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Kindheit

Als Kindheit wird der Lebensabschnitt von der Geburt bis zum Jugendalter (Jugend) bezeichnet. Die Vorstellungen vom Wesen des Kindes, seiner Sozialisation und seinem Platz innerhalb der Familie sind gesellschaftlichen Wandlungsprozessen unterworfen. Die sozioökonomische Situation der Familie und deren kulturelle Normen, die ihrerseits lange massgeblich durch die Lehren der katholischen und reformierten Kirche beeinflusst waren, wirkten bis ins 21. Jahrhundert prägend auf die Kindheit in der Schweiz.

Kindheit im Mittelalter und in der frühen Neuzeit

In der antiken Tradition wurde die Kindheit in zwei Abschnitte eingeteilt: Die infantia war die Zeit der eigentlichen Pflegebedürftigkeit bis zum siebten oder achten Lebensjahr. Ihr folgte die pueritia, die im Alter von 14-16 Jahren von der adolescentia abgelöst wurde, welche bereits zum Erwachsenenalter gehörte. Dieses Konzept wurde zu Beginn des 7. Jahrhunderts von Isidor von Sevilla aufgegriffen und blieb für das ganze Mittelalter von Bedeutung. Kinder betrachtete man als formbare Wesen, die durch die Erbsünde belastet zur Welt kamen und durch die Taufe Mitglieder der Kirche wurden. Nach ihrer Firmung und somit dem Übergang in die pueritia galten sie als fähig, die Obhut ihrer Familien zu verlassen und sich je nach Stand und Geschlecht bei einer fremden oder bekannten Familie ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Kinder aus der Oberschicht erhielten ab diesem Alter in einem fremden Haushalt, in einer Schule oder an einem Hof eine Erziehung. Insbesondere uneheliche Kinder waren von Kindesaussetzung und Kindesmord bedroht. Waisen wurden bis zum Alter von sieben Jahren auch in Klöstern, Spitälern oder Findelhäusern aufgezogen, um dann häufig verdingt zu werden (Verdingung).

Ausschnitt einer Ansicht von Belp, um 1780. Federzeichnung von Johann Ludwig Aberli (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Sammlung Gugelmann).
Ausschnitt einer Ansicht von Belp, um 1780. Federzeichnung von Johann Ludwig Aberli (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Sammlung Gugelmann). […]

Veränderungen im zweigeteilten Konzept der Kindheit vollzogen sich beim Stadtbürgertum bereits im Mittelalter. Kindern wurde eine längere Phase des Verbleibens in der Familie zugebilligt. Ziel war es, Charaktertugenden wie Disziplin zu stärken und Knaben eine gute Schul- und Berufsbildung zu vermitteln. Im 16. und 17. Jahrhundert konstituierte sich die Kindheit innerhalb der bürgerlichen Familie als eigenständige Lebensform. Die Phase der behüteten Kindheit, in der den Kindern eigene Verhaltensweisen zugestanden wurden, dehnte sich aus. In Anlehnung an die Schriften von Jean-Jacques Rousseau und Johann Heinrich Pestalozzi wurden im 18. Jahrhundert der liebevolle, häusliche Schonraum und die "wachsenlassende Erziehung" (Rousseau) als notwendige Phase zur Formung des Individuums erkannt. Die geschlechtsspezifische Konnotation dieses Entwicklungsprozesses – Entwicklung von freien männlichen Individuen bzw. von hingebungsvollen weiblichen Wesen – galt als konstitutiv für Familie und Staat.

Kindheit im 19. Jahrhundert

Generell prägend für die Kindheit im 19. Jahrhundert war die abnehmende Kindersterblichkeit (Mortalität). Bis ins 18. Jahrhundert erreichte nur etwa die Hälfte der Kinder das Jugendalter. Aufgrund der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozesse, hauptsächlich des Fortschritts der Medizin, sank nach der Wende zum 19. Jahrhundert zuerst die Kindersterblichkeit, dann die Geburtenrate kontinuierlich. Das bürgerliche Konzept der Kindheit setzte sich durch und prägte auch in traditionellen Arbeitsgemeinschaften die Vorstellungen von der Kindheit. So schmälerten das eidgenössische Schulobligatorium (Schulwesen), in einzelnen Kantonen schon vor 1848 eingeführt, und das Verbot der Kinderarbeit im Fabrikgesetz von 1877 die Verfügungsmacht der Eltern. Die Kindheit wurde im 19. Jahrhundert auch in nichtbürgerlichen Schichten als Phase des häuslichen Zusammenlebens von der Geburt bis zur Beendigung der obligatorischen Volksschule verstanden, d.h. bis zum Alter von 13-15 Jahren. Die Übergangsriten von Konfirmation bzw. Firmung markierten das Ende dieser Phase. Im Alltag liessen sich trotz der ideologischen und gesellschaftlichen Dominanz des bürgerlichen Konzepts von Kindheit verschiedene Ausprägungen der Kindheit unterscheiden.

