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Textilkunst

Autonome Kunstwerke, in textiler Technik ausgeführt, gelten als Textilkunst, eine Gattung innerhalb des Kunsthandwerks. In der Schweiz entwickelte sich die Textilkunst seit dem Mittelalter kontinuierlich. Ihre Geschichte zeigt neben der Entwicklung der verschiedenen textilen Techniken und dem Gebrauch der unterschiedlichen Textilien auch die Bedeutung der Textilkunst auf. Die Bürger der im späten Mittelalter durch Handel und Gewerbe erstarkten Städte statteten ihre Häuser mit künstlerisch gestalteten Wand- und Bettbehängen, Kissen oder Tischtüchern aus. Diese hatten als bewegliches Kunstgut mit ihren individuellen Bildprogrammen dieselbe Funktion wie die spätere Tafelmalerei. Gleichzeitig wurden in Kirchen und Klöstern Chorbehänge und Altartücher gestiftet. Diese nahmen mit ihren Heiligenfiguren und szenischen Darstellungen oft auf besondere Feste des Kirchenjahrs Bezug und wurden nur an diesen aufgehängt. Andere waren für private Totengedenkfeiern (Jahrzeiten) bestimmt.

Das älteste überlieferte Beispiel einer textilen Wandbespannung der Schweiz ist die «Tapete von Sitten» aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, von der Fragmente im Schweizerischen Landesmuseum, im Historischen Museum Basel und im Bernischen Historischen Museum erhalten sind. Die mit Holzmodeln in Kienruss (schwarz) und Rötel (rot) bedruckte Leinwand zeigt in übereinander angeordneten Bildstreifen Szenen aus dem höfischen Leben und der klassischen Sagenwelt. Sie ist zwar der einzige Beleg für die Gattung grossflächig bedruckter Wandbespannungen mit Szenen, die sich – bedingt durch das Druckverfahren – mehrfach wiederholen, doch ist anzunehmen, dass solche Tapeten im späten Mittelalter gebräuchlich waren.

Karten spielendes Paar. Ausschnitt aus einem Gobelin, um 1470 (Historisches Museum Basel).
Karten spielendes Paar. Ausschnitt aus einem Gobelin, um 1470 (Historisches Museum Basel). […]

Quellen der gleichen Epoche belegen, dass in Basel damals Wirkereien produziert wurden. Die Wirkerei ist eine stoffbildende Technik, bei der mit buntem Schussgarn figürliche Darstellungen und Muster in ein Kettfadensystem eingetragen werden. Die Stadt Basel ist als das einzige mittelalterliche Wirkzentrum der Schweiz belegt. Schriftquellen bezeichnen die einheimischen Wirkereien immer mit dem alemannischen Begriff Heidnischwerk und erinnern damit an die orientalische Herkunft der Technik. Die ältesten erhaltenen Beispiele der Basler Produktion, die einen unverkennbaren Stil entwickelte und im 15. Jahrhundert eine Hochblüte erlebte, datieren um 1410-1420. Sie zeigen auf langem Streifenformat elegante Edelleute, die wilde Fabeltiere zähmen, und dienten als farbiger Bildschmuck der sparsam möblierten, dunklen und niedrigen Stuben spätgotischer Bürgerhäuser (Historisches Museum Basel). Für die bürgerlichen Auftraggeber wurden eigene Bildformulierungen geschaffen, in denen Liebe und Treue, Standhaftigkeit und Ehre thematisiert sind. Eine besondere Interpretation erhielten die Wildleute. Sie sind auf den Tapisserien als friedliche Naturwesen dargestellt, die im Einklang mit der Pflanzen- und Tierwelt leben und gleichnishaft für die Menschen handeln. Nicht nur Wohnräume, auch Kirchen und Klöster waren mit in leuchtenden Farben gewirkten Chortüchern, Antependien und Andachtsbildern ausgestattet. Die Wirkereien aus Basel genossen eine derart hohe Wertschätzung, dass reiche Bürger aus Luzern, Bern, Thun, Schaffhausen und selbst Ravensburg hier Heidnischwerk in Auftrag gaben und mit ihren Wappen versehen liessen. Im Gebiet der heutigen französischen Schweiz wurden Wirkereien in den franko-flandrischen Zentren bestellt. So gab zum Beispiel Georges de Saluces nach seiner 1440 erfolgten Ernennung zum Bischof von Lausanne, einem Amt, das auch die weltliche Gerichtsbarkeit umfasste, in Flandern einen grossen Bildteppich für den Kapitelsaal, der zugleich Gerichtssaal war, in Auftrag (Bernisches Historisches Museum). Die Ikonografie des Behangs entsprach den Bildern der Gerechtigkeit, die Rogier van der Weyden wenig vorher im Gerichtssaal des Brüsseler Rathauses geschaffen hatte.

