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Kirchgemeinde

Die Kirchgemeinde bildet eine Körperschaft, deren Mitglieder über die passive Zugehörigkeit zu einer Pfarrkirche hinaus genossenschaftliche Mitbestimmungsrechte in materiellen und organisatorischen Belangen der betreffenden Kirche besitzen. Das mittelalterliche Kirchenrecht kannte die Kirchgemeinde als selbstständige Trägerin von Rechten nicht, sondern sah sie lediglich als Untereinheit der Diözese (Pfarrei). Gleichwohl bildeten sich im Spätmittelalter im Zusammenhang mit der Entstehung und Erstarkung städtischer und ländlicher Kommunen (Gemeinde) auch genossenschaftlich handelnde Kirchverbände, welche faktisch die Aufgaben von Kirchgemeinden übernahmen. Sie gewannen durch kollektive Initiativen und Stiftungen zunehmend Einfluss auf Umfang und Intensität der geistlichen Versorgung und erhielten dadurch ein eigenständiges Gewicht gegenüber der früheren Dominanz von weltlichen und geistlichen Kirchenherren. Vor allem im Alpenraum und insbesondere in der Innerschweiz lässt sich gut beobachten, wie sich Gemeinden im 15. Jahrhundert vielerorts durch den Erwerb von Patronatsrechten oder durch Neustiftungen von Kirchen Formen der Mitbestimmung bis hin zur Präsentation des Pfarrers sicherten. Dem Stifter bzw. der Kirchgemeinde wurden damit auch einklagbare Rechte über die Pflichten des Priesters und somit Mitsprache in seelsorgerischen Fragen eingeräumt.

Die Reformation machte die Kirchgemeinde als Ort der Verkündigung und sichtbaren Erscheinung der Kirche zum zentralen Element der kirchlichen Verfassung (Evangelisch-reformierte Kirchen). Diese Stärkung des Gemeindeprinzips stützte sich auf die spätmittelalterliche kommunale Entwicklung und entsprach weitgehend den Vorstellungen, welche in den zwölf Artikeln von Memmingen der bäuerlichen Gemeinden während des Bauernkriegs von 1525 zum Ausdruck kamen. Konkrete Forderungen nach Gemeindeautonomie im kirchlichen Bereich, nach Pfarrerwahl und Verfügung über den Zehnten blieben in der Folge aber unerfüllt. In den reformierten Orten wurde wohl mit der Reformation die Kirchgemeinde als Körperschaft begründet, jedoch eingebunden in obrigkeitlich bestimmte staatskirchliche Ordnungen: Die Pfarrer wurden von obrigkeitlichen Kirchenbehörden eingesetzt, das Kirchengut ebenfalls von diesen verwaltet, die kirchliche Lehre staatlich kontrolliert. Mitwirkung in der Gemeinde bestand in der Verwaltung von lokalem Sondergut, im Unterhalt kirchlicher Bauten und in der Besetzung der Kirchenämter (Kirchmeier und Sigrist) und Sittengerichte (Chorgerichte, Bannbrüder usw.), welche die alten bischöflichen Offizialgerichte weitgehend ersetzten.

In den katholischen Orten konnte ein Ausbau gemeindlicher Positionen im 16. Jahrhundert nicht mehr erfolgen (Katholische Kirche). Kirchliche und weltliche Herrschaftsträger, welche die Mehrzahl der Kollaturen innehatten, erlangten eine weitgehende Aufsicht über die Besetzung und Verwaltung der Pfarreien und liessen den Gemeinden hierin kaum institutionellen Handlungsspielraum. Von den Gemeinden selbstständig mitgetragen wurden weiterhin kirchliche Bauaufgaben, Formen des religiösen Lebens und kirchlichen Brauchtums. Konfessionell gemischte Gemeinden mit unterschiedlich geregelter Güterteilung und Kirchenbenützung gab es in den gemeinen Herrschaften, wo katholische Minderheiten aufgrund des Zweiten Kappeler Landfriedens geschützt waren (Konfessionelle Parität). Ganz auf der Ebene der einzelnen Gemeinden lag die Entscheidung über die Konfession in Graubünden.

