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Volkskunst

Gemaltes, hölzernes Ladenschild von Felix Künzle, Toggenburg, um 1820 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, LM-16997).
Gemaltes, hölzernes Ladenschild von Felix Künzle, Toggenburg, um 1820 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, LM-16997). […]

Volkskunst im üblichen Sinn meint handwerkliche Erzeugnisse mittlerer und unterer sozialer Schichten, die von nicht qualifizierten Laien für den Eigengebrauch oder von spezialisierten Laien und gelernten Fachleuten vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, mit einer Blütezeit im 18. Jahrhundert, hergestellt wurden. Die Grenzen zwischen Volkskunst und Kunsthandwerk sind somit fliessend. In der Regel sind die Erzeugnisse der Volkskunst über die Gebrauchsfunktion hinaus in einer Art künstlerisch gestaltet, die der Produktionsweise und den jeweiligen sozioökonomischen Bedingungen entspricht, der Tradition und den kollektiven Bedürfnissen verpflichtet ist. Besondere Merkmale sind die von Materialien, Technik und Werkzeugen abhängigen Ornamentformen und Stilisierungen. Gemäss der geografischen und kulturellen Vielfalt der Schweiz kann nicht von einer einheitlichen Schweizer Volkskunst gesprochen werden, vielmehr haben die historischen Bedingungen zu unterschiedlichen Volkskunstlandschaften geführt. Besonders hervorzuheben sind die beiden Hirten-Regionen Appenzell und Greyerz mit ihrer Volkskunst rund um die Milchwirtschaft, wie Trachten und Trachtenschmuck, hölzernes und reich geschnitztes Milchgeschirr, Senntum-, bzw. Poya-Malerei (Darstellungen des Alpaufzugs). Gegliedert wird die Volkskunst meist nach Objektgruppen (ländliche Architektur, Bauernmöbel, Trachten), Werkstoffen (Holz, Keramik, Glas, Textilien), Techniken (Scherenschnitt, Ziselierung, Schnitzerei), Berufsgruppen (Senn, Müller), Intentionen, zum Beispiel religiösen Aspekten (Skulpturen, Exvoto-Weihegaben, Klosterarbeiten), Stationen im Lebenszyklus (Taufe, Hochzeit) und Bräuchen (Fasnacht), wobei Überschneidungen entstehen.

Ein Paar, auf Papier gemalt von einem anonymen Künstler (Grand Chalet, Rossinière; Fotografie Bibliothèque de Genève, Archives Nicolas Bouvier).
Ein Paar, auf Papier gemalt von einem anonymen Künstler (Grand Chalet, Rossinière; Fotografie Bibliothèque de Genève, Archives Nicolas Bouvier). […]

Der Begriff Volkskunst ist seit jeher umstritten und wird immer wieder neu definiert, zum Beispiel eingeschränkt auf Bauernkunst oder ausgeweitet auf populäre Kunst, was den französischen arts populaires und der italienischen arte popolare näherkommt und alle materiellen und immateriellen Erscheinungsformen (z.B. Volkslied, Tanz) mit einschliesst. Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert bemüht sich die wissenschaftliche Forschung, den verbreiteten Vorstellungen und Ideologisierungen einer vorindustriellen «heilen Welt», die durch populärwissenschaftliche Ausstellungen und Publikationen gefördert wurden, entgegenzutreten, indem sie die sozialhistorischen Bedingungen und Auswirkungen von Produktion, Distribution und Konsumtion der Volkskunst erhellt. Nicht nur das «Schöne» wird untersucht, sondern die Traditionen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Epochen sowie an unterschiedlichen Orten, die Bedeutung für alle Betroffenen (bis zu den heutigen Sammlern), die Beharrung und Innovation, der Wandel von Funktion und Material sowie die Wechselbeziehungen zwischen Volkskunst und Hochkunst. Dabei wird auch die zeitgenössische, ästhetische Komponente des Alltags erforscht, das kreative Bemühen verschiedenster Gruppen in einer sich stets verändernden Welt. Meist wird dann von temporärer Gruppenkunst, bildnerischen Alltagsschöpfungen, populärer Kreativität usw. gesprochen. Dazu gehören neue Formen und Normen unter anderem der Feierabendkunst, der Jugendkultur und der städtischen Subkulturen wie Spraybilder (Graffiti) an öffentlichen Wänden, Bemalungen auf Motorrädern oder Computergrafik.

