Inschriften sind Beschriftungen von in der Regel dauerhaften Materialien; die Bandbreite reicht von grossen traditionsbildenden Monumentalinschriften auf Bauten oder Denkmälern bis zu verschiedenen Sgraffiti oder Aufschriften auf zufällig überlieferten Gebrauchsgegenständen. Die Abgrenzung gegenüber anderen Schriftäusserungen ist unscharf. Nicht zu den Inschriften im engeren Sinne zählen die Aufschriften auf seriell hergestellten Trägern (Münzen und Siegeln). Während für das Altertum viele Bereiche des privaten und des öffentlichen Lebens allein durch inschriftliche Zeugnisse belegt sind, gelten die mittelalterlichen Inschriften eher als eine Quellengattung neben anderen. Dem entspricht, dass sich die griechische und die lateinische Epigrafik bereits im 19. Jahrhundert als Historische Hilfswissenschaften etabliert haben und auch die ersten grossen internationalen Editionsunternehmen wie das "Corpus inscriptionum Latinarum" damals begonnen worden sind; die Erforschung und die systematische Sammlung der mittelalterlichen Inschriften aber – wenn man von den frühchristlichen Inschriften absieht – hat erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingesetzt und ihre Forschungsbasis ist immer noch schmal.
Römische Inschriften
Allgemeines
Während in der griechischen Welt neben Grab- und Weihinschriften vor allem Gesetze, Volksbeschlüsse und Lobreden für Wohltäter in Stein gemeisselt wurden, kannte die römische Welt von der augusteischen Zeit an neben den Weih- und Grabinschriften neu die grossen Monumentalinschriften und die Ehreninschriften, die auf Statuenpostamente graviert wurden und die Ämterlaufbahnen der Mitglieder der Oberschichten (Senatoren und Ritter sowie die städtische Oberschicht) nannten. Für die allgemeine Geschichte und insbesondere die Sozialgeschichte der römischen Kaiserzeit – und dies gilt auch für das Gebiet der Schweiz – bilden die Inschriften eine zentrale Quellenkategorie. Neben Stein wurden auch andere Materialien beschrieben, so zum Beispiel grosse Bronzetafeln mit Gesetzestexten, die öffentlich ausgestellt wurden, und kleine solche als Militärdiplome, die dem Veteranen einer Hilfstruppe die Verleihung des römischen Bürgerrechts sowie des Eherechts durch den Kaiser bezeugten. Schreibtafeln aus Holz oder aus Holz und Wachs wurden im täglichen Gebrauch für Privatbriefe, aber auch für Geschäftskorrespondenz und den amtlichen Schriftverkehr benutzt; sie sind aber nur unter besonderen Bedingungen erhalten, wie etwa die Tafeln aus dem Schutthügel des Legionslagers von Windisch. Auch Blei wurde als billiges Schreibmaterial verwendet, etwa als Etikettenanhänger (Oberwinterthur) oder als Täfelchen für Verwünschungen (Avenches). Entdeckt wurden auch Ritzinschriften auf Gefässen zur Kennzeichnung des Besitzers oder als Weihinschrift (Augst), gemalte oder eingekratzte Notizen auf Wandverputz (Avenches), Herstellerstempel auf Ziegeln (u.a. Windisch) oder auf Bronze- und Silbergeschirr (Silberschatz von Kaiseraugst), Augensalbenstempel (Bern, Engehalbinsel), gemalte Inhaltsangaben auf Amphoren (Augst, Avenches) und schliesslich Stempel und Ritzinschriften auf Holzfässern (Eschenz). Der Gebrauch der Schrift im öffentlichen wie im privaten Leben war allgegenwärtig, aber nur die Steininschriften, wenige Bronzeinschriften und fallweise die übrigen Schriftträger sind erhalten geblieben. Charakteristisch sind jedoch die Steininschriften mit ihrer knappen, formelhaft stilisierten Sprache.
Die Masse des inschriftlichen Materials ist sehr gross: Ungefähr 300'000 lateinische Inschriften sind weltweit bekannt (in der Schweiz zwischen 450 und 500) und jedes Jahr kommen zahlreiche Neufunde dazu. Dabei verteilen sie sich sehr ungleich auf die verschiedenen Zeitabschnitte; nur 1% der erhaltenen Inschriften datiert in die Republik, die übrigen stammen aus der römischen Kaiserzeit, mit deren Beginn unter Augustus eine neue Epoche der epigrafischen Kultur einsetzte. Mit bewusstem stilistischem Willen wurde eine regelmässige Monumentalschrift geschaffen, welche die neuen oder restaurierten Gebäude zuerst in Rom und dann im gesamten römischen Reich schmückte. Die schönsten Schriften bestanden aus litterae auratae, aus vergoldeten Bronzebuchstaben, welche auf die in den Stein breit eingravierten Buchstaben aufgesetzt wurden; sie waren Symbol des neuen Zeitalters des Prinzipates.
