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Kirchenbau

Der Begriff "Kirche" (neutestamentlich griechisch-lateinisch ecclesia) bezeichnet einerseits die Gemeinschaft der Christen, andererseits das ihren Versammlungen dienende Gebäude. In einigen Epochen ihrer rund 2000-jährigen Geschichte umfasste die Gemeinschaft der Christen im Gebiet der heutigen Schweiz die ganze Bevölkerung, in anderen nur Teile derselben, wobei diese manchmal dominant in Erscheinung traten oder aber sich aus dem öffentlichen Leben zurückzogen. Entsprechend verhält sich die Kirche als Bauwerk. Zeitlich und örtlich verschieden pendelt sie zwischen monumentaler Manifestation und architektonischer Unterordnung.

Die schweizerische Sakralarchitektur ist von den benachbarten Regionen geprägt worden (Architektur). Die bescheidene Grösse des Territoriums, die politischen Strukturen sowie die Situation an wichtigen Alpenübergängen im Zentrum Europas förderten den Austausch und die Vermittlung. Die kleinräumigen gesellschaftlichen und geografischen Einheiten führten zu formaler und funktionaler Vielfalt. Von spezifisch schweizerisch geprägtem Kirchenbau kann kaum gesprochen werden. Topografische Bedingungen förderten bestimmte Funktionen und Bautypen: Hospize und Spitäler entlang der Passstrassen, Wegheiligtümer, Kirchenburgen, Bergkirchen oder Kirchen mit Lawinenkeilen am Chor. Die Kirchen als Denkmäler der Landesgeschichte, insbesondere der Befreiungstradition, der Ikonografie Wilhelm Tells, Winkelrieds und der Drei Eidgenossen, die Schlacht- und Gedächtniskapellen, sind Besonderheiten der Schweiz. Europäische Bedeutung erlangte die schweizerische Sakralarchitektur des 20. Jahrhunderts.

Früheste kirchliche Gebäude waren unmittelbar ausserhalb der um 300 bei römischen Siedlungen errichteten Grenzkastelle situiert. Noch vor 400 richteten sich Bischöfe in den Städten ein, nutzten bestehende Gebäude um und erbauten neue Basiliken. So umfasste zum Beispiel die Gebäudegruppe des Bischofssitzes in Genf im 5. Jahrhundert die Saalkirche der älteren und die Basilika der jüngeren Kathedrale, das Baptisterium, den Bischofspalast mit der Bischofskapelle, einen Vorhof und Nebenräume. In den spätrömischen Kastellen auf der Landschaft entstanden kleine Saalkirchen mit angefügten Taufräumen und Priesterhäusern, so in Tenedo (Zurzach) und Kaiseraugst. Die ersten überlieferten Klosteranlagen datieren um 450. Bei den Gräbern des heiligen Mauritius und der thebäischen Legion in Agaunum (Saint-Maurice) stiftete König Sigismund von Burgund 515 ein Kloster, dessen Mönche die Regel des heiligen Romanus von Condat annahmen. Solche und auch noch die ersten Anlagen von Gallus und Otmar in St. Gallen gruppierten einzelne Behausungen der Mönche lose um die Kirche. Diese für das Frühmittelalter übliche, wenig systematisierte Form der Klosterarchitektur (Mönchtum) setzte sich im Mittelalter und noch in der Barockzeit dort fort, wo Beginen und Begarden in eremitischen oder kaum geregelten Gemeinschaften zusammenlebten.

Eine deutliche Monumentalisierung erfuhr die Sakralarchitektur in karolingischer Zeit. Gebäudefunktionen wurden in neuen Grossbauten zusammengefasst. Die unter Bischof Haito zwischen 805 und 823 errichtete Kathedrale von Basel zeichnete eine Doppelturmfassade aus. Mit der Delegation bischöflicher Rechte an Landkirchen entstanden die Pfarreien, die seit dem 8. Jahrhundert durch die Verpflichtung des Kirchenvolkes auf eine Pfarrkirche territorial definierte Gemeinden bildeten. Solche Pfarrkirchen (z.B. St. Martin in Cazis) waren meistens einfache kleine Gebäude. Der kurz vor 830 gezeichnete St. Galler Klosterplan, die bedeutendste Schriftquelle karolingischer Architektur, organisiert den Konvent um einen Kreuzgang. Auch die wichtigste noch bestehende karolingische Klosteranlage, das Benediktinerinnenkloster Müstair, zeigt neben der für Rätien typischen Form der Dreiapsidenkirche den Kreuzgang, das neue Leitmotiv des Klosters.