Vom frühen 16. Jahrhundert an wurden in der Schweiz die Wirkereien von den Wollstickereien abgelöst. Die Nadelmalereien in bunter Wolle, deren Glanzlichter mit Seide oder Edelmetall hervorgehoben wurden, zeigen Bilderfolgen aus dem Alten und Neuen Testament oder aus dem täglichen Leben. Die Vorzeichnungen in Blei wurden mit Pinsel oder Feder auf ein Grundgewebe aus Leinwand aufgetragen, das mit der Stickerei, die sich nur weniger Sticharten bediente, vollständig verdeckt wurde. Oft steht ein Familienwappen an zentraler Stelle der Kompositionen. Es zeugt davon, dass die von Bürgersfrauen und ihren Töchtern ausgeführten Stücke nicht allein zur Behaglichkeit des familiären Wohnraums beitrugen, sondern vor allem auch deutliches Zeichen des Familienstolzes waren. In Wollstickerei wurden auch Kopien von kleinasiatischen Knüpfteppichen hergestellt, die man wie diese über die Tische legte. Das älteste bekannte Beispiel datiert von 1533 und zeigt die Allianzwappen eines führenden Schaffhauser Bürgergeschlechts (Schweizerisches Landesmuseum).

In der Schweiz ist die Leinenstickerei seit dem 13. Jahrhundert belegt; beim ältesten Stück aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts handelt es sich um eine 670 cm lange Tischdecke (Schweizerisches Landesmuseum). Die Leinenstickerei wurde in Zürich, Schaffhausen und St. Gallen von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis ins frühe 17. Jahrhundert gepflegt. St. Gallen, Zentrum der Leinwandproduktion (Leinwand, Textilindustrie) im Bodenseeraum, lieferte das Grundmaterial für die Werke, die ausser biblischen Bildern auch Szenen aus der Schweizer Geschichte darstellen. Das Stickgarn bestand anfangs nur aus gebleichtem Leinen. Vom 16. Jahrhundert an wurden daneben auch noch blaues und braunes Garn sowie bunte Seide und Edelmetall verwendet. Kennzeichen der Leinenstickerei ist, dass bei der Gestaltung der Fläche das Grundgewebe stets miteinbezogen ist. Vor diesem heben sich die gestickten Motive durch eine Vielzahl an Zierstichen deutlich ab. Kirchliche wie profane Textilien wurden in dieser Technik gleichermassen gestaltet und oft mit den Wappen der Besitzer oder Auftraggeber versehen.

Seit dem frühen 17. Jahrhundert wurden als Folge der tridentinischen Liturgiereform die liturgischen Gewänder der Priester erneuert und mit kostbaren Seidenstoffen und reichen Seidenstickereien dem vorgeschriebenen Farbkanon angepasst. Verschiedene Frauenkonvente der Zentralschweiz spezialisierten sich damals auf die Herstellung neuer Paramente. Nur wenige Nonnen sind als Stickerinnen namentlich bekannt, darunter die Zisterzienserin Scholastika Anderallmend vom Kloster Olsberg. Ihre Werke zeichnen sich aus durch eine perfekt gehandhabte Reliefstickerei aus Gold und Silber (Goldlahn, silbervergoldeter Lahn um Seidenseele), in die Perlen, Granate und Glasflüsse eingearbeitet sind. Sie zeigen meist symmetrisch komponierte Blumenbuketts auf Seidengrund.

Grundlegende Impulse erhielt die moderne Textilkunst durch Sophie Taeuber-Arp, die 1916-1929 die Leitung der Textilklasse an der Kunstgewerbeschule in Zürich innehatte. Sie verstand es, textiles Gestalten als künstlerische Ausdrucksform zu nutzen und schuf mit ihren gestickten Bildern autonome Kunstwerke. Von nun an wurden die technischen Grundformen vermehrt sichtbar gemacht und als künstlerisches Mittel eingesetzt. Beste Beispiele dafür sind die von Lise Gujer in Wolle gewirkten Decken nach Entwürfen von Ernst Ludwig Kirchner. Die Befreiung der Textilkunst aus den Gesetzmässigkeiten der tradierten Techniken lässt sich auf die Arbeit und Lehrtätigkeit von Elsi Giauque, einer Schülerin von Taeuber-Arp, zurückführen. Seit den 1960er Jahren lösten sich die textilen Werke aus der Fläche; es entstanden dreidimensionale Textilplastiken. Von grosser Bedeutung für die Geschichte der modernen Textilkunst ist die 1962 durch Jean Lurçat angeregte Gründung der Biennale der Tapisserie in Lausanne. Mit ihr beheimatet die Schweiz ein internationales Forum, das in regelmässigem Turnus über die neusten Stilrichtungen der zeitgenössischen Textilkunst informiert. Ausser den tradierten natürlichen Fasern verarbeiten die zeitgenössischen Künstler Materialien wie Holz, Papier, Haut, Plastik, Metall, Glas oder Nylon. Ihre Objekte gelten als Textilkunst, weil das Zusammenfügen dieser Materialien letztlich auf einer textilen Technik basiert.

Quellen und Literatur

  • Biennale internationale de la tapisserie, Ausstellungskat. Lausanne, 1962-89
  • R.L. Suter, «Scholastika An der Allmend», in ZAK 25, 1968, 108-137
  • J. Schneider, Textilien, 1975
  • Stoffe und Räume, Ausstellungskat. Thunstetten, 1986
  • A. Rapp Buri, M. Stucky-Schürer, Zahm und wild, 1990 (31993)
  • Biennale internationale de Lausanne, Ausstellungskat. Lausanne, 1992-
Weblinks

Zitiervorschlag

Anna Rapp Buri: "Textilkunst", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.12.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011175/2013-12-17/, konsultiert am 29.03.2024.