Kindheit in traditionellen Arbeitsgemeinschaften

Familien mit traditionell bäuerlichem und gewerblichem Hintergrund sowie Heimarbeiterfamilien, also die Mehrheit der Bevölkerung, verstanden ihren Familienverband bis ins 20. Jahrhundert in erster Linie als Arbeitsgemeinschaft. Kinder hatten darin ihre spezifischen Beiträge zu leisten und wurden nach ähnlichen Kriterien eingestuft wie Erwachsene. Eine grosse Anzahl von Kindern war zur Mitarbeit wie auch für die Versorgung der Eltern im Alter nötig und erwünscht (Altersvorsorge). Das Schulobligatorium wurde von diesen Eltern in der Regel ambivalent bewertet.

Die familiale Arbeitsgemeinschaft wurde durch die Kinder je nach Familienphase materiell unterschiedlich stark belastet bzw. entlastet. Viele kleine Kinder bedeuteten eine grosse Bürde. Kamen die Ältesten ins Erwerbsalter, standen der Familie am meisten Ressourcen zur Verfügung. Daneben wirkten auch Eigentumsverhältnisse, Möglichkeiten des familialen Nebenverdienstes und das Erbrecht auf Position und Aufgaben der Kinder ein. In Gebieten mit Realteilung war die Anzahl der Geschwister entscheidend, während in anderen Kantonen der gesamte Besitz an einen Erben übergeben wurde (Anerbenrecht). Dieser, in der Regel war es der älteste Sohn, genoss einen höheren Status. Auch das kulturelle Umfeld, das insbesondere in den katholischen Landesgegenden bis zum Zweiten Weltkrieg stark von der Kirche geprägt war, wirkte sich auf die Kindheit aus. So sank in überwiegend ländlichen katholischen Regionen die Geburtenzahl im gesamtschweizerischen Vergleich nur langsam, die Familien blieben gross. Traditionellerweise wurden vor allem Kinder aus ländlichen Grossfamilien als Hilfskräfte weggegeben. Wenn eine sozial besser gestellte Familie die Kinder aufnahm, war damit auch die Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebensumstände dieser Jungen und Mädchen verbunden. Noch im 19. Jahrhundert war neben der saisonalen Emigration (Schwabengängerei) auch die definitive Auswanderung üblich. Knaben aus Tessiner Bergtälern wurden gegen ein Entgelt an die Eltern als Kaminfeger beispielsweise in die Lombardei geschickt. Andere Kinder hatten sogenannte Wochenplätze unweit ihrer Familie, wo sie für Kost und Logis neben der Schule arbeiteten. Die Wegnahme der Kinder durch die Armenbehörde, die bei prekären Familienverhältnissen Kinder auf Kosten der Gemeinde platzierte, war hingegen eine gefürchtete Zwangsmassnahme (Pflegekinder).

Kindheit in Arbeiterfamilien

Junger Tessiner Kaminfeger (spazzacamino). Fotografie von Roberto Donetta, um 1900 (Archivio Roberto Donetta, Corzoneso).
Junger Tessiner Kaminfeger (spazzacamino). Fotografie von Roberto Donetta, um 1900 (Archivio Roberto Donetta, Corzoneso). […]

Die im 19. Jahrhundert entstandenen Arbeiterfamilien verstanden sich bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ebenfalls als Arbeitsgemeinschaften. Die Fabrikarbeit als neue Verdienstquelle wurde mit traditionellen Erwerbsarbeiten und subsistenzwirtschaftlichen Tätigkeiten kombiniert. Nach dem Verbot der Kinderarbeit in der Fabrik hatten Arbeiterkinder in den letztgenannten Bereichen zuzupacken. Oft in enger Arbeitsgemeinschaft mit der Mutter bebauten Mädchen Pflanzland, halfen bei der Heimarbeit und entlasteten die Mutter von den Haushaltspflichten und der Kleinkinderpflege. Knaben mussten eher lokale Erwerbsmöglichkeiten ergreifen, was in städtischen Verhältnissen einfacher war als auf dem Land. Neben dem Geschlecht spielten auch die regionalen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen und vor allem die Position in der Geschwisterreihe eine wichtige Rolle, wohingegen das Erbrecht kaum relevant war. Während die älteren Geschwister so schnell wie möglich erwerbstätig werden mussten und ihre Ansprüche an die individuelle Lebensgestaltung zurückzustellen hatten, genossen die jüngeren häufig grössere Freiheiten. Insbesondere in industrialisierten Gebieten eröffneten sich für die jüngsten Knaben aus Arbeiterfamilien durch die Sekundarschulbildung soziale Aufstiegsmöglichkeiten.

