkauf). Auflagensysteme dienten dazu, gewöhnliche Landsleute an den Gewinnen, die mit der Amtstätigkeit verbunden waren, zu beteiligen. Mit Praktizierordnungen wollte man verhindern, dass gewisse Landsleute zusätzliches Geld erhielten bzw. bessergestellt wurden als andere.

19. und 20. Jahrhundert

Nach dem Untergang der alten Eidgenossenschaft 1798 entstanden an mehreren Orten neue Landsgemeinden, da viele Bürger sie als Idealform der Demokratie ansahen. In der Helvetik waren sie aber verboten (Helvetische Republik). Die Mediationsverfassung ermöglichte die Landsgemeinden wieder, was alle Länderorte veranlasste, zu ihr zurückzukehren. Ihre innere Verfassung und die Kompetenzen mussten jedoch laufend dem übergeordneten Recht (Mediationsverfassung 1803, Bundesvertrag 1815, Bundesverfassungen 1848 und 1874) angepasst werden. Auch in den Gerichten und Hochgerichten Graubündens wurde das System der unmittelbaren Demokratie wieder eingeführt, wo es sich teilweise bis heute halten konnte, während in den Zenden des Kantons Wallis repräsentative Entscheidungsformen entstanden. Gersau verlor seine Selbstständigkeit und kam zum Kanton Schwyz, Ursern wurde dem Kanton Uri angegliedert, konnte aber für die bürgerlichen Geschäfte seine Talgemeinde bewahren. In den anderen einst abhängigen Landschaften blieben die Landsgemeinden jedoch aufgehoben.

Die Auseinandersetzung mit der Landsgemeindedemokratie und die Beliebtheit dieses Systems bei der Landbevölkerung führten dazu, dass die Volkstage von 1830 in die Tradition der Landsgemeinden gestellt wurden. Die Verfassungen der 1830er Jahre und die repräsentative Bundesverfassung von 1848 verankerten die direktdemokratischen Rechte der Kantone (Kantonsverfassungen). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die demokratischen Elemente im Bundesstaat nach dem Vorbild der Landsgemeinden ausgeweitet. Die Verfassung von 1848 basierte auf den Konzepten der Aufklärung und der Lehre von der Volkssouveränität (Jean-Jacques Rousseau, Souveränität). Die revidierte Bundesverfassung von 1874 stand für die Verschmelzung der liberal-repräsentativen Demokratie mit der Versammlungsdemokratie, die sich auf das historische Beispiel der Landsgemeinden berief.

Landsgemeinde in Altdorf, 1. Mai 1927. 35-mm-Stummfilm von Willy Leuzinger (Cinémathèque suisse, Filmsammlung Cinema Leuzinger, Signatur 34b; Konsultativkopie Memobase ID CS-14_1_2).
Landsgemeinde in Altdorf, 1. Mai 1927. 35-mm-Stummfilm von Willy Leuzinger (Cinémathèque suisse, Filmsammlung Cinema Leuzinger, Signatur 34b; Konsultativkopie Memobase ID CS-14_1_2). […]

Bei den Kompetenzen und in der Ausgestaltung der Verfassung der Landsgemeinden schlugen die Länderorte unterschiedliche Pfade ein. In Uri und Appenzell Innerrhoden blieben die Wahl-, Gesetzgebungs- und Finanzkompetenzen sowie die freie Beratung am stärksten erhalten. Appenzell Ausserrhoden ersetzte 1876 die freie Beratung durch eine sogenannte Volksdiskussion im Vorfeld der Landsgemeinde. Bis 1995 und wieder ab 1998 wurde der Ständerat an der Urne gewählt, in der kurzen Zeit dazwischen an der Landsgemeinde. Obwalden führte 1922 für Verfassungs- und Gesetzesvorlagen die Urnenabstimmung ein, an der Landsgemeinde fand darüber nur mehr eine Beratung statt, bis diese 1968 auch für Gesetzesvorlagen aufgehoben wurde. Seit 1971 wählt Glarus die Regierungs- und Ständeräte an der Urne. 1994 verwies Nidwalden alle bedeutsamen Wahlen (Regierungsrat, Ständerat), Verfassungsänderungen und andere wichtige Abstimmungen an die Urne. Versuche zur Aufhebung der Landsgemeinden wurden seit der Regeneration immer wieder unternommen. In manchen Kantonen waren sie erst nach mehreren Anläufen erfolgreich. In Zug und Schwyz wurde die Landsgemeinde 1848 abgeschafft, in Uri 1928. Bei einem Urnenentscheid stimmte Nidwalden 1996 ihrer Aufhebung zu. 1997 folgte Appenzell Ausserrhoden, auch durch Urnenentscheid, 1998 ebenso Obwalden (nach den vergeblichen Versuchen von 1919, 1922, 1966, 1973). Seit der Ausscheidung der schwyzerischen Oberallmeind und der Korporation Uri aus dem Staatsverband (1833 bzw. 1888) leben in deren Gemeinden zwei Institutionen weiter, die unmittelbar auf die Landsgemeinde im alten Land Schwyz und in Uri zurückgehen.

