de fr it

Primarschule

Die Primarschule, früher Elementar- oder Gemeindeschule genannt, wird im schweizerischen Schulwesen von allen Kindern ab dem 6. oder 7. Altersjahr in der Regel für eine Dauer von vier bis sechs Jahren besucht. Gemäss Bundesverfassung ist sie obligatorisch und unentgeltlich und steht unter staatlicher Aufsicht. Als sogenannte integrierte Schule differenziert sie die Schüler kaum nach ihrer Leistung; lernschwache und behinderte Kinder werden den Hilfs- und Sonderschulen zugeteilt. Der Anteil an Privatschulen ist gering. Die Primarschule stellt als gemischte Schule die allen Mädchen und Knaben zustehende Grundschulbildung in der Muttersprache, einer Fremdsprache, in Mathematik, im Bereich Mensch und Umwelt, im Turnen und im musisch-gestalterischen Bereich sicher. In den Primarschulen unterrichtet gewöhnlich je eine einzelne Lehrkraft (Lehrer) fast alle Fächer.

Weil das Schweizer Schulwesen von den Kantonen geregelt wird, existieren in der Schweiz 26 verschiedene Schulsysteme mit zum Teil abweichender Terminologie. Das Schulsystem ist in drei Stufen geteilt: Die obligatorische Stufe, die auf den Kindergarten folgt, besteht aus der Grundschule oder Primarschule und der Sekundarstufe I, welche die Primarschule als Realschule, Sekundarschule, Werk-, Ober- und Weiterbildungsschule weiterführt. Diese erste Stufe, ausser im Kanton Tessin auch Volksschule genannt, dauert vom 1. bis zum 9. Schuljahr. Die Sekundarstufe II umfasst die Maturitätsschulen (Maturität, Gymnasium), die Berufsschulen (Berufsbildung) und die Unterrichtsberufe (Lehrerseminar) und dauert vom 9. bis zum 13. Schuljahr. Die Tertiärstufe schliesslich setzt sich aus Hochschulen (Fachhochschulen, Eidgenössische Technische Hochschulen) und Universitäten zusammen.

Spätmittelalter und frühe Neuzeit

Aushängeschild einer Privatschule in Basel, 1516. Gefirnisste Tempera auf Tannenholz von Ambrosius Holbein (Kunstmuseum Basel; Fotografie Martin Bühler).
Aushängeschild einer Privatschule in Basel, 1516. Gefirnisste Tempera auf Tannenholz von Ambrosius Holbein (Kunstmuseum Basel; Fotografie Martin Bühler).

Im Mittelalter erlaubten lokale Behörden wandernden Lehrmeistern die Ausübung ihrer Tätigkeit. Diese sogenannten Deutschen Schulen oder Grammatikschulen, auch Bei-, Winkel-, Lese- und Schreibschulen genannt, wurden von umherziehenden Schreibern, Studenten und Geistlichen geführt, die in ihrer Muttersprache unterrichteten. Im 14. Jahrhundert erteilten Männer und Frauen Unterricht. Sie zogen ein Schulgeld ein und wurden zusätzlich von den städtischen Obrigkeiten entgolten. In den Städten schickten die Nichtbürger ihre Kinder in die sogenannten Bauern- oder Einsassenschulen. Die ländlichen Gebiete kannten zum Teil Winterschulen, in denen von November bis März unterrichtet wurde. Der Schulbesuch war bis weit in die frühe Neuzeit den gehobenen Schichten vorbehalten. Diese zeigten wie auch der frühmoderne Staat wenig Interesse am Elementarschulwesen (Alphabetisierung). Sie verhinderten die Popularisierung der Bildung, um ihr Machtmonopol zu erhalten. Zudem entsprach ihrer Ansicht nach die Ungebildetheit des Volkes der göttlichen Weltordnung und stellte ein konstitutives Element der Gesellschaft dar.

Buchdruck und Reformation verbreiteten und deckten das Bedürfnis nach Bildung. In den reformierten Orten wurde den Männern – weniger den Frauen – das Lesen der Bibel beigebracht. Genf reorganisierte die Elementarschulen 1536 im Sinne der reformierten Kirche. In Zürich und Bern wurden um 1550 ständige Deutsche Schulen eingerichtet, deren Unterricht anfangs auf Lesen, Schreiben und Rechnen beschränkt war. In den aargauischen Gemeinden Erlinsbach und Kirchberg wurden die Kinder 1609 zu einem dreijährigen Schulbesuch angehalten. Auch in den katholischen Kantonen wurden im 16. Jahrhundert an mehreren Orten Schulen gegründet. In dieser Zeit entstanden auch die ersten Mädchenschulen (Mädchenerziehung). Doch insgesamt lernten besonders auf dem Lande nur wenige Kinder und kaum Mädchen lesen und schreiben.