Kleinkinder aus ärmlichen Verhältnissen, deren Eltern einer ausserhäuslichen Tätigkeit nachgingen, konnten in verschiedenen Städten seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Kleinkinderschulen versorgt werden. Wie im bäuerlichen Milieu galten auch hier in Familie und Schule körperliche Strafen als legitimes Züchtigungsmittel, um Kinder zu tüchtigen Arbeitskräften heranzubilden. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurden vor allem materielle Verfehlungen wie Diebstahl hart bestraft, während ungebührliches Benehmen, freche Streiche oder Verdienstmethoden am Rande der Legalität wie etwa Holzfrevel oder das Plündern von Obstbäumen häufig als harmlos galten.

Kindheit in bürgerlichen Familien

Die von der medizinisch-pädagogischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts breit propagierten Erziehungsmaximen wurden im Wesentlichen Anfang des 20. Jahrhunderts vom Bürgertum und zunehmend auch vom Kleinbürgertum rezipiert. Es handelte sich zwar um eine Minderheit, die jedoch Vorbildcharakter hatte. Auch in bürgerlichen Familien galt das Kind als unvollkommenes Wesen, das geformt werden musste. Das Ziel der Erziehung war jedoch ein anderes als im bäuerlichen Milieu oder in der Arbeiterschaft. Die Formung des männlichen bzw. weiblichen Geschlechtscharakters galt als konstituierend für den Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft. Die Individualität jedes Kindes wurde innerhalb der Grenzen des für Mädchen bzw. Knaben angemessenen Rahmens respektiert. Investitionen in Erziehung und Ausbildung sicherten eine standesgemässe weibliche oder männliche Karriere und galten als Zeichen der Zuwendung und Liebe der Eltern zu ihren Kindern. In diesen Kreisen sank die Geburtenzahl ab 1870 am schnellsten.

Im Verlauf der bürgerlichen Kindheit lassen sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschiedene Phasen unterscheiden. Die ersten Jahre nach der Geburt lagen ausschliesslich in der Verantwortung der Mutter (Mutterschaft). Nur in der Oberschicht hatte das Modell der Fremdbetreuung der Kinder Tradition, inklusive der Anstellung von Ammen. Im mittleren Bürgertum hingegen waren Mütter präsent, die die Erziehung als eigentliche Lebensaufgabe betrachteten.

In den ersten Lebensjahren genossen Knaben wie Mädchen eine gewisse Schonzeit: Gute Manieren und Gehorsam wurden zwar schon eingeübt, doch fehlte die geschlechtsspezifische Sozialisierung weitgehend. Im vierten oder fünften Lebensjahr erhielten die Buben die ersten Hosen und einen Kurzhaarschnitt, womit sie fortan zur Welt der Männer gehörten. Nach diesem symbolischen Übergang galten Väter (Vaterschaft), Lehrer usw. als prägende erzieherische Instanzen. Die Mädchen verblieben im mütterlichen Umfeld. Der Bewegungs- und Handlungsspielraum von Knaben dehnte sich im Schulalter aus, während derjenige der Mädchen eingeschränkt blieb (Mädchenerziehung). Einflussreich war in diesen Kreisen schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Friedrich Froebel, ein Mitarbeiter Pestalozzis, der den Kindergarten als Ergänzung zur mütterlichen Erziehung propagierte.

Ziel der bürgerlichen Erziehung war die Schaffung von Distanz: Förmliches, angemessenes Benehmen gegen aussen, Selbstüberwindung und Selbstkontrolle gegen innen. Die väterliche Erziehung bezweckte die Durchsetzung der Anstandsregeln, unter Umständen auch mittels körperlicher Strafen. Die Mutter formte durch die Internalisierung von Normen und Wertvorstellungen das gute bzw. schlechte Gewissen der Kinder. Die Erziehungsziele wirkten sich für Knaben und Mädchen unterschiedlich aus. Bei den Knaben galt die Kontrolle des Sexualtriebs als grundlegend, insbesondere der Kampf gegen die Onanie. Mädchen lernten Selbstkontrolle, indem sie Forderungen nach Gehorsam, Sanftmut und Ergebung nachkommen mussten. Ziel der Disziplinierung war es, möglichst jede geschlechtsspezifisch konnotierte unangemessene Form von individueller Persönlichkeitsentfaltung zu unterbinden.