Das Handmehr an der Landsgemeinde Glarus im Mai 1940. Fotografie von Joseph Hayot (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, Actualités suisses Lausanne, Presse-Diffusion).
Das Handmehr an der Landsgemeinde Glarus im Mai 1940. Fotografie von Joseph Hayot (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, Actualités suisses Lausanne, Presse-Diffusion). […]

Die Gründe für die Aufhebung der Landsgemeinde haben sich seit 1848 gewandelt. In Zug, Schwyz und Uri waren vor allem regionale Spannungen ausschlaggebend. Dazu kamen parteipolitische Disparitäten und in Uri und Schwyz der Einwand der Benachteiligung abgelegener Regionen. Die Aufhebung der Landsgemeinde in Nidwalden, Obwalden und Appenzell Ausserrhoden 1996-1998 war durch organisatorische Gründe (u.a. Platzmangel nach der Einführung des Frauenstimmrechts) und die stärkere Hinwendung zu den modernen Demokratieformen (v.a. Stimmabgabe an der Urne) ausgelöst worden.

Quellen und Literatur

  • Ryffel, Heinrich: Die schweizerischen Landsgemeinden nach geltendem Rechte, 1903.
  • Liebeskind, Wolfgang Amadeus: Landsgemeinde et suffrage féminin, 1971, S. 371-375.
  • Duroy, Stephane: «Les "Landsgemeinden" suisses», in: Les procédés de la démocratie semi-directe dans l'administration locale en Suisse, 1987, S. 1-94.
  • Stauffacher, Hans Rudolf: Herrschaft und Landsgemeinde. Die Machtelite in Evangelisch-Glarus vor und nach der Helvetischen Revolution, 1989.
  • Blickle, Peter: «Friede und Verfassung. Voraussetzungen und Folgen der Eidgenossenschaft von 1291», in: Historischer Verein der Fünf Orte (Hg.): Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft. Jubiläumsschrift 700 Jahre Eidgenossenschaft, Bd. 1, 1990, S. 15-202.
  • Kälin, Urs: Die Urner Magistratenfamilien. Herrschaft, ökonomische Lage und Lebensstil einer ländlichen Oberschicht, 1750-1850, 1991.
  • Carlen, Louis: «Die Landsgemeinde», in: Auer, Andreas (Hg.): Die Ursprünge der schweizerischen direkten Demokratie, 1996, S. 15-25 (mit Bibliografie).
  • Brändle, Fabian: Demokratie und Charisma. Fünf Landsgemeindekonflikte im 18. Jahrhundert, 2005.
  • Adler, Benjamin: Die Entstehung der direkten Demokratie. Das Beispiel der Landsgemeinde Schwyz 1798-1866, 2006.
  • Wickli, Bruno: Politische Kultur und die «reine Demokratie». Verfassungskämpfe und ländliche Volksbewegungen im Kanton St. Gallen 1814/15 und 1830/31, 2006.
Weblinks

Zitiervorschlag

Hans Stadler: "Landsgemeinde", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 18.01.2021. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010239/2021-01-18/, konsultiert am 19.03.2024.