Die Inschriften in der Schweiz
Die epigrafische Kultur ist auf eine urbane Öffentlichkeit hin angelegt; die Inschriften sollten als wichtige Kommunikationsmittel von einem breiten Publikum gelesen werden. So finden sich die Steininschriften in den grossen römischen Zentren Avenches, Nyon, Augst, Martigny und Chur sowie in den Subzentren von Genf und Lausanne über Yverdon nach Bern, Solothurn, Zürich und Eschenz/Stein am Rhein, wobei ihre Häufigkeit von Westen nach Osten hin abnimmt. Auch im und um das Legionslager von Windisch wurden zahlreiche Inschriften entdeckt. In den Zentren befanden sich die Ehrenmonumente auf dem Forum oder beim Theater bzw. Amphitheater, Weihinschriften wurden im Tempelbezirk aufgestellt. Längs der Ausfallstrassen der Städte oder am Rand grosser Villenanlagen standen die Grabsteine oder Grabmonumente. Meilensteine, die den Strassenbau durch den Kaiser bezeugten, säumten die grossen Strassen. Die ursprünglichen Aufstellungsorte sind indes nur noch selten – wie zum Beispiel teilweise in Avenches – zu rekonstruieren, da die Steininschriften überwiegend nur als Spolien, als in mittelalterlichen Bauwerken wiederverwendete Steine, tradiert sind.
Die Inschriften auf Ehrenmonumenten überliefern, da sie die Laufbahnen der Ausgezeichneten wiedergeben, den Aufbau der städtischen Selbstverwaltung (Colonia). Durch die Analyse der Namen lassen sich die rechtliche Stellung der Geehrten und der Stifter – Inhaber des römischen Bürgerrechts führen die tria nomina (Vornamen, Familiennamen, Beinamen) – und die Herkunft sowie die Zusammensetzung der städtischen Oberschichten festmachen. Mitunter sind auch Familien rekonstruierbar (Camillus, Abucinus, Nitonius, Petronius); gelegentlich geben die den Namen in abgekürzter Form angehängten Zusätze servus und libertus Aufschluss über den sozialen Status der Genannten und indirekt über die Bedingungen des Sozialaufstiegs. Die in den Inschriften fassbare Bevölkerung war nach Aussage der Namen einheimisch und wurde allmählich romanisiert. Die Weihinschriften richten sich nicht nur an die Götter der römischen Reichsreligion, sondern oft auch an lokale Gottheiten, die nur auf diese Weise überliefert sind (Lugoves in Avenches) und deren allmähliche Romanisierung zu verfolgen ist (Jupiter Poeninus auf dem Grossen St. Bernhard; Mercurius Cissonius in Muräia, Promontogno). Auch die orientalischen Gottheiten sind nur über Inschriften fassbar (Mithraeum in Martigny). Die Grabinschriften aus dem Legionslager von Vindonissa geben Einblicke in die Herkunft der Soldaten und die Dauer des Militärdienstes. Weitere Inschriften stellen den Bezug zu Kaiser und Reich her, wobei die Kaiserverehrung allgegenwärtig ist. Im kirchlichen und klösterlichen Bereich (Genf, Wallis) setzte sich die Tradition der epigrafischen Kultur im Mittelalter fort.
Mittelalterliche Inschriften
Aus dem Zeitraum von den Anfängen des Christentums bis zur Reformation hat sich eine Fülle von original überlieferten Inschriften auf den verschiedensten Trägern wie Stein, Holz, Ton, Stuck, Elfenbein, Metall, Textilien erhalten, ausgeführt in der jeweils erforderlichen Technik, also eingemeisselt, eingeritzt, geschnitzt, gemalt, gegossen, gestickt oder gewirkt. Eine weit geringere Anzahl ist dagegen nur in der Form von Abschriften – und nicht immer zuverlässig – überliefert, bei poetischen Texten kann es sich zudem um nicht für die epigrafische Ausführung bestimmte, rein literarische Zeugnisse handeln. Von der Gesamtzahl der schweizerischen Inschriften kann man sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts keine bestimmte Vorstellung machen, da die nach 1300 zu datierenden Zeugnisse noch nicht systematisch erfasst sind. Mit grossen Verlusten während des Überlieferungsprozesses ist jedenfalls zu rechnen.