Die bürgerliche Kindheit war gekennzeichnet von elterlicher Aufmerksamkeit, Fürsorge und Zuwendung. Dies betraf auch die immer wichtiger werdende Sorge um Hygiene und Gesundheit. Im Bemühen um die Verbesserung der Volksgesundheit traten insbesondere Ärztinnen hervor, die sich intensiv mit der Aufklärung über die Hygiene beim Stillen, im Säuglings- und Kindesalter befassten. So erschien 1898 im Auftrag des Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenvereins die Broschüre "Die Pflege des Kindes im ersten Lebensjahr", verfasst von der ersten Schweizer Ärztin Marie Heim. 1922 veröffentlichte die St. Galler Ärztin Frida Imboden im Auftrag der Pro Juventute die Schrift "Wie ich mein Kindlein pflege". Diese populären Schriften prägten das Wissen über Hygiene und Ernährung im Kindesalter über mehrere Jahrzehnte. Durch Aufklärung und Propagierung des Stillens wurde hauptsächlich der infektiöse Durchfall, der vor 1880 die Hälfte und 1910 immer noch ein Viertel der Säuglingssterblichkeit verursachte, eingedämmt. Der prozentuale Anteil von Kindern bis 14 Jahren an der Gesamtbevölkerung stieg von 29,6% im Jahr 1860 auf 31,5% im Jahr 1900, gefolgt von 24,6% 1930 und 23,5% 1960.

Kinder aus bürgerlichem Haus lebten, im Vergleich zu denjenigen aus traditionellen und proletarischen Verhältnissen, in einer behüteten Umgebung. In diesem Milieu entwickelte sich eine eigentliche Kinderkultur. Dazu gehörten unter Umständen ein Kindermädchen zur Betreuung, meist ein eigenes Kinderzimmer, Kinderkleider, Kinderbücher (Kinder- und Jugendliteratur), Kindernahrung und Spielzeug (Spiele). Die Pflege der "Kultur für Kinder" machte bürgerliche Eltern zu einer spezifischen Zielgruppe des Marktes für Kinderartikel, mit denen sie ihre Kinder zu rollenkonformen Frauen und Männern erziehen wollten.

Kinder aller Schichten nahmen bis ins 20. Jahrhundert ausserhalb von Familie und Verwandtschaft auch an der Festkultur der Erwachsenen teil. Sie wurden vor allem in die Feiern des katholischen Kirchenjahrs (z.B. bei Prozessionen) integriert.

Kindheit im "Jahrhundert des Kindes"

Zu Beginn des von Ellen Key als "Das Jahrhundert des Kindes" (1902) propagierten 20. Jahrhunderts standen entwicklungspsychologische Erkenntnisse über kindspezifische Aspekte der Sprache, des Spiels, der Motorik usw. im Mittelpunkt des Interesses und wurden zuerst von Familien des Bildungsbürgertums rezipiert. Die Vorstellung, dass das Kind eine eigenständige, sich entwickelnde Persönlichkeit sei, die es zu fördern galt, führte zu einer neuen Ausrichtung der Erziehung.

Wesentliche Impulse der Reformpädagogik gingen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Maria Montessori aus. Nach Montessori tragen Kinder die Antriebskraft zu ihrer menschlichen Verwirklichung in sich. Erwachsene hätten deren Eigenheiten zu respektieren und ihnen die gesellschaftlichen Werte so zu vermitteln, dass die Kinder sich diese selbst aneignen könnten. Auch die Kinderpsychologie des Genfers Jean Piaget betonte die kognitiven und interaktiven Fähigkeiten von Kleinkindern. Auf diese Ideen griff das von gebildeten Mittelschichten getragene Konzept der antiautoritären Erziehung zurück. Die von Alexander Sutherland Neill 1921 gegründete englische Internatsschule Summerhill wurde zum Paradigma einer Pädagogik, die von der Überzeugung ausging, Kinder besässen alle Voraussetzungen, das Leben zu lieben und daran interessiert zu sein. Erziehung bedeute demnach, Kindern Rahmenbedingungen zu bieten, in welchen sie ihre Fähigkeiten frei entfalten könnten. Neills Pädagogik wurde bereits in der Zwischenkriegszeit rezipiert, setzte sich jedoch erst im gesellschaftlichen Umbruch nach 1968 durch.

