Der Begriff Historismus leitet sich vom englischen Wort historicism ab und umschreibt die Bewegung, die in Architektur und Kunst ab 1850 zu verschiedenen Wiederbelebungen (revivals) historischer Stilformen führte. Als Oberbegriff für einzelne Erscheinungen und Zeitabschnitte umfasst der Historismus sowohl die englischen Begriffe picturesque und Victorian wie den italienischen stile Umberto, die Stile der französischen Herrscher Louis-Philippe und Napoleon III. (second Empire) sowie jenen des bayrischen Königs Maximilian II., ausserdem die deutschen Begriffe Romantik, Rundbogenstil und Neurenaissance. Dem Historismus zeitlich vorangegangen sind der Klassizismus und die Neugotik. Im Unterschied zu diesen zielte der Historismus nicht auf die archäologisch getreue Nachahmung vergangener Stile, sondern auf die Schaffung eines dem 19. Jahrhundert eigenen, neuen Stils. Um 1860 erreichte der Historismus seinen Höhepunkt mit der Ausbildung einer stilpluralistischen Architektur, die den «freien Umgang mit der gesamten Baugeschichte» (César Daly) postulierte und zum Ziel hatte, einen der grossbürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts adäquaten Stil zu schaffen. Diese Epoche wird gemäss dem Ergebnis ihrer Bestrebungen auch als Stilpluralismus (Eklektizismus) bezeichnet. Sie wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Reformbewegungen abgelöst, die wie im Falle des Heimatstils heimische Werktraditionen aufgriffen und lokale Werkstoffe einsetzten oder, im Gegensatz dazu, die Möglichkeiten der industriellen Produktion auszuloten suchten (Jugendstil, Schweizerischer Werkbund, später Neues Bauen).
Die Entstehung des Historismus
Am Anfang des Historismus trat das Phänomen auf, dass um 1800 mit Klassizismus und Neugotik zwei Stilrichtungen nebeneinander bestanden, womit Architektur und Kunst erstmals als eine Reihe vielfältiger stilistischer Entwicklungen begriffen wurden. Die daraus abgeleitete Frage nach dem «richtigen Stil» wurde ab 1820 in ganz Europa diskutiert. Ausgehend von den gegensätzlichen Prinzipien der Balken- und Bogenkonstruktionen plädierte Heinrich Hübsch in seiner Schrift «In welchem Style sollen wir bauen?» (1828) für einen sich an frühchristlicher, byzantinischer und romanischer Architektur anlehnenden Rundbogenstil, während Christian Ludwig Stieglitz die Auffassung vertrat, dass der griechische und der gotische Stil – Letzterer wurde damals als genuin deutsch aufgefasst – dem Rundbogenstil gleichwertig gegenüberstünden («Beiträge zur Geschichte der Ausbildung der Baukunst» 1834). 1835 definierte Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen «Vorlesungen über Ästhetik» die Kunstgeschichte als eine Folge gleichwertiger Stile. In England wurde die Stildiskussion von Thomas Hope angeführt, der schon 1807 die Antwort auf die Frage nach einem englischen Nationalstil in einem rational begründeten Eklektizismus sah.
Neben die Stilfrage trat jene nach der Farbigkeit in der Architektur (Polychromiestreit). Sie war zuerst archäologisch bestimmt und wurde um 1820 zum Instrument der Kritik am Klassizismus. Wortführer waren Jacques Ignace Hittorff («De l'architecture polychrome chez les Grecs» 1830) und Gottfried Semper («Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architectur und Plastik bei den Alten» 1834). Letzterer erkannte den dem 19. Jahrhundert angemessenen neuen Stil in der Verbindung von Historismus und Farbigkeit.
