Abstimmungen sind Entscheidungen in Gesamtheiten von Entscheidungsberechtigten. Im Unterschied zu Wahlen beziehen sie sich auf Sachfragen, nämlich Ordnungen (Regelungen) und Handlungen (v.a. Leistungen) der Gesamtheit, ihrer Organe und ihrer Teile. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf Entscheidungen öffentlich-rechtlicher Gebietskörperschaften.
Abstimmungen über Sachfragen sind ein Hauptmerkmal der halbdirekten Demokratie, wie sie sich vor allem in der Schweiz ausgebildet hat (Politische Rechte). Ihre historischen Wurzeln liegen einerseits in den Entscheidverfahren kommunaler bzw. regionaler Mit- und Selbstverwaltung oder -bestimmung seit dem Mittelalter, andererseits in der konsultativen Befragung der männlichen Untertanen durch die Regierungen einzelner eidgenössischer Orte (v.a. Bern, Zürich) im 15.-17. Jahrhundert (Ämteranfragen). Solche Abstimmungen fanden in der Regel in offenen Versammlungen statt (Gemeindeversammlungen, Landsgemeinde).
Entwicklung der Abstimmungen im 19. und 20. Jahrhundert
Autorin/Autor:
Peter Gilg
Die erste gesamtschweizerische Volksabstimmung fällt in die Zeit der Helvetischen Republik. Die helvetische Verfassung von 1798 erteilte den Bürgern das Recht, über Verfassungsfragen zu entscheiden, trat aber nach blossen Scheinabstimmungen in Kraft. 1802 wurde den Stimmberechtigten eine neue Konstitution vorgelegt, über die sie durch namentliche Eintragung in öffentliche Register zu befinden hatten. Nichtstimmende galten als Annehmende; nur dank dieser Zählart war das Ergebnis positiv.
Die moderne Form der Abstimmungen wurde zuerst in den Kantonen entwickelt (Stimm- und Wahlrecht). Die kantonalen Verfassungen der Restauration traten meist noch ohne direkte Zustimmung der Bürger in Kraft. In der Regeneration setzte sich dann die Volksabstimmung über Verfassungsfragen in den erneuerten Kantonen (ohne Freiburg) durch. 1831-1841 erhielten die Bürger in St. Gallen, Basel-Landschaft, Wallis und Luzern in Form des Vetos auch schon eine noch komplizierte und meist nicht sehr erfolgreiche Möglichkeit, das Inkrafttreten von Gesetzen und anderen Beschlüssen des Parlaments (einschliesslich bestimmter Staatsverträge) zu verhindern. Allgemeine Volksabstimmungen über Erlasse unterhalb der Verfassungsstufe wurden im Wallis (1844-1848 obligatorisches Referendum) und in der Waadt (1845 umfassendes Initiativrecht) eingeführt (Volksinitiative).
Die Bundesverfassung (BV) von 1848 unterstellte eidgenössische Verfassungsfragen ― neben dem Erfordernis einer Zustimmung der Mehrheit der Kantone (Ständemehr) ― dem Entscheid der Bürger (Volksmehr) und schrieb Entsprechendes für die kantonalen Verfassungen vor. Sie selber wurde allerdings keiner allgemeinen eidgenössischen Volksabstimmung unterbreitet. Die meisten Kantone führten aber eine solche von sich aus durch, wie es einige von ihnen schon 1833 über die erfolglose Revision des Bundesvertrags getan hatten. Während Abstimmungen auf den Ebenen des Bundes wie der meisten Kantone bis gegen 1870 eher selten waren, brachte die demokratische Bewegung mit der Verbreitung von Institutionen der halbdirekten Demokratie eine erhebliche Zunahme der Volksentscheide. Nach vereinzelten kantonalen Reformen 1849-1858 (z.B. obligatorisches Gesetzesreferendum in Graubünden, fakultatives in Solothurn, blosses Finanzreferendum im Wallis und in Neuenburg) wurde 1863-1873 das obligatorische Gesetzesreferendum in Basel-Landschaft, Zürich, Thurgau, Bern, Solothurn und Aargau sowie das fakultative in Schaffhausen, Luzern und Zug eingeführt, meist in Verbindung mit der Gesetzesinitiative. Mit der Totalrevision von 1874 erhielt auch die BV ein fakultatives Referendum für Gesetze und allgemein verbindliche Beschlüsse. Staatsverträge wurden ihm erst 1921 unterstellt. Bis 1883 zogen die meisten übrigen Kantone nach, Wallis (1907) und Freiburg (1921) erst im 20. Jahrhundert.
Auf der kommunalen Ebene hat sich vor allem in kleinen Gemeinden bis heute das Entscheidungsverfahren in Gemeindeversammlungen erhalten. Nachdem jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – namentlich in grösseren Städten – Gemeindeversammlungen zunehmend durch Parlamente ersetzt wurden, fand die halbdirekte Demokratie mit Referendum (und oft auch Initiative) zusätzlich auf Gemeindestufe Eingang, so zuerst in den Städten Bern (1887) und Zürich (1891), ferner in allen Gemeinden der Kantone Neuenburg (1888) und Genf (1895) sowie in den grösseren Gemeinden des Tessins (1897).
Im Zusammenhang mit der Jurafrage wurden 1974-1989 im jurassischen Teil des Kantons Bern regionale und kommunale Abstimmungen durchgeführt, in denen es um die künftige kantonale Zugehörigkeit ging. Solche Abstimmungen über Kantonswechsel von Teilgebieten haben in der Schweiz noch keine allgemeine staatsrechtliche Grundlage und werden zur Unterscheidung von normalen Volksentscheiden Plebiszite genannt.