Während die Reformpädagogik sich als Unterstützung und Ergänzung der häuslichen Erziehung verstand, stellte die Psychologie im Gefolge Sigmund Freuds die Funktion der Mütter ins Zentrum des Interesses. Zunehmend wurden diese für die psychische Gesundheit der Kinder verantwortlich gemacht. Einen Höhepunkt erreichte dieser Trend mit Alice Millers 1979 erschienenem Buch "Das Drama des begabten Kindes [...]". Laut Miller würden die Mütter die in ihrer Kindheit erlebte Verachtung auf ihre eigenen Kinder übertragen. Trotz reformpädagogischer Ansätze hielten viele Eltern auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der Überzeugung fest, dass der böse Wille des Kindes gewaltsam gebrochen werden müsste. Misshandlungen von Kindern liessen sich aufgrund der hohen Dunkelziffer schwer beziffern, doch muss von mehreren Zehntausend ausgegangen werden (2000). Seit den 1980er Jahren wurden für die Betroffenen Institutionen wie das Kindernottelefon oder spezielle Zufluchtsstätten eingerichtet.

Ende des 20. Jahrhunderts prägten neue Lebensentwürfe der Eltern die Kindheit in zunehmendem Mass. Die Berufstätigkeit der Mütter und damit eine neue Rollenverteilung der Eltern, der Wechsel von Lebenspartnern, neue Formen der Familie (Patchworkfamilie) sowie das weitgehende Verschwinden von Grossfamilien wirkten sich in allen Schichten auf die Kindheit aus. Weitere gesellschaftliche Entwicklungen hatten zur Folge, dass Kinder einem grösseren Leistungsdruck ausgesetzt waren, früh mit der Bild- und Fernsehkultur der Erwachsenen konfrontiert und als Konsumenten vereinnahmt wurden. Schichtspezifische Unterschiede gab es weiterhin, etwa in der propagierten aber auch bekämpften "Überbehütung" von Kindern der Mittelschicht.

Ausgehend von Beobachtungen, die ab den 1980er Jahren in den USA gemacht wurden, sprachen Untersuchungen am Ende des 20. Jahrhunderts vom Verschwinden der Kindheit. Laut deutschen Untersuchungen der späten 1990er Jahre müssten sich Kinder schon im ersten Lebensjahrzehnt dem "vollen Ernst des Lebens" stellen und hätten im zweiten Lebensjahrzehnt in den Bereichen Konsum und Freizeit sowie in der Gestaltung ihrer sozialen, privaten und erotischen Beziehungen ähnliche Spielräume wie Erwachsene. Auf diese Anforderungen reagierten viele zunehmend wie Erwachsene: Mädchen vor allem mit psychosomatischen und psychischen Beschwerden und Knaben häufiger mit Flucht in Gewalt, Alkohol- und Drogenkonsum.

Quellen und Literatur

  • P. Ariès, Gesch. der Kindheit, 1975 (franz. 1960)
  • A. Miller, Das Drama des begabten Kindes [...] und die Suche nach dem wahren Selbst, 1979
  • I. Weber-Kellermann, Die Kindheit, 1979
  • E. Badinter, Die Mutterliebe, 1981
  • Zur Sozialgesch. der Kindheit, hg. von M. Jochen, A. Nitschke, 1986
  • M. Hüttenmoser, «Kindheit und Schule – Kontinuität und Wandel», in Hb. der schweiz. Volkskultur 1, hg. von P. Hugger, 1992, 65-99
  • E. Beer, «Kinder in den Fam. dt. Städte des späten MA und der früheren Neuzeit», in Kinderwelten 6, 1994, 25-47
  • K. Simon-Muscheid, «Formen der Kinderarbeit in SpätMA und Renaissance», in Arbeit im Wandel, hg. von U. Pfister et al., 1996, 107-126
  • K. Hurrelmann, «Die meisten Kinder sind heute "kleine Erwachsene"», in NZZ, 25./26.1.1997
  • A. Tanner, «Im Schonraum der Fam.», in Kind sein in der Schweiz, hg. von P. Hugger, 1998, 65-76
  • H. Witzig, «Bäuerl.-ländl. Kindheit/Kindheit in Arbeiterfam.», in Kind sein in der Schweiz, hg. von P. Hugger, 1998, 37-45, 55-64
  • H. Witzig, Polenta und Paradeplatz, 2000, 206-211
  • N. Blancardi, Les petits princes, 2001
  • A.-F. Praz, De l'enfant utile à l'enfant précieux: Filles et garçons dans les cantons de Vaud et Fribourg (1860 et 1930), 2005
Weblinks

Zitiervorschlag

Heidi Witzig: "Kindheit", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 02.12.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010395/2008-12-02/, konsultiert am 19.03.2024.