Im Hochmittelalter erreichte die Klosterarchitektur in der Romanik einen Höhepunkt. Die Benediktinerabtei Cluny strahlte in den Raum der ganzen Westschweiz, nach Romainmôtier, Payerne und bis ins Wallis aus. Die Hirsauer Reform äussert sich architektonisch in der Klosterkirche von Allerheiligen (SH). Auf die grosse Zeit Clunys folgte der Reformorden der straff organisierten Zisterzienser (z.B. Bonmont, Hauterive), der seine eigenen Bauformen über weite Teile Europas verbreitete.

Innenraum der ehemaligen Benediktinerklosterkirche San Nicolao in Giornico (Fotografie A. & G. Zimmermann, Genf).
Innenraum der ehemaligen Benediktinerklosterkirche San Nicolao in Giornico (Fotografie A. & G. Zimmermann, Genf). […]

Die Grosskirchen der Gotik entstanden nicht mehr in erster Linie als Bischofssitze (Genf, Lausanne), sondern als Symbole städtischer bürgerlicher Potenz (Freiburg, Bern, Zug). Aus ähnlichen Gründen baute die Bürgerschaft den Bettelorden grosse Predigtkirchen, nachdem sich diese ihrem Armutsgelübde entsprechend in Hospizen und Siechenhäusern niedergelassen hatten. Die Landbevölkerung erbaute insbesondere in spätgotischer Zeit unzählige Saal- und Hallenkirchen.

Die Kirche von Chêne-Pâquier, 1667 erbaut vom Berner Werkmeister Abraham Dünz (Fotografie A. & G. Zimmermann, Genf).
Die Kirche von Chêne-Pâquier, 1667 erbaut vom Berner Werkmeister Abraham Dünz (Fotografie A. & G. Zimmermann, Genf).

Die Reformation wirkte sich vorerst nicht auf die Entwicklung der Sakralarchitektur aus. Der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli reagierte "archäologisch", indem er empfahl, den Taufstein in den Chor zu stellen, wie dies ursprünglich in St. Peter in Zürich der Fall gewesen sei. Für die Spendung des Sakraments sah er einen beweglichen Tisch vor, sofern nicht der Taufstein zugleich als Abendmahlstisch diente. Die bestehenden Kirchen wurden umgenutzt und neu ausgestattet, architektonisch aber kaum je verändert. Die 1667 erbaute ovale, einschiffige, turmlose Querkirche von Chêne-Pâquier übernahm als Vorbild den Temple du Paradis in Lyon und darf als erste schweizerische Neuformulierung reformierter Architektur gelten. Die Querkirche wurde insbesondere zwischen 1750 und 1850 häufig gebaut, oft ausgestattet mit katholischen Kirchen ebenbürtigen Stuckaturen. In Binningen und Wintersingen entstanden 1673-1676 Winkelhakenkirchen über L-förmigen Grundrissen nach dem Vorbild von Freudenstadt (Schwarzwald). Der 1713-1715 erbaute Temple de la Fusterie brachte das Vorbild von Charenton in Paris nach Genf. Die Motive der allseitig umlaufenden Empore, der Kolonnade und der Pilasterfassade wurden an der 1726-1729 erbauten Heiliggeistkirche in Bern übernommen.

Innenraum der Jesuitenkirche in Luzern, errichtet 1666-1671 nach Plänen von Pater Christoph Vogler (Fotografie Theres Bütler, Luzern).
Innenraum der Jesuitenkirche in Luzern, errichtet 1666-1671 nach Plänen von Pater Christoph Vogler (Fotografie Theres Bütler, Luzern).