Im 17. Jahrhundert erliessen die Obrigkeiten die ersten Landschulordnungen (Bern 1616, Aarau 1628, Zürich 1637 und 1684). Sie enthielten Bestimmungen über Schulpflicht, -besuch und -dauer, über die zu unterrichtenden Inhalte sowie die Räumlichkeiten. Die Gemeinden waren verpflichtet, Schulhäuser zu errichten oder geeignete Gebäude zu kaufen. Die Kirchenschulen gerieten in mehreren Orten unter staatliche Aufsicht. In Aarau, Brugg und anderen Städten wurde das Kirchengut der Gemeinde für den Aufbau der Schulen eingesetzt. Die Regierungen bestraften Eltern, die ihre Kinder nicht zur Schule schickten.

Das von den katholischen Kirchen gehütete Schulmonopol sowie die sozialen und wirtschaftlichen Begleiterscheinungen des Dreissigjährigen Kriegs verhinderten die Einführung einer Volksschule. Die Obrigkeiten trieben vor allem die Entwicklung der Höheren Schulen voran. Die allgemeine Volksschule entstand um 1650. In vielen Städten – vor allem in der reformierten französischen Schweiz – wurden die Kinder nach Geschlechtern getrennt unterrichtet, aber auch gemischte Klassen kamen vor, zum Beispiel in Thun und Chur. Die Lehrer der neuen städtischen Schulen waren in der Regel Handwerker. Sie stellten ein Schullokal zur Verfügung und lebten vom Schulgeld der Kinder. Unterrichtet wurde Lesen, Schreiben, Memorieren und das Singen von Psalmen. Um 1700 gründeten einzelne Gemeinden eigene Schulen, die von den Obrigkeiten finanziell unterstützt und beaufsichtigt wurden.

Von der Aufklärung bis 1848

Ab 1750 wurde das Schulwesen unter dem Einfluss der Aufklärung – namentlich Johann Heinrich Pestalozzis – umgestaltet, die im Unterricht die Grundlage zur sittlichen, sozialen und politischen Erneuerung des Volkes sah. Stand und Geschlecht blieben entscheidend für den Zugang zur Bildung. Die gebildeten Frauen des 17. und 18. Jahrhunderts entstammten meist dem Adel oder grossbürgerlichen Schichten. Sie besuchten private Höhere Töchterschulen. Die Reformen im Elementarschulbereich bezogen sich auf die systematische Gestaltung des Schulwesens, die Vermehrung der Realfächer und die Aufnahme des Zeichenunterrichts in den Fächerkanon. In Luzern, wo das Landschulwesen vernachlässigt worden war, stieg die Zahl der Schulen an. In den katholischen Orten engagierte sich der Jesuitenorden bis zu seiner Aufhebung für bessere Höhere Schulen, während Klöster wie St. Urban und Einsiedeln und vor allem Kongregationen wie die Ursulinen auch das Volksschulwesen förderten. Von zentraler Bedeutung waren die Weltgeistlichen. In der italienischen Schweiz setzte sich der dem Somaskerorden angehörende Francesco Soave schon im 18. Jahrhundert für die Verbesserung des Elementarunterrichts ein. Die beiden Priester Alberto Lamoni und Gregor Girard propagierten im 19. Jahrhundert die Einführung des sogenannten wechselseitigen Unterrichts (Lancasterschulen).

In der Helvetik erhielt die Volksschule die Aufgabe, jedes Kind nach Massgabe seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten zur Ausübung seiner Rechte und Pflichten als Staatsbürger zu befähigen. Der demokratische Staat sah in der Volksbildung seine wichtigste Aufgabe. Beiden Geschlechtern sollte die gleiche Ausbildung zukommen. Tatsächlich aber erlebte die Mädchenerziehung einen Rückschlag, weil viele katholische Schwesternschulen, die unentgeltlichen Unterricht angeboten hatten, aufgehoben wurden. Zudem wurde der Unterricht für Mädchen zunehmend auf die Erlernung von Techniken für die Industrie, vor allem die Textilindustrie (Industrieschulen), und die Haushaltsführung beschränkt (Handarbeitsunterricht). Bildungsminister Philipp Albert Stapfer schuf mit einer Umfrage einen Überblick über die Schweizer Schulverhältnisse. In den helvetischen Kantonen wurden Erziehungsräte und Schulinspektoren ernannt, die das Schulwesen umgestalten sollten. Der Alphabetisierungsgrad der weiblichen Bevölkerung lag der Umfrage zufolge um 35% unter demjenigen der Männer.