Bis ins 13. Jahrhundert haben ausschliesslich kirchliche Institutionen Inschriften hervorgebracht. So wurden beispielsweise bis dahin nur geistliche Würdenträger mit beschrifteten Grabmälern und Epitaphien ausgezeichnet. Erst vom 13. Jahrhundert an bemühten sich auch Adlige und Gelehrte um die Pflege ihres Andenkens durch Inschriften auf Grabplatten, was im 15. Jahrhundert auch Patriziat und reiches Bürgertum zur Nachahmung anspornte. Kirchen und Kapellen blieben aber weiterhin die für Inschriften fast aller Gattungen bevorzugten Stätten. Inschriften rein profanen Inhalts nahmen erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts erheblich zu. Die Bindung an das klerikale Milieu bedingte auch die Wahl der Sprache. Das Latein beherrschte das Inschriftenwesen bis ins 14. Jahrhundert mit ganz wenigen Ausnahmen (erste deutsche Inschriften auf einer gestickten Tischdecke aus der Ostschweiz [?] und auf dem Fragment eines Epitaphs einer Baslerin, beide 13. Jahrhundert). Sowohl in der deutschen wie in der französischen Schweiz dominierten dagegen ab dem 15. Jahrhundert die Vulgärsprachen, selbst im kirchlichen Bereich.
Aufgrund des Inhalts lassen sich einfache Figurenbezeichnungen, Erläuterungen des Bildinhalts, Bau- und Weihinschriften, Grab- und Gedächtnisinschriften, urkundliche Inschriften, Glockeninschriften sowie Künstler- und Handwerkersignaturen als Gattungen unterscheiden. Zu den einfachen Figurenbezeichnungen zählen XR als Monogramm oder INRI für Christus und die Heiligennamen, meist mit vorangestelltem Sanctus oder mit der Kürzung S. (Basel, Münster, Aposteltafel, 11. Jh.). Vom 13. Jahrhundert an dienten Inschriften der Erläuterung des Bildinhalts, oft auf einem gewundenen Schriftband (spätgotische Chorstühle der Westschweiz) oder auf einer Schrifttafel (Bern, Münster, Hauptportal). Viele Bau- und Weihinschriften (Müstair, Klosterkirche, 12. Jh.; Bern, Münster, Hauptportal und Schultheissenpforte, 15. Jh.) beschränken sich auf die blosse Jahreszahl. Grab- und Gedächtnisinschriften kommen in diversen Formen vor, zum Beispiel auf aufrecht stehenden Grabsteinen – in frühchristlicher Zeit mit christlichen Symbolen versehen (Saint-Maurice, Grabstein des Mönchs Rusticus, 6. Jh.), während die Karolingerzeit die reine Inschriftenplatte vorzieht (Lausanne, Kathedrale, Grabstein eines Diakons, 9. Jh.) – oder auf liegenden Grabplatten sowie Deckplatten von Hochgräbern mit am Rand umlaufender Inschrift (Zürich, Platte des Ulrich von Regensberg, Ende 13. Jh.). Gedächtnisinschriften oder Epitaphien werden getrennt vom Grab an Wänden oder Pfeilern angebracht, wobei den Grabplatten oft eigene Inschriften fehlen (Basel, Münster, Epitaph des Bischofs Johann Senn von Münsingen, 14. Jh.); reine Gedächtnisinschriften finden sich auch auf den Totenschilden des 15. und 16. Jahrhunderts (Basel, Theodorskirche). Stifterinschriften wurden besonders an einzelnen Gegenständen oder Bildern angebracht, was vom Frühmittelalter an belegt ist (Beromünster, Warnebert-Reliquiar, 7. Jh.; St. Gallen, der Olifant, das aus Elfenbein hergestellte Jagd- und Signalhorn des Abtes Notker, 10. Jh.). Manche Inschriften können auch die Funktion von Urkunden annehmen wie die epigrafische Ausführung einer lateinischen Siegelurkunde (Basel, Rittergasse, 1264) oder die Notitia einer Schenkung auf einem Olifanten aus Muri AG (um 1200). Glockeninschriften sind vom 13. Jahrhundert an sehr zahlreich, meistens formelhaft, häufig mit retrograden Buchstaben oder sonst fehlerhaft, was zum Teil durch die Gusstechnik bedingt ist. Goldschmiede hinterliessen ihre Signaturen bereits im Frühmittelalter auf ihren Produkten (Saint-Maurice, Teuderigus-Reliquiar), eigentliche Künstlersignaturen traten erst im Spätmittelalter auf wie zum Beispiel die des Freiburger Malers Hans Fries. Handwerker nennen sich auffallend oft auf Holzdecken in Flachschnitzerei (Muttenz, Pfarrkirche, 1504).