Die durch das Konzil von Trient eingeleitete Katholische Reform förderte im 17. und 18. Jahrhundert den Bau von neuen Pfarrkirchen und Wallfahrtskapellen im Stil des Barock, sowie – in Graubünden – zahlreicher Kapuzinerhospize. Gleichzeitig entstanden die monumentalen Kollegien der Jesuiten in Luzern, Freiburg, Pruntrut, Solothurn und Brig sowie die mächtigen Klosteranlagen der Benediktiner und Zisterzienser in Einsiedeln, Rheinau, St. Gallen und St. Urban, welche die Städte und Landschaften dominierten.

Im 19. Jahrhundert veränderte der durch die Industrialisierung und den Tourismus ausgelöste Strukturwandel der Bevölkerung, der die starren Konfessionsgrenzen durchbrach, die Entwicklung der Sakralarchitektur grundlegend. Der Kirchenbau war formal nicht mehr eine Frage des Glaubens, sondern des Baustils. Die internationale Mobilität äusserte sich in der Schweiz konfessionell und architektonisch, indem für immer mehr Glaubensgemeinschaften immer vielfältigere, von einheimischen Traditionen unabhängige Kirchen, Tempel und Synagogen gebaut wurden. Dieser Tendenz entsprach die Stilvielfalt des späten Historismus. Neugotik, Neuromanik, Neurenaissance und orientalisierende Stile unterstellten die Liturgie dem Dekorationswillen des Ästhetizismus und breiteten sich in den Städten und auf der Landschaft über die konfessionellen Grenzen hinweg ebenbürtig und vertauschbar aus.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzten Jugendstil, Neubarock und Neuklassizismus letzte historistische Akzente. Darauf reagierend, aber auch Ideen des Nationalismus und des Heimatschutzes aufnehmend, entwickelte sich ab 1906 der Heimatstil, der 1919-1945 von der Groupe de Saint-Luc et Saint-Maurice weiter gepflegt wurde. Obwohl Karl Mosers Antoniuskirche von 1927 in Basel strukturell noch im Historismus verharrte, begann mit der materialgerechten Anwendung des Eisenbetons technologisch eine neue Ära. Davon löste sich die 1934 geweihte St. Karlskirche von Fritz Metzger in Luzern vollständig. Sie ist das eigentliche Schlüsselwerk des Neuen Bauens, weil sie einerseits das Baumaterial Beton formal konsequent einsetzt und der neuen Ästhetik unterordnet, und weil sie andererseits die Forderungen der liturgischen Bewegung nach tätiger Teilnahme der Gläubigen am Gottesdienst im Raumkonzept aufnimmt. Die Leitmotive der nüchternen Raumhülle und der Wegkirche wurden während der nächsten Jahrzehnte vielfach abgewandelt.

Dieser Tendenz ordnete sich Le Corbusier nicht unter. Er baute 1955 die Wallfahrtskapelle Ronchamp (Franche-Comté), eine frei geformte, ebenfalls erst durch Beton ermöglichte Skulptur. Bis heute pendelt der Kirchenbau zwischen Rationalem und Malerischem, wobei sich diese Werte auch überlagern können: Mit der Piuskirche in Meggen gelang Franz Füeg 1966 die reine, geometrisch präzise Architektur, deren streng berechnete Wirklichkeit er durch die diaphane Hülle genauso vollständig wieder auflöste.

Parallel zum formal-materiellen Entwicklungsstrang führte die Frage der Nutzung zu weiteren architektonischen Antworten. Seit der Reformation ist die paritätisch, von den Protestanten wie Katholiken zu unterschiedlichen Zeiten gemeinsam benutzte Kirche bekannt (v.a. im Aargau, Thurgau, Rheintal und Toggenburg, sowie in Murten und Echallens). Schwierigkeiten traten erst nach dem Ersten Vatikanischen Konzil 1869-1870 und der damals einsetzenden, katholisch militanten Bewegung auf. An der Landesausstellung in Bern entstand 1914 eine von der übrigen Ausstellung klar getrennte, architektonisch zweigeteilte, katholisch-protestantische Kirche. Die von den Protestanten und Katholiken gemeinsam in Auftrag gegebene Kirche der Landi 1939 wurde als "Pavillon der kirchlichen Kunst" bezeichnet und diente als formal wertfreier Container der Ausstellung von christlicher Kunst. An der Expo 64 in Lausanne wurde dieser eine, gemeinsame Kultraum in den grösseren Ausstellungszusammenhang "Froh und sinnvoll leben" integriert, zu dem auch die Themen Freizeit, Sport, Gesundheit, Ferien, Kleid und Schmuck gehörten.