Die Bildungspolitik des 19. Jahrhunderts war geprägt von den Konflikten zwischen und innerhalb der Konfessionen, Parteien und Kantone. Zentraler als der Gegensatz zwischen den Kantonen war derjenige zwischen den Schulen in der Stadt und auf dem Land. Die Auflösung des helvetischen Staats brachte den Kantonen wieder schulpolitische Eigenständigkeit. Mit dem liberalen Umschwung in den 1830er Jahren setzten die grossen und umfassenden Reformen der kantonalen Bildungssysteme ein, die Heinrich Zschokkes Satz «Volksbildung ist Volksbefreiung» folgten. In allen Regenerationskantonen wurden nun obligatorische Volksschulen eingeführt.

Die Schulpflicht stiess im ganzen 19. Jahrhundert bei vielen Familien und Gemeinden auf Widerstand. Sie wurde unter anderem als Normierung durch den sich entwickelnden modernen Rechtsstaat wahrgenommen. Das Schulhaus repräsentierte dessen Macht vor Ort. Ein Grund war aber auch die Kinderarbeit in Landwirtschaft und Fabriken, die von vielen Eltern als selbstverständliche Fortsetzung der Subsistenzwirtschaft angesehen wurde. In einer ländlichen Gemeinde wie Köniz zählte die Schule im Sommer rund die Hälfte weniger Schüler als im Winter. Die Fabrikbesitzer ihrerseits waren an der Arbeitskraft der Kinder und Jugendlichen interessiert und widersetzten sich der Schulpflicht. Der Kampf um diese war auch ein sozialpolitischer Kampf gegen die Kinderarbeit. In St. Gallen und anderen Kantonen wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Betrieben sogenannte Fabrikschulen eingerichtet, in denen den unter der Woche arbeitenden Kindern am Sonntag Unterricht erteilt wurde.

Der Aargau und die Waadt legten schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts nebst den Lehrergehältern die Höchstzahl der Kinder einer Schule fest; im Aargau waren es 80, in der Waadt 60. Einzelne kantonale Schulreformen gingen auf Einzelinitiativen wie diejenige von Gregor Girard zurück. Johann Heinrich Pestalozzi und die helvetische Gesellschaft prägten die Diskussion um die Schulreform.

Die Kantone Thurgau, St. Gallen, Schaffhausen und Glarus orientierten sich an der Volksschulgesetzgebung des Kantons Zürich von 1832. Dort gliederte sich die neu geschaffene Primarschule in die Alltagsschule, die sechs Jahre dauerte, und die Repetier- oder Ergänzungsschule, die drei Jahre umfasste. Neben Letztere trat die Sekundarschule, die der Vermittlung weitergehender Bildungsinhalte diente. Andere ostschweizerische Kantone kannten die achtjährige obligatorische Schulpflicht, während Zürich die Repetierschule erst 1899 durch die achtjährige Primarschule ersetzte. Die neue Verfassung des Kantons Tessin von 1830 übertrug dem Staat die Verantwortung für den Elementarunterricht. Stefano Franscini regte die Erneuerung der Elementarschulen an, organisierte die Schulaufsicht, verfasste Lehrbücher und beauftragte 1837 den italienischen Pädagogen Luigi Alessandro Parravicini, den Lehrkräften jährlich einen Herbstkurs in Methodik zu erteilen. Das Primarschulgesetz des Kantons Bern von 1835 sah bis 1860 eine zehnjährige Primarschule vor. Im Kanton Waadt gab in den 1830er Jahren ebenfalls ein neues Schulgesetz der Primarschule eine feste Basis. Im Kanton Genf waren unter der Kontrolle der Staatskirche private reformierte Primarschulen entstanden, die sogenannten Katechumenenschulen.

