Latein, ursprünglich die Sprache der mittelitalischen Latiner, wurde in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends v.Chr. mit dem Aufstieg Roms und der Ausbildung der lateinischen Schrift zur Verkehrs-, Verwaltungs- und Volkssprache zuerst Italiens und dann zur Verkehrs- und Verwaltungssprache des westlichen Teils des Imperium Romanum. Diese Entwicklungen erfassten auch das schweizerische Gebiet, das vom Anfang des 2. (Südschweiz) bis zum Ende des 1. vorchristlichen Jahrhunderts schrittweise in das Römische Reich einbezogen worden war (Romanisierung). Nördlich der Alpen hat sich, wie in Gallien allgemein, die keltische Sprache der einheimischen Bevölkerung wohl noch während der ganzen Dauer des Altertums erhalten, doch das Latein beherrschte den Bereich der Schriftlichkeit (Inschriften). Die – nicht unmittelbar erfassbare – lateinische Volkssprache entfaltete sich in den einzelnen Gegenden unterschiedlich. Aus dem Latein sind die romanischen Sprachen und Dialekte des schweizerischen Raums hervorgegangen (Französisch, Italienisch, Rätoromanisch). Dieser hat zudem Anteil an der allgemeinen Geltung des nachantiken Lateins als europäischer Literatur-, Gelehrten- und Kirchensprache.
Geistliche Institutionen im frühen Mittelalter
Die Einrichtungen der Kirche sorgten für eine gewisse Kontinuität im Gebrauch von Schriftlichkeit und lateinischer Hochsprache zwischen Antike und Frühmittelalter; dies belegen zum Beispiel der überlieferte, vom Genfer Bischof Salonius (um die Mitte des 5. Jahrhunderts) mitverfasste Brief an Papst Leo I., die theologischen Schriften, die dem mit dem Kloster Lérins verbundenen Salonius von dessen Vater Eucherius und von Salvian von Marseille gewidmet wurden, oder die erhaltenen Grabsteine der ersten vier Äbte der 515 gegründeten Abtei Saint-Maurice. Bischof Marius von Avenches verfasste eine knappe Chronik der Ereignisse von 455 bis 581. Für ihn wie auch für Bischof Valentianus von Chur (548) hat sich je eine Grabinschrift in Distichen erhalten. Das 719 gegründete Kloster St. Gallen war später für die Pflege des Lateins – durch eigene Produktion und das Abschreiben und Sammeln von Texten – von grosser Bedeutung. Die Eingliederung des schweizerischen Gebiets in das fränkische Reich verschaffte den kulturellen Errungenschaften der karolingischen Reform Eingang, darunter auch einer gepflegten lateinischen Standardsprache.
Latein als Sprache von Recht und Verwaltung
Latein und Schriftlichkeit waren zumindest in Kontinentaleuropa in der ersten Hälfte des Mittelalters in allen Sachgebieten miteinander gekoppelt. Die Beurkundung von Rechtshandlungen betraf zunächst vor allem geistliche Institutionen. Aber ganz allgemein war die Urkundensprache zumindest bis gegen das Ende des 13. Jahrhunderts, zum Teil noch viel länger, das Latein. In den Urkunden schlugen sich mitunter Züge der jeweiligen Volkssprache nieder. Zu unterscheiden ist dabei zwischen unwillkürlicher Einwirkung der Volkssprache als Folge mangelnder Meisterung des Schriftlateins und korrekter Latinität mit bewusst zugelassenen volkssprachlichen Einsprengseln zwecks Präzision und Verbindlichkeit. So äussern sich in manchen frühmittelalterlichen sankt-gallischen Privaturkunden Eigenheiten eines romanisch geprägten Volkslateins. Andererseits zeigen sich im Hoch- und Spätmittelalter in Urkunden der heutigen Westschweiz manche frankoprovenzalischen Idiomatismen technischen Charakters.