Die Kirche des heiligen Benedikt (Sogn Benedetg) mit ihrem Glockenturm im bündnerischen Sumvitg, erbaut 1985-1989 von Peter Zumthor (Privatsammlung, alle Rechte vorbehalten).
Die Kirche des heiligen Benedikt (Sogn Benedetg) mit ihrem Glockenturm im bündnerischen Sumvitg, erbaut 1985-1989 von Peter Zumthor (Privatsammlung, alle Rechte vorbehalten).

Der in der Siedlung und sogar im einzelnen Bauwerk aufgehende multifunktionale und unterteilbare Kultraum ist seit den von Otto Senn in den 1950er Jahren verfassten Schriften und Projekten ein Thema geworden. Auch brach das Zweite Vatikanische Konzil 1963 die im katholischen Kirchenbau noch bestehenden architektonischen Schranken ab. Für die pluralistische, offene Gesellschaft entstanden darum einerseits ökumenische kirchliche Zentren, zuerst 1971 in Langendorf, andererseits anonym in die Umgebung eingetauchte, nicht als Kirchen erkennbare Gemeindezentren, welche allen Bedürfnissen der verschiedenen Glaubensgemeinschaften gerecht zu werden versuchten. Letzteres scheiterte, weil sich multivalent nutzbare Räume architektonisch kaum befriedigend gestalten lassen. Nach dieser letzten Phase sogenannt negierender Kirchenarchitektur war Ende des 20. Jahrhunderts wieder die als affirmierend bezeichnete Sakralarchitektur im Bau: Sogn Benedetg (Sumvitg), 1985-1989 von Peter Zumthor, und Monte Tamaro (Monteceneri), 1994 von Mario Botta errichtet, sind beides zeichenhaft gestaltete Bergkapellen.

Quellen und Literatur

  • Kdm
  • J. Gantner, A. Reinle, Kunstgesch. der Schweiz, 1936-62
  • Schweiz. Kunstführer, 1953-
  • G. Germann, Der prot. Kirchenbau in der Schweiz von der Reformation bis zur Romantik, 1963
  • F. Oswald et al., Vorrom. Kirchenbauten, 1966-71 (21990)
  • K. Speich, H.R. Schläpfer, Kirchen und Klöster in der Schweiz, 1978
  • INSA
  • AH 3
  • M. Grandjean, Les temples vaudois, 1988
  • P. Jezler, Der spätgot. Kirchenbau in der Zürcher Landschaft, 1988
  • Zisterzienserbauten in der Schweiz, 2 Bde., 1990
  • H. Horat, «Der Kirchenbau in der Schweiz zwischen dem ersten und dem zweiten Vatikan. Konzil», in ZSK 84, 1990, 95-107
  • W. Jacobsen et al., Vorrom. Kirchenbauten, 1991 (Nachtragsbd.)
  • «Got. Sakralarchitektur, 13.-15. Jh.», in UKdm 43, 1992, H. 1
  • W. Jacobsen, Der Klosterplan von St. Gallen und die Karoling. Architektur, 1992
  • F. Brentini, Bauen für die Kirche, 1994
  • G. Germann, «Der Prot. Kirchenbau in der Schweiz bis 1900», in Gesch. des prot. Kirchenbaus, Fs. Peter Poscharsky, hg. von K. Raschzok, R. Sörries, 1994, 192-200
Weblinks

Zitiervorschlag

Heinz Horat: "Kirchenbau", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 03.05.2017. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011002/2017-05-03/, konsultiert am 18.04.2024.