Als Landerziehungsheime werden Internate (Privatschulen) auf dem Land bezeichnet, die im Gefolge der reformpädagogischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Richtungsweisend war das Beispiel von Cecil Reddie, der 1889 in Uttoxeter (Staffordshire, England) das Landerziehungsheim Abbotsholme eröffnete. Die Gründer sahen im Landerziehungsheim eine «pädagogische Insel» oder eine «pädagogische Provinz». Im geschützten Umfeld sollten junge Menschen ausserhalb der als verderblich eingeschätzten Zivilisation, fern der Städte und mittels einer gesunden, naturnahen und vernunftgemässen Lebensweise zu Staatsbürgern erzogen werden.
Die ersten Landerziehungsheime in der Schweiz entstanden, als in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts augenfällig wurde, dass sich in den staatlichen Schulen das reformpädagogische Gedankengut nicht durchsetzte. Den Anfang machte Huldreich Looser, der 1899 die Privatschule Grünau in Bern (entstanden 1867) in ein Landerziehungsheim umwandelte. Die erste Neugründung war Schloss Glarisegg (Gemeinde Steckborn), das 1902 von Werner Zuberbühler und Wilhelm Frei eröffnet wurde. 1906 folgte das Landerziehungsheim Schloss Kefikon in Islikon, eröffnet von August Bach, und Edouard Vittoz' Ecole nouvelle de la Suisse romande in Chailly (Gemeinde Lausanne) sowie 1907 Hermann Toblers Hof Oberkirch in Kaltbrunn. Ein Jahr später rief Ernest Schwartz-Buys das Landerziehungsheim La Châtaigneraie in Coppet ins Leben.
Gründungen von Landerziehungsheimen 1902-1928
Jahr | Name | Ort |
---|---|---|
1902 | Schloss Glarisegg | Steckborn |
1906 | Schloss Kefikon | Islikon |
1906 | Ecole nouvelle de la Suisse romande | Chailly (Gem. Lausanne) |
1907 | Hof Oberkirch | Kaltbrunn |
1908 | La Châtaigneraie | Coppet |
1910 | Ecole nouvelle de Gilamont | Vevey |
1910 | Ecole nouvelle Boudry | Neuenburg |
1911 | Institut Monnier | Versoix |
1911 | Ecole nouvelle de la Pelouse | Bex |
1911 | Ecole Foyer des Pléiades | Blonay |
1915 | Schloss Hallwyl | Hallwil |
1919 | Ecole Foyer pour garçons | Bex |
unbekannt | Ecole nouvelle Lémania | Champéry |
1919 | Le Home Chez Nous | Lausanne |
1921 | The Fellowship School | Gland |
1922 | Albisbrunn | Hausen am Albis |
1922 | Ecole nouvelle pour enfants délicats | Villars-Chesières |
1928 | Brusata | Novazzano |
Alle Landerziehungsheime in der Schweiz verfolgten das Ziel, mittels einer ganzheitlichen, kulturbewussten Erziehung einen kulturläuternden Impetus und eine fortschrittliche Schulpolitik zu initiieren. Sie verstanden ihre Schulen als wohl organisierten Mikrokosmos oder als Staat im Staat. In didaktischer Hinsicht propagierten die Reformpädagogen einen kindgemässen Unterricht auf arbeitspädagogischer Grundlage sowie selbsttätiges Handeln des Lernenden. Sie wollten Lernprozesse ermöglichen, welche die seelischen, geistig-intellektuellen und körperlichen Kräfte gleichmässig förderten. Die Landerziehungsheime wurden von ihren Gründern als kulturerneuernde, didaktisch fortschrittliche, einem modernen Menschenbild verpflichtete Alternative zur Staatsschule eingestuft, in der die Lehrkraft eine Beraterfunktion ausübte. Für die skeptischen Opponenten hingegen stellten die Landerziehungsheime ein elitäres Internat für verwöhnte Kinder des Bürgertums dar, dessen antimoderne, ja pädagogisch reaktionäre, jedenfalls gesellschaftspolitisch rückwärtsgewandte Konzeption auf Kritik stiess. Im Rückblick sind die Landerziehungsheime in der Schweiz als verunsicherndes Korrektiv zur reformfeindlichen Pädagogik und Didaktik ihrer Zeit einzustufen. Da ihre Zahl klein und ihre pädagogische Relevanz gering war, hat das staatliche Bildungswesen die Ideen der Landerziehungsheime kaum rezipiert. Trotzdem gelangten gelegentlich didaktische oder methodische Splitter aus den Landerziehungsheimen in die öffentlichen Schulen. In den 1950er Jahren veränderten viele Landerziehungsheime ihre pädagogischen Profile und ihre Struktur. Die Unterschiede zu anderen Privatschulen verringerten sich und der Begriff Landerziehungsheime verschwand. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts existierte in der Schweiz ein einziges Landerziehungsheim, die Ecole d'Humanité in Hasliberg. Die 1946 von Paul und Edith Geheeb gegründete Schule bietet rund 150 Schülern verschiedener Stufen eine integrale Erziehung aufgrund des reformpädagogischen Gedankenguts.