Die Inschriften sind in aller Regel nicht von Angehörigen der Kanzleien oder Schreibschulen ausgeführt worden, sie widerspiegeln zwar die allgemeine Schriftentwicklung, entfalten aber auch Sonderformen, die durch die Beschaffenheit des Inschriftenträgers und die angewandte Technik sowie durch die angestrebte Wirkung bedingt sind. Die frühchristlichen Inschriften schliessen sich formal der spätrömischen Kapitalis an, die Schäfte und Bögen werden aber zunehmend dünner, brüchiger und unpräzise. Für die burgundische, langobardische und frühfränkische Epoche ist die Vorliebe für eckige und kursive oder unziale Formen charakteristisch, sofern sie nicht gänzlich verwildert sind. Die Karolingerzeit griff wieder das klassische Vorbild der Kapitalis auf und legte damit die Grundlage für die epigrafische Entwicklung bis ins 11. oder 12. Jahrhundert. Um 1200 erfasste die sporenlose gotische Majuskel von Frankreich her zunächst die Westschweiz, um bald der allgemein verbreiteten, unter dem Einfluss der Buchschrift entwickelten gotischen Majuskel Platz zu machen. Dieses kapital-unziale Mischalphabet betont durch starke Schwellungen die Flächigkeit der Buchstaben und trennt sie durch Abschlussstriche voneinander. Um 1400 setzte sich in der ganzen Schweiz die gotische Minuskel durch, die sich im Gegensatz zu aller epigrafischen Tradition nur noch für die Versalien verschiedener Kapitalisformen bedient. Kurze Ober- und Unterlängen, konsequente Schaftbrechung und zahlreiche Bogenverbindungen machen ihre Eigenart aus, die zudem eine bisher unbekannte individuelle Formenvielfalt erlaubt. Im späteren 15. Jahrhundert verbreitete sich schliesslich die frühhumanistische Kapitalis, deren erste Spuren schon auf Grabplatten südländischer Teilnehmer am Basler Konzil auszumachen sind.
Die epigrafische Forschung in der Schweiz
Die Erforschung der römischen Inschriften in der Schweiz geht bis auf das 16. Jahrhundert zurück; Glarean machte erste Abschriften in Avenches, Aegidius Tschudi legte die erste handschriftliche Sammlung an und Johannes Stumpf schuf das erste gedruckte Corpus. Theodor Mommsen, der 1852-1854 an der Universität Zürich tätig war, begründete mit der Edition der Schweizer Inschriften die wissenschaftliche Epigrafik. An allen Schweizer Universitäten wird Epigrafik fallweise oder regelmässig angeboten; die griechische Epigrafik ist ebenso vertreten wie die lateinische, die in Lausanne im Lehrplan verankert und mit einem Teillehrstuhl gesichert ist. Unter den Epigrafikern des 20. Jahrhunderts, die sich besonders für Schweizer Funde interessierten, sind Otto Schulthess (Bern), Ernst Meyer (Zürich), Paul Collart (Genf und Lausanne), Denis van Berchem (Genf), Peter Frei (Zürich), Gerold Walser (Bern) und ausserhalb der Universitäten Hans Lieb zu nennen. Walser machte sich vor allem um die Edition der Meilensteine des römischen Reichs verdient. Regula Frei-Stolba (Lausanne) betreut unter anderem die Neufunde der Schweiz.
Schweizer Inschriften aus der Zeit vom 4. bis zum 9. Jahrhundert publizierte der Kirchenhistoriker Emil Egli im frühen 20. Jahrhundert; Ernst Alfred Stückelberg sammelte das Material für eine Edition der Inschriften bis ins 16. Jahrhundert, die aber unveröffentlicht blieb. Eine systematische, den Prinzipien des Deutschen Inschriftenwerks weitgehend folgende Edition der Inschriften vom 4. bis ins 13. Jahrhundert gab Carl Pfaff heraus.
Quellen und Literatur
- CIL III; V; XII; XIII und die betreffenden Ergänzungen
- E. Howald, E. Meyer, Die röm. Schweiz, 1940
- G. Walser, Röm. Inschriften in der Schweiz, 3 Bde., 1979-80 (mit dt. Übers. und Abb.)
- R. Frei-Stolba, A. Bielman, Musée romain d'Avenches: les inscriptions, 1996
- M.A. Speidel, Die röm. Schreibtafeln von Vindonissa, 1996
- E. Egli, Die christl. Inschriften der Schweiz vom 4.-9. Jh., 1895
- Corpus Inscriptionum medii aevi Helvetiae 1-5, 1977-97
- R. Favreau, Les inscriptions médiévales, 1979
- LexMA 5, 442-445
- R.M. Kloos, Einführung in die Epigraphik des MA und der frühen Neuzeit, 21992
Kontext | Epigraphik |