Literarische Tätigkeit im Hochmittelalter
Zwar gab es im Hochmittelalter im Gebiet der heutigen Schweiz keine kohärente lateinische Literatur; nennen lassen sich jedoch einzelne Schwerpunkte der Produktion von Texten sowie Einzelleistungen. Am breitesten gestreut sind hagiografische Texte, für die frühe Zeit das wichtigste Schriftgut überhaupt (Hagiografie). Vom 9. bis ins 11. Jahrhundert besass St. Gallen grosse Strahlungskraft. Genannt seien die Geschichtswerke Ratperts und Ekkehards IV., die liturgischen Dichtungen Notkers des Stammlers (Sequenzen) und Tuotilos (Tropen), von Notker ferner die "Gesta Karoli Magni". Der Geschichtsschreiber und Dichter Wipo stammte vielleicht aus der Gegend von Solothurn. Zisterziensischen Hintergrund haben die acht Marienpredigten des Bischofs Amadeus von Lausanne. Abt Frowin von Engelberg schuf eine Abhandlung über den freien Willen und einen Kommentar zum Vaterunser. Vielleicht um 1100 verfasste Warnerius von Basel zwei geistliche Dichtungen in Form von Wechselreden ("Paraclitus" und "Synodus").
Schriftstellerei und Unterricht im Spätmittelalter
Vom 13. Jahrhundert an mehrte sich die literarische Produktion; manches davon entstammte städtischem Milieu. Mit Basel verbunden ist eine Sammlung von Gedichten, die etwa 1270-1290 in einem Kreis um Rudolf von Habsburg verfasst wurden. Der Schule des Grossmünsterstifts in Zürich – solche "Lateinschulen" wurden vom 13. Jahrhundert an in vielen Städten geführt (Gymnasium) – gehörte Konrad von Mure an. Zu dessen zahlreichen Lehrdichtungen zählt der "Novus Graecismus", eine Darstellung der Grammatik und des Wortschatzes des Lateins. Ein Einsiedler Lehrer, Rudolf von Radegg, schuf um 1318/1319 mit seiner "Cappella Heremitana" ein kleines Epos über den Überfall der Schwyzer auf das Kloster. 1311-1323 schuf Rudolf von Liebegg seine pastoraltheologisch-kanonistische Lehrdichtung "Pastorale novellum". In der Geschichtsschreibung kam es zu Fortsetzungen umfassender Werke, so in der Zürcher Weltchronik ("Chronica universalis Turicensis", Ende 13. Jahrhundert) und in der "Reichschronik" Heinrichs von Diessenhofen (Geschichte). Als Fortschreibung der Weltchronistik geplant war auch die anekdotenreiche Chronik des Johannes von Winterthur. Auch in der Westschweiz entstanden im Spätmittelalter Geschichtswerke in lateinischer Sprache. Auf den Raum Basel verweist die Chronik des Matthias von Neuenburg. Die Historiografie gab allerdings schon bald mehrheitlich der Volkssprache den Vorzug. Ein markanter Vertreter gelehrter Publizistik im 15. Jahrhundert war der Zürcher Felix Hemmerli.