Historismus in der Schweiz
Zur Verbreitung des Historismus in der Schweiz trugen die um 1830 aufkommenden Architekturzeitschriften, Bildungsreisen und die Ausbildung von Schweizer Architekten in München, Berlin, Paris und Mailand bei. Mit Gottfried Semper wurde 1855 ein grosser Theoretiker und führender Entwurfsarchitekt an das Eidgenössische Polytechnikum in Zürich berufen. Sempers Tätigkeit in der Schweiz markiert die erste Phase des schweizerischen Historismus. Sie zeichnet sich durch eine klassizistisch anmutende, zurückhaltende Formgebung aus, die im Wesentlichen auf der freien Übernahme der italienischen Renaissance-Architektur beruht. Zu Sempers wichtigsten Bauten in der Schweiz gehören das Polytechnikum in Zürich (1858-1864), das Stadthaus in Winterthur (1865-1868) und das Geschäftshaus Fierz in Fluntern (heute Gemeinde Zürich, 1865-1868). Zu den wichtigsten Bauten des Historismus in der Schweiz zählen zudem der Hauptbahnhof Zürich (von Jakob Friedrich Wanner, 1865-1871), das ehemalige Bundesgericht in Lausanne (von Benjamin Recordon, 1881-1886), das ehemalige Verwaltungsgebäude der Gotthardbahn in Luzern (von Gustav Mossdorf, 1886-1888), die Kirche Enge in Zürich (von Alfred Friedrich Bluntschli, 1892-1894), das Schweizerische Landesmuseum in Zürich (von Gustav Gull, 1892-1898), und das Bundeshaus in Bern (Westteil von Friedrich Studer, 1852-1857, Ostteil 1888-1892, Mittelteil 1894-1902, beide von Hans Auer).
Auch renommierte ausländische Architekten bauten in der Schweiz: Pierre Joseph Edouard Deperthes die Kirche St. Peter und Paul in Bern, Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc die schottische Kirche in Lausanne, George Edmund Street die englischen Kirchen von Mürren, Lausanne und Vevey sowie Friedrich Schmidt die Hauptpost in Basel. Die Engländer Sir Joseph Paxton und George Henry Stokes errichteten 1858 nach französischen Vorbildern in Pregny-Chambésy das Maison Rothschild. Der unmittelbare Einfluss des französischen Historismus setzte sich in der Schweiz jedoch erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts durch, zuerst in der Westschweiz, wo Jacques-Elisée Goss ab 1862 in Genf Villen, Wohnhäuser und öffentliche Bauten (u.a. das Grand Théâtre, 1874-1879) errichtete, kurze Zeit später auch in der Deutschschweiz. Hier erbaute Jakob Friedrich Wanner 1872-1876 das Bankgebäude der Schweizerischen Kreditanstalt am Paradeplatz in Zürich. Die Wiener Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer errichteten ebenfalls in Zürich 1890-1891 das Opernhaus und 1893-1895 die Tonhalle in üppiger neubarocker Formensprache. Neben den Konzert- und Theaterbauten verkörperte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Grand Hotel mit einer schwülstigen Mischung von Formen der Spätrenaissance und des französischen Barocks den Historismus französischer Prägung.
Grossbürgerliches Lebensgefühl, die Freude an der Repräsentation, die Lust am Aussergewöhnlichen und der Optimismus der späten Gründerjahre drängten den Historismus Ende des 19. Jahrhunderts zu einem den bürgerlichen Massengeschmack repräsentierenden Universalstil romantisch-eklektischer Prägung (Bürgerhaus). Unter dem Architekten Heinrich Honegger-Näf entstand in Zürich in Seenähe das Weisse Schloss (1890-1893), ein Gebäudekomplex mit zerklüfteter Silhouettenwirkung und eklektischer Formensprache. Am Alpenquai (heute General-Guisan-Quai) erbaute Heinrich Ernst das Rote Schloss (1891-1893), einen aus mehreren Häusern bestehenden schlossartigen Wohnkomplex in üppig wuchernden Louis-XIII-Formen.
Bei allen Ansätzen zur Regionalität bildete der Historismus in der Schweiz sowenig wie andernorts einen nationalen Stil aus, auch nicht bei Verwaltungs- und Staatsbauten. Trotz nationaler Färbungen zeigt auch das im Stil und Formenvokabular eines überdimensionierten Hotels der Belle Epoque erbaute Bundeshaus in Bern, dass es sich bei der eklektischen Baukultur des Historismus letztlich nicht um ein nationales, sondern um ein internationales Phänomen, um den Stil des 19. Jahrhunderts schlechthin handelt.
Quellen und Literatur
- H.-R. Hitchcock, Die Architektur des 19. und 20. Jh., 1994 (engl. 1958)
- J. Gantner, A. Reinle, Kunstgesch. der Schweiz 4, 1961
- A. Meyer, Neugotik und Neuromanik in der Schweiz, 1973
- O. Birkner, Bauen + Wohnen in der Schweiz 1850-1920, 1975
- C. Mignot, Architektur des 19. Jh., 1983
- P. Bissegger, Le Moyen Age romantique au Pays de Vaud, 1825-1850, 1985
- R. Flückiger-Seiler, Hotelträume zwischen Gletschern und Palmen, 2001 (22005)