Die Primarschulen wurden oftmals auf den Erfolg ihrer Reformen hin geprüft. Der Berner Bericht von 1843 zeichnete ein düsteres Bild und erwähnte besonders den Lehrermangel. Nur der Unterricht in Lesen und in biblischer Geschichte wurde lobend erwähnt. Im Allgemeinen waren die meisten Schulbauten in schlechtem Zustand und überfüllt, obwohl die Kinder die Schule nur unregelmässig besuchten. Die Lehrer, die kaum ausgebildet waren, erhielten wenig Lohn, die Ausstattung der Schulen war unzureichend und die Aufsicht weitgehend zufällig. In den Kantonen ohne Regeneration setzten die Schulreformen später ein. In Appenzell Innerrhoden zum Beispiel wurde die Schulpflicht erst 1858 gesetzlich verankert.

Im neuen Bundesstaat

Auch nach der Gründung des schweizerischen Bundesstaats 1848 blieb die Schule Sache der Kantone. Mit der Pressefreiheit entwickelte sich ein gesamteidgenössischer Diskurs über die Volksschule, die nun mit den Mittel- und Sekundarschulen verbunden und inhaltlich koordiniert wurde. Die Mehrheit der politischen Gruppierungen anerkannte die Volksschulbildung als eine die soziale Wohlfahrt bestimmende Stütze der industriellen Gesellschaft. Die Zentralisierung der Schule auf Bundesebene war eines der Grundanliegen der deutschschweizerischen Radikalen und Liberalen. Die Bundesverfassung von 1874 beliess aber das Schulwesen bei den Kantonen und setzte nur durch, was in den meisten Kantonen bereits realisiert war: den genügenden, obligatorischen Primarunterricht, der staatlich geleitet und unentgeltlich an den konfessionell neutralen, öffentlichen Schulen angeboten wurde, sowie das Sanktionsrecht des Bundes gegenüber Kantonen, die diesen Verpflichtungen nicht nachkamen.

«Volksbildung ist Volksbefreiung! Subvention der Volksschule durch den Bund / Die weltliche, unentgeltliche und obligatorische Schule». Karikatur von Johann Friedrich Boscovits, erschienen im Nebelspalter, 1902, Nr. 47 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, e-periodica).
«Volksbildung ist Volksbefreiung! Subvention der Volksschule durch den Bund / Die weltliche, unentgeltliche und obligatorische Schule». Karikatur von Johann Friedrich Boscovits, erschienen im Nebelspalter, 1902, Nr. 47 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, e-periodica). […]

Die Schaffung eines eidgenössischen Schulsekretärs, des sogenannten Schulvogts, wurde 1882 vom Souverän abgelehnt. Doch die Schulreform beschäftigte sich Ende des 19. Jahrhunderts weiterhin mit der gesamtschweizerischen Koordination. Die Einflussnahme des Bundes auf die Primarschule gelang nur über die Verpflichtung der Kantone, für den Unterricht zu sorgen. Der Bund subventionierte die Primarschulen und mass ihre Leistungen mit den insgesamt wenig taugenden pädagogischen Rekrutenprüfungen; indirekt aber führte der Druck, der durch die kantonalen Ranglisten entstand, in den einzelnen Kantonen zur Verbesserung der Schulen. Die Subvention der Volksschule durch den Bund beruhte auf dem Grundgedanken, dass die Kantone und die Eidgenossenschaft auf dem Gebiet des Unterrichtswesens zusammenzuwirken hätten.

Um 1900 war in der ganzen Schweiz die obligatorische, unentgeltliche, unter staatlicher Leitung stehende Primarschule realisiert, die in den meisten Kantonen mit dem 6. oder 7. Altersjahr der Kinder einsetzte. Jährlich wurden während 44 Schulwochen die Fächer Muttersprache, Lesen, Schreiben, Rechnen und zum Teil Geometrie, Geschichte, Geografie, zum Teil Naturkunde, Kalligrafie, Gesang, zum Teil Zeichnen und Hausarbeiten sowie Turnen (Körpererziehung) und Religion (Religionsunterricht) unterrichtet. Weitere Fächer waren Buchhaltung, Gesundheitslehre, Feldmessen, Verfassungskunde (Staatsbürgerlicher Unterricht), Obstbaumzucht, Landökonomie und -wirtschaftslehre, Linearzeichnen und allenfalls eine Fremdsprache.