Humanismus und Reformationszeitalter
Im 15. Jahrhundert bildete sich eine neue Geisteshaltung (Humanismus) heraus. Folgenreich waren die vom Konzil von Basel (1431-1449) und von der 1460 gegründeten Universität Basel ausgehenden Impulse. Niklaus von Wyle machte lateinische Schriften der italienischen Renaissance in deutscher Sprache bekannt. Mit ihm stand Albrecht von Bonstetten in Verbindung, der sich in seiner vielseitigen Schriftstellerei des Lateins wie des Deutschen bediente. Neben dem zeitgenössischen Latein – als Gebrauchs- und internationale Verkehrssprache der Gelehrten und der Geistlichen – beschäftigte man sich nun vermehrt mit der Literatur des alten Rom. Der Buchdruck erlaubte deren Verbreitung in bisher nicht gekanntem Mass. Erinnert sei an das Wirken des Erasmus in Basel als Texteditor und Textkommentator sowie an einheimische Humanisten wie Glarean, Myconius und Vadian. Auch Reformatoren wie zum Beispiel Zwingli, Calvin und Bullinger verwendeten das Latein. Dasselbe gilt für einen grossen Teil des zeitgenössischen gelehrten Briefwechsels (Amerbachkorrespondenz, Korrespondenzen von Bullinger, Theodor Beza usw.). Wünschte man allerdings, Laienkreise zu erreichen, bediente man sich der Volkssprachen. Übersetzungen von Texten in die eine oder andere Richtung waren nicht selten. Einige Werke erschienen gleichzeitig lateinisch und deutsch. Im 16. und noch im 17. Jahrhundert wurden Dichtungen antikischen Charakters verfasst, so die "Raeteis" von Simon Lemnius, Glareans "Helvetiae descriptio" und sein Epos über die Schlacht bei Näfels, das Schuldrama "Nabal" von Rudolf Gwalther oder die "Heroum Helvetiorum epistolae" von Johann Bärtschi (1657).
Zum Stellenwert des Lateins in der Neuzeit
Mit der Renaissance verschoben sich die Gewichte: Das Gebrauchslatein hergebrachter Art verlor an Bedeutung; in den Lateinschulen, Kollegien und Universitäten wurde nun eine hohe aktive Sprachkompetenz nach klassischen Massstäben vermittelt. Mit dem Einsetzen der Katholischen Reform festigte sich in den Klöstern eine hochstehende und dauerhafte Lateinkultur in neuer Weise. Dagegen spielten sich die grossen geistigen Auseinandersetzungen im gebildeten Bürgertum des 18. Jahrhunderts im volkssprachlichen Medium ab; der mündliche Gebrauch des Lateins kam in Abgang und die aktive Anwendung in der Schrift beschränkte sich auf die Sphären von Kirche, Schule und Wissenschaft. Unangefochten blieb das Latein zunächst noch als Lehrfach an den Höheren Schulen. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde die Geltung der alten Sprachen wegen neuer Anforderungen und Umschichtungen im Fächerkanon stark gemindert. Ein Symbol der die Einzelsprachen überwölbenden Rolle des Lateins sind die für die gesamte Schweiz gültigen lateinischen Aufschriften auf Briefmarken, Münzen usw. sowie die Sigle CH für "Confoederatio Helvetica". Auch in der Kirche büsste das Latein an Bedeutung ein. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) lösten die Landesprachen das Latein als Liturgiesprache allmählich ab. In der Schweiz wird die Latinistik der Antike (Altertumswissenschaften) wie auch des Mittelalters in der universitären Lehre sehr gepflegt.
Quellen und Literatur
- S. Leminius, La Reteide (Raeteis), 1902
- A. Hartmann, Basilea Latina, 1931 (Nachdr. 1978)
- P.-W. Hoogterp, «Warnerii Basiliensis Paraclitus et Synodus», in Archives d'histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 8, 1933, 262-443
- Amadeus (Evêque de Lausanne), Huit homélies mariales, hg. von G. Bavaud et al., 1960
- Rudolf von Radegg, Cappella Heremitana, bearb. und übers. von P.J. Brändli, 1975
- Ekkehard IV., St. Galler Klostergeschichten, übers. von H.F. Haefele, 1980 (31990)
- J. Favrod, La chronique de Marius d'Avenches (455-581), 1991
- Frowinus (Abbas), Explanatio dominicae orationis, hg. von S. Beck, 1998
- Turicensia Latina, hg. von P. Stotz, 2003
- J.-P. Borle, Le latin à l'Académie de Lausanne du XVIe au XXe siècle, 1987
- W. Burkert, «Schweiz: Die klass. Philologie», in La filologia greca et latina nel secolo XX, 1989, 75-127
- J. Ijsewijn, Companion to Neo-Latin Studies 1, 1990, 206-213
- M. Fuhrmann, Latein und Europa, 2001
- P. Stotz, Hb. zur lat. Sprache des MA 1, 2002, 1-167