Die grundrechtlichen Bedingungen für Abstimmungen (allgemein, gleich, frei und geheim), die heute – mit Ausnahme der Landsgemeinde und ähnlich organisierter Gemeindeversammlungen – anerkannt sind, erhielten im 19. Jahrhundert nur allmählich Geltung. In der Regeneration zählten sogar einzelne Kantone – Luzern noch 1848 – die Nichtstimmenden als annehmend. Die Behörden des Bundesstaates vermochten in den Kantonen – selbst für eidgenössische Abstimmungen und Wahlen – kein einheitliches Verfahren durchzusetzen. Die geheime Urnenabstimmung wurde in der Mehrzahl der Kantone nicht vor 1870 zur Regel; als Letzte folgten St. Gallen, Luzern, Freiburg und Basel-Landschaft in den 1890er Jahren. Nur schrittweise erweitert wurde auch der Kreis der Teilnahmeberechtigten. In verschiedenen Kantonen erhielten Zugezogene, Armengenössige, Nichtsteuerzahler und Konkursiten erst im späteren 19. Jahrhundert bzw. im frühen 20. Jahrhundert die politische Gleichberechtigung. Die Frauen blieben bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von den Abstimmungen ausgeschlossen (Frauenstimmrecht), die 18- und 19-Jährigen bis ins dritte Viertel.
Die Häufigkeit von Abstimmungen in den Kantonen variiert sehr stark; einsam an der Spitze steht Zürich (1979-1997: 14,1 Vorlagen pro Jahr), gefolgt von Solothurn (9,6) und Basel-Landschaft (8,9), während Freiburg (2,2), Tessin (1,5) und Jura (1,0) das Ende der Rangliste bilden. Die Unterschiede hängen zum Teil von der Ausgestaltung der Volksrechte (inhaltliche Reichweite, fakultative oder obligatorische Auslösung, Höhe der erforderlichen Zahl der Begehrenden) ab; diese wiederum und ebenso die Inanspruchnahme der Rechte sind Ausdruck der regionalen politischen Kultur und des jeweiligen politischen Klimas. Im Allgemeinen sind Volksentscheide in der deutschen Schweiz häufiger als in den übrigen Gebieten. Im zeitlichen Vergleich ist die Zahl der eidgenössischen Abstimmungen in den 1920er, 1950er wie seit den 1970er Jahren relativ hoch.
Die politische Bedeutung der Abstimmungen
Autorin/Autor:
Peter Gilg
Abstimmungen erscheinen als sinnfälligster Ausdruck des Grundsatzes der Volkssouveränität in der modernen Massendemokratie. Durch den Entscheid über Sachfragen nehmen die Bürger direkteren Einfluss auf das Handeln der Behörden als durch Wahlen, an der Urne geben die Stimmenden ihre Meinung selbstständiger kund als in einer offenen Versammlung und auch verbindlicher als in einer repräsentativen Umfrage. All dies verleiht den Abstimmungsentscheiden eine erhöhte demokratische Legitimität. Solchen souveränitätsrechtlichen Überlegungen wurde schon in der Regeneration der Gesichtspunkt der Qualität des Rechts entgegengehalten, die nur von einer Bildungselite gewährleistet werden könne. Gegen die qualitative Überlegenheit des politischen Urteils einer Elite machte aber bereits im 19. Jahrhundert der Sozialismus geltend, dass das Bürgertum mit den von ihm geschaffenen Institutionen seine eigenen Klasseninteressen durchsetze, und die demokratische Bewegung erwartete von der halbdirekten Demokratie eine dem allgemeinen Volksinteresse gemässere Politik.
Bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts war die Stimmabgabe der Bürger noch stark von den kollektiven Vorstellungen grosser gesellschaftlicher Gruppen (Liberale, Konservative, Arbeiterschaft, Bürgertum, Bauern) geprägt, die ihre Ideen und Interessen vor allem durch die ihnen nahestehende Presse und durch das öffentliche Wirken ihrer Wortführer verbreiteten. Infolge der Entideologisierung und Individualisierung der Gesellschaft haben solche Orientierungshilfen seither an Bedeutung eingebüsst. Politologische Untersuchungen haben ergeben, dass auch heute ein grosser Teil der Stimmberechtigten durch den komplexen Inhalt vieler Vorlagen mehr oder weniger überfordert ist. Dies fördert einerseits die Stimmabstinenz (Stimm- und Wahlbeteiligung), andererseits die Beeinflussbarkeit der Volksentscheide. So hat die Beteiligung in den 1950er und 1960er Jahren deutlich abgenommen, wobei mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten ein selektives Verhalten zeigte, das von ihrer Motivierung durch die vorgelegten Gegenstände abhängt. Die höchsten Beteiligungen seit 1980 erreichten die Abstimmungen über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 (78,7%) sowie über die Initiativen zur Abschaffung der Armee 1989 (69,2%) und für den UNO-Beitritt 2002 (58,4%). Die Beeinflussung erfolgt heute vor allem durch Auftritte und Aussagen politischer Persönlichkeiten in den Massenmedien sowie durch professionelle Werbeaktionen (Inserate, Plakate, Postsendungen usw.), wobei die Ungleichheit der eingesetzten Finanzmittel ins Gewicht fällt. Die politische Werbung ist namentlich bei Abstimmungen über komplexe Materien erfolgreich, weit weniger bei Vorlagen, deren Konsequenzen besser überschaubar sind. So kommt es im Vorfeld von umstrittenen Vorlagen zu lebhaften öffentlichen Auseinandersetzungen (Abstimmungskämpfe), die dem politischen Leben des Bundesstaates starke, von den Medien markierte Akzente verleihen.