Seit der «Entdeckung» der Volkskunst in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch kulturell, wirtschafts- und sozialpolitisch aktive Kreise als Reaktion auf soziale und strukturelle Umwandlungen wie Industrialisierung und Urbanisierung wurde sie in Deutschland und Österreich durch die Kunstgewerbebewegung und in England durch das Arts and Crafts Movement gefördert. Sammlungen von Volkskunstobjekten dienten als Vorlagen für die Hausindustrie und das Kunstgewerbe. Beim Engagement für eine Wiederbelebung der Volkskunst ging es einerseits um die wirtschaftliche Kräftigung der Landbevölkerung durch die Schaffung von Arbeitsplätzen, andererseits, im Geiste des Historismus, um die Rückbesinnung auf die eigene Überlieferung und somit um die Aufwertung und Idealisierung der Handarbeit, die in einen positiven Kontrast zur industriellen Massenkunst gestellt wurde. In der Schweiz begannen solche Wiederbelebungsversuche durch bürgerliche Kreise erst nach dem Ersten Weltkrieg. Auch hier standen ökonomische Überlegungen im Vordergrund. Zu Zeiten der Geistigen Landesverteidigung war man zudem bestrebt, mit «bodenständiger» und «urwüchsiger» Volkskunst nationales Gedankengut zu festigen. Den grössten Einfluss auf die Aktivierung der Volkskunst in der Schweiz hatten das 1930 gegründete Schweizer Heimatwerk sowie verwandte gemeinnützige Institutionen, welche sich bemühten, der ärmeren, meist (berg)bäuerlichen Bevölkerung im Winter durch Heimarbeit einen Nebenverdienst zu verschaffen. Wenn möglich wurde auf ehemals einheimische häusliche und handwerkliche Tätigkeiten zurückgegriffen. Gewisse Regionen wurden für ihre Erzeugnisse besonders bekannt, zum Beispiel das Bündnerland für Kreuzstickarbeiten und Webereien (Textilkunst), das Berner Oberland für Scherenschnitte, die Weberei im Hasli, die Brienzer Schnitzerei, die Heimberger Keramik und die Lauterbrunner Klöppelspitzen, das Tessin für handgesponnene Wolle, Kupfergeschirr und Korbwaren, das Lötschental für hölzerne Masken. Bei dieser von aussen gesteuerten Volkskunstpflege achtete man auf die Verkäuflichkeit in städtischen Regionen, was eine Anpassung von Formen, Mustern und Farben sowie die Schaffung neuer Erzeugnisse bedeutete.

In den 1980er und 1990er Jahren erlebten gewisse Zweige der Volkskunst einen regelrechten Boom. Dazu gehörten zum Beispiel die Bauernmalerei, welche Tausende von Frauen in Hobbykurse lockte, der Scherenschnitt, zu dessen Förderung 1986 der Schweizerische Verein Freunde des Scherenschnitts gegründet wurde, sowie die Ostereier, für deren Verkauf die Künstler und Künstlerinnen erstmals 1977 in Bern einen Ostereiermarkt organisierten. Die Volkskunst unterlag schon vom Beginn des 19. Jahrhunderts an einer Tendenz zur Folklorisierung. Damals bewirkte der Tourismus bei den Einheimischen eine Neueinschätzung ihrer handwerklichen Fähigkeiten. Schnitzereien, Geschirr und vieles mehr wurden als Reiseandenken hergestellt. Die Ethnologie bezeichnet heute Souvenirs, die an Flugplätzen und Bahnhöfen angeboten werden, als Airport-Art. Nochmals andere Umformungen brachte die «Ethno-Welle», die Motive wie Kühe, Sennen usw. in luxuriöses Design integrierte. Die Folklorisierung der Volkskunst ist bisher wissenschaftlich noch kaum aufgearbeitet worden.

Quellen und Literatur

  • T. Burckhardt, Schweizer Volkskunst, 1941
  • Schweiz. Volkskunst, hg. von R. Wildhaber, 1969
  • R. Creux, Volkskunst in der Schweiz, 1970 (21976)
  • G. Korff, Volkskunst heute?, 1986
  • A. Niederer, «Zum Notwendigen das Schöne», in Herzblut, Ausstellungskat. Zürich, 1987, 16-31
  • AH 9
  • G. Korff, «Volkskunst im Wandel», in Hb. der schweiz. Volkskultur 3, hg. von P. Hugger, 1992, 1351-1373
  • F. de Capitani, «Was heisst Volkskunst?», in Going West, Ausstellungskat. Zürich, 1994, 22-31
Weblinks
Kurzinformationen
Kontext Exvoto, Poya, Scherenschnitt

Zitiervorschlag

Felicitas Oehler: "Volkskunst", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.12.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011192/2014-12-27/, konsultiert am 29.03.2024.