Mit der Säkularisierung und Entkonfessionalisierung der Primarschule war ein tiefgreifender Wandel verbunden: Das schulische Ziel war nicht mehr der gute Christ, der die Bibel lesen kann, sondern der gute Staatsbürger und taugliche Geschäftsmann. Zudem wurde – begleitet von einer intensiven Debatte über die Koedukation – mit der obligatorischen Schulpflicht der Handarbeits- und Haushaltsunterricht für Mädchen eingeführt, der sie auf das Führen eines Haushalts vorbereiten sollte. Einen speziell auf Mädchen zugeschnittenen Unterricht gab es erst seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Besonders kirchliche Kreise befürchteten eine Gefährdung der Sittlichkeit in gemischtgeschlechtlichen Klassen und wehrten sich dagegen. Sowohl die befürwortenden als auch die ablehnenden Stimmen sahen grosse Unterschiede bei den intellektuellen Fähigkeiten der Mädchen und Knaben und argumentierten dabei mit der neuen bürgerlichen Ordnung der Geschlechter. Getrennte Schulen gab es vor allem in den grösseren Städten; auf dem Lande erlaubten die hohe Zahl der Kinder und die Finanzen der Gemeinden keine getrennten Klassen. Während sich in den Primarschulen schliesslich die Koedukation durchsetzte, praktizierten die weiterführenden Schulen die Geschlechtertrennung bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Das 20. Jahrhundert

Schülerinnen einer Berner Landschule Ende der 1930er Jahre. Fotografie von Paul Senn (Bernische Stiftung für Fotografie, Film und Video, Bern) © Gottfried Keller-Stiftung.
Schülerinnen einer Berner Landschule Ende der 1930er Jahre. Fotografie von Paul Senn (Bernische Stiftung für Fotografie, Film und Video, Bern) © Gottfried Keller-Stiftung.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Lehrplan der Primarschulen deutlich auf die Bildungsbedürfnisse der künftigen Männer ausgerichtet. Fast alle Kantone boten Mädchen und Knaben eine gleich lange Lernzeit an. Nur die Kantone Solothurn, Freiburg und Thurgau entliessen die Mädchen ein Jahr früher aus dem Schulobligatorium als die Knaben, Luzern und Nidwalden sogar zwei Jahre früher.

Mit der Schulreformdebatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geriet auch die Primarschule unter Druck. In der Westschweiz versuchten Reformer der sogenannten Genfer Schule, die als lehrerzentriert und zu sachorientiert kritisierte Primarschule in eine kindgerechte Grundschule umzuwandeln. Wie anderen Reformern schwebte ihnen ein Unterricht vor, der die Kinder harmonisch ausbilden, ihre Interessen zum Ausgangspunkt nehmen, fächerübergreifendes und handelndes Lernen initiieren und den Übertritt vom Kindergarten in die Primarschule sinnvoll gestalten sollte. Zu diesem Zweck wurden das Institut Jean-Jacques Rousseau, die Ecole du Mail und das Maison des Petits gegründet, die den Reformelan in die Lehrerbildung und über die Grenzen Genfs hinaustragen sollten.

Während der folgenden Jahrzehnte nahmen die Primarlehrkräfte in der ganzen Schweiz zahlreiche reformpädagogische Postulate in ihren Unterricht auf. Allerdings vollzogen sich die Reformen aus demografischen, bildungspolitischen und ökonomischen Gründen nur schleppend. Ab den 1940er Jahren drangen didaktisch-methodische Neuerungen allmählich in den Unterrichtsalltag der Primarschulen ein. Insbesondere die ersten vier Schuljahre waren fortan der Nährboden für schulreformerische Bemühen in anderen Schulstufen und -arten. Im ausgehenden 20. Jahrhundert wurden in etlichen Kantonen die fachbezogenen Lehrpläne revidiert. In der deutschen und französischen Schweiz wurde der Fremdsprachenunterricht in die 4. oder 5. Klasse vorverlegt und im Tessin Französisch ab der 3. Klasse eingeführt; auch die Informatik-Grundausbildung fand in den 1980er Jahren Eingang in den Unterricht. Der sogenannte Sach- und Sozialunterricht, in dem Fächer wie Geschichte, Geografie und Lebenskunde zusammengefasst wurden, war ebenso wie das individualisierte Lernen, das im sogenannten Werkstattunterricht und Wochenplan seinen Niederschlag fand, in der deutschen und italienischen Schweiz verbreiteter als in der französischen Schweiz, wo die Kantone hinsichtlich Lehrplänen und -mitteln stark zusammenarbeiteten und wo man sich vor allem auf die traditionellen Fächer Sprache und Mathematik konzentrierte. Einen wichtigen Ort der Zusammenarbeit der Primarschulen bildet die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren.

