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Staatsrechtliche Beschwerde

Das Rechtsmittel der staatsrechtlichen Beschwerde wurde durch Artikel 105 der Bundesverfassung (BV) von 1848 eingeführt, ohne dass der Ausdruck dort erschien. Der Verfassungsgeber schuf es zur Beurteilung von Beschwerden von Bürgern wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte. Nach der Errichtung des Bundesstaats sollte sich nur die Bundesversammlung als stärkstes Staatsorgan mit diesen politischen Fragen beschäftigen. Diese konnte im Einzelfall beschliessen, eine Beschwerde dem Bundesgericht zu überweisen, was vor 1874 ein einziges Mal geschah (Urteil vom 3. Juli 1852 im Fall Dupré). Die Totalrevision der BV von 1874 schuf in Artikel 113 Absatz 1 eine generelle Zuständigkeit des Bundesgerichts betreffend solcher Beschwerden, behielt aber die gesetzlich festzustellenden Administrativstreitigkeiten vor. Letztere fielen in erster Instanz in die Zuständigkeit des Bundesrats und in zweiter Instanz in jene der Bundesversammlung. Die Rechtsprechungszuständigkeiten der politischen Behörden wurden allmählich abgebaut und 1999 ganz beseitigt. Die staatsrechtliche Beschwerde war nur gegen Akte der Kantone zulässig, wogegen die Akte des Bundes ab 1969 mit dem Rechtsmittel der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht angefochten werden konnten. Im Rahmen der 2007 in Kraft gesetzten Justizreform legte man die beiden bisherigen Rechtsmittel in der «Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten» (sogenannte Einheitsbeschwerde) zusammen. Zusätzlich wurde die subsidiäre Verfassungsbeschwerde eingefügt. Auf diese Weise entfielen schwierige Abgrenzungsfragen und ferner konnte die gerichtliche Zuständigkeit ausgebaut werden. Denn der Bund ersetzte die bisher zahlreichen Rekurskommissionen (Spezialverwaltungsgerichte) durch das Bundesverwaltungsgericht, das als Vorinstanz des Bundesgerichts eingeschaltet wurde. Auf diese Weise konnte die in der Verfassung gewährleistete Rechtsweggarantie (Artikel 29a BV 1999) umgesetzt werden, allerdings bestehen noch immer Lücken, da die Verfassung «Ausnahmen» von der Garantie erlaubt. Zudem bleiben die Bundesgesetze für das Bundesgericht massgebend, d.h. dessen Verfassungsgerichtsbarkeit ist beschränkt.

Die staatsrechtliche Beschwerde hatte für den politischen Zusammenhalt der Schweiz eine grosse Bedeutung. Die politischen Behörden zuerst und später das Bundesgericht implementierten die Freiheitsrechte, die nicht in allen Kantonen politisch akzeptiert waren. Für die Bevölkerung stellte das Rechtsmittel die letzte Sicherung gegen Behördenwillkür dar. Es verkörperte die Vorstellung, dass es mit der staatsrechtlichen Beschwerde immer noch eine Möglichkeit gebe, in «Lausanne» Recht zu bekommen. Die neue Einheitsbeschwerde hat daran nichts geändert und gewährt einen guten Schutz. Denn gegen kantonale Akte werden allfällige Rechtsschutzlücken durch die subsidiäre Verfassungsbeschwerde gänzlich aufgefangen.

Quellen und Literatur

  • Z. Giacometti, Die Verfassungsgerichtsbarkeit des schweiz. Bundesgerichts, 1933, 32 f.
  • W. Kälin, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 1984 (21994)
  • P. Karlen, Das neue Bundesgerichtsgesetz, 2006
  • F. Bellanger, «Le recours en matière de droit public», in Les recours au Tribunal fédéral, hg. von B. Foëx et al., 2007, 133-156
  • Bundesgerichtsgesetz, hg. von M.A. Niggli et al., 2008
Weblinks

Zitiervorschlag

Andreas Kley: "Staatsrechtliche Beschwerde", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 24.02.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010372/2012-02-24/, konsultiert am 09.04.2024.