Im 19. Jahrhundert wandelten sich in den einzelnen Kantonen die Staatskirchen des Ancien Régime vielfach zu kantonalen Landeskirchen. In der Regenerationszeit erhielten die Kirchgemeinden hauptsächlich in den reformierten Kantonen, parallel zu politischen Demokratisierungsprozessen, unter dem Einfluss liberalen Gedankenguts grösseren rechtlichen Handlungsspielraum im Sinne einer verstärkten Gemeindeautonomie. Das rechtliche Modell selbstständiger Kirchgemeinden im Rahmen einer kantonalen Landeskirche war aufgrund des unterschiedlichen Kirchenverständnisses nicht ohne weiteres auf die katholischen Kantone übertragbar. Seit dem 19. Jahrhundert wurde zum Teil unter liberalem Druck und in Anpassung an die Rechtsverhältnisse in den reformierten Kantonen, auch in mehreren katholischen Kantonen neben der im kirchlichen Recht verankerten Pfarrei die staatskirchenrechtliche Institution der Kirchgemeinde geschaffen. Ihre Befugnisse lagen wesentlich in vermögensrechtlichen und verwaltungstechnischen Angelegenheiten. Komplizierter waren in katholischen Gebieten die Verhältnisse bei der gemeindlichen Beteiligung an der Pfarrerbesetzung. Die bei den Kantonen liegenden Patronatsrechte verblieben zum Teil bei diesen, andere wurden an die Kirchgemeinden bzw. an kantonale Synoden abgetreten. Dabei entwickelten sich unterschiedliche Verfahren der Präsentation, Wahl und Approbation durch Kirchgemeinde, kantonale Behörden, Synoden und den Bischof.

Mit der zunehmenden konfessionellen Durchmischung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie auch mit dem Kulturkampf und der Konstituierung der christkatholischen Kirche brach vielerorts die frühere Einheit von politischer und kirchlicher Gemeinde auseinander, was eine stärkere Entflechtung von Staat und Kirchen nötig machte. Längerfristig ging die Entwicklung bei der Mehrzahl der Kantone dahin, die grossen Konfessionen in paritätischem Sinn als Landeskirchen bzw. Körperschaften mit öffentlich-rechtlichem Charakter anzuerkennen. Je nach Ausgestaltung der jeweiligen Verfassungen wurden evangelisch-reformierte, römisch-katholische und christkatholische Kirchgemeinden zu Selbstverwaltungskörpern, welche als kantonale Spezialgemeinden gelten und im kantonalen Gemeindegesetz begründet sind; oder sie wurden – wenn schon nicht mehr ausdrücklich auf kantonales Gemeinderecht festgelegt – als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit eigener Rechtspersönlichkeit definiert. Allgemein behielt die Organisation der Kirchgemeinde mit Kirchgemeindeversammlung und Kirchgemeinderat ihre traditionelle Verwandtschaft mit derjenigen der politischen Gemeinde bei. Ganz aus der Kantonsorganisation gelöst und privatrechtlich organisiert sind die Kirchgemeinden aufgrund der Trennung von Kirche und Staat lediglich in Neuenburg und Genf. Seit den 1830er Jahren gibt es ausserdem Kirchgemeinden der evangelischen Freikirchen, die jedoch staatlich nicht anerkannt sind.

Quellen und Literatur

  • J.G. Fuchs, «Das schweiz. Staatskirchenrecht des 19. Jh. als Folge des zwinglian. Staatsdenkens und als typ. Schöpfung des Liberalismus», in ZRG KA 101, 1984, 271-300
  • P.-L. Surchat, «Diözese Basel», in Pfarr- und Gemeindeorganisation, hg. von E. Gatz, 1987, 59-77
  • Bäuerl. Frömmigkeit und kommunale Reformation, bearb. von H. von Rütte, 1988
  • C. Pfaff, «Pfarrei und Pfarreileben», in Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft 1, 1990, 205-282
  • D. Kraus, Schweiz. Staatskirchenrecht, 1993
  • H.R. Schmidt, Dorf und Religion, 1995
  • I. Saulle Hippenmeyer, Nachbarschaft, Pfarrei und Gem. in Graubünden, 1400-1600, 1997
  • C.R. Famos, «Leitung und Gliederung einer evang.-ref. Kirchgemeinde», in Schweiz. Jb. für Kirchenrecht 4, 1999, 11-36
Weblinks

Zitiervorschlag

Hans Berner: "Kirchgemeinde", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 20.05.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010263/2010-05-20/, konsultiert am 23.04.2025.