Grösse der Primarschulklassen in ausgewählten Kantonen 1870-2000
Grösse der Primarschulklassen in ausgewählten Kantonen 1870-2000 […]
Streuung der Klassengrössen auf der Primarstufe (Schuljahr 2000-2001)
Streuung der Klassengrössen auf der Primarstufe (Schuljahr 2000-2001) […]

Ab Ende der 1980er Jahre stieg die Zahl der Schüler wegen der geburtenstarken Jahrgänge und der Immigration markant an. Im Schuljahr 1998-1999 wurden die schweizerischen Primarschulen von 467'451 Kindern besucht; davon waren 49% Mädchen. 47'013 Kinder besuchten eine Sonderschule. Die durchschnittliche Klassengrösse lag bei etwa 20 Kindern. Klassen mit mehr als 25 Kindern fanden sich vorwiegend in der Ostschweiz, Klassen mit weniger als 12 Kindern im Jura und in Graubünden. Im Schuljahr 2001 variierte die Gesamtzahl der Unterrichtsstunden pro Schullebenslauf je nach kantonaler Primarschule zwischen 7300 und 9000 Lektionen, eine Differenz, die immerhin einer Dauer von zwei Schuljahren entspricht.

Ausblick

Die Entwicklung der Primarschule belegt in bildungspolitischer Hinsicht die Konsolidierung einer unentgeltlichen, konfessionslosen, obligatorischen und allgemeinbildenden Schule, in institutioneller Hinsicht eine fortschreitende Profilierung der Primarschule als Volksschule, in didaktischen Belangen die Ausprägung einer weitgehend pädagogisch begründeten Primarschuldidaktik und in methodischer Perspektive Reformbereitschaft. Anfang des 21. Jahrhunderts stellt die Primarschule einen Schultyp dar, der sich seit seiner Entstehung markant verändert hat. Der Auftrag der Primarschule wird weiterhin darin bestehen, eine allgemeine Grundausbildung sowie die Erziehung zur autonomen Persönlichkeit und zum demokratischen Staatsbürger zu vermitteln. Zur Diskussion steht zudem die Umwandlung der Primarschulen in Tagesschulen, damit die Betreuung der Kinder und Jugendlichen über Mittag und in Randzeiten von der Schule übernommen werden kann, sowie die Einführung der sogenannten Basisstufe, die den Kindergarten und die ersten beiden Jahre der Primarschule zusammenführt. 2009 trat die Interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule (Harmos-Konkordat) in Kraft. Die beigetretenen Kantone (Schaffhausen, Waadt, Glarus, Jura, Neuenburg, Wallis, St. Gallen, Zürich, Genf, Tessin, Bern, Freiburg) verpflichteten sich, die obligatorische Schule in der Schweiz zu harmonisieren, auf nationaler Ebene einen Beitrag zur Qualitätssicherung zu leisten und die Durchlässigkeit im System zu sichern. Die Umsetzung erfolgt spätestens im Schuljahr 2015-2016.

Quellen und Literatur

  • O. Hunziker, Vorgesch. und Anfänge des Volksschulwesens in der Schweiz, 1882
  • E. Martig, Gesch. der Erziehung in ihren Grundzügen, 1901
  • E. Schneider, Die bern. Landschule am Ende des 18. Jh., 1905
  • M. Schmid, Die Bündner Schule, 1942
  • K. Meyer, Die Gestaltung der Luzerner Volksschule von 1848-1910, 1975
  • G. Heller, "Tiens-toi droit!", 1988
  • P. Scandola et al., Lehrerinnen und Lehrer zwischen Schule, Stand und Staat, 1992
  • M. Raulf, Die Basler Primarschulen von 1880-1914, Liz. Basel, 1993
  • Gesch. der Erziehung und Schule in der Schweiz im 19. und 20. Jh., hg. von H. Badertscher und H.-U. Grunder, 1997
  • I. Cappelli, C. Manzoni, Dalla canonica all'aula, 1997, 213-246
  • Eine Schule für die Demokratie, hg. von L. Criblez et al., 1999
  • A.-L. Head-König, L. Mottu-Weber, Femmes et discriminations en Suisse, 1999
  • Beitr. zur ostschweiz. Schulgesch., 2002
  • H.R. Schmidt, «Die Stapfer-Enquête als Momentaufnahme der Schweizer Niederen Schulen vor 1800», in Zs. für pädagog. Historiographie 15, 2009, 98-112
Weblinks
Kurzinformationen
Kontext Grundschule, Volksschule

Zitiervorschlag

Hans-Ulrich Grunder: "Primarschule", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 14.06.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010402/2012-06-14/, konsultiert am 11.03.2025.