Autorin/Autor:
Roger Francillon
Übersetzung:
Marianne Derron Corbellari
Der Begriff der littérature romande, mit dem heute die Literaturproduktion der französischsprachigen Schweiz zumeist bezeichnet wird, ist in zweifacher Hinsicht problematisch: Einerseits impliziert er die Existenz einer einheitlichen Westschweiz, obwohl die verschiedenen Kantone, welche die Westschweiz bilden, historisch unterschiedlich geprägt sind. Andererseits ist die Vorstellung einer französischsprachigen Literatur der Schweiz, die sich von der Literatur Frankreichs unterscheidet, heute noch heftig umstritten. Den Kern der Problematik bildet die Identitätsfrage: Verfügen die Schweizer französischer Zunge über eine eigene Identität, die sie von den Franzosen und Deutschschweizern abhebt, und widerspiegelt ihre Literatur diese Identität? In der Dialektliteratur, die bloss ein Randdasein fristet, kann sich diese Identität jedenfalls nicht ausdrücken.
Es macht wenig Sinn, für die Zeit vor dem Eintritt der Westschweizer Kantone in die Eidgenossenschaft von einer littérature romande zu sprechen. Bereits ab dem 16. Jahrhundert aber zeichneten sich in der westschweizerischen Kunst- und Literaturproduktion Unterschiede gegenüber der französischen ab. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Helvetisierung der Westschweiz abgeschlossen: ein eigenständiger literarischer Raum entstand, der sich Anfang des 21. Jahrhunderts durch eine bemerkenswerte Vitalität auszeichnete.
Autorin/Autor:
Roger Francillon
Übersetzung:
Marianne Derron Corbellari
Neuenburg, Lausanne und Genf verdanken der Reformation ihre spezifische Kultur. Die mittelalterlichen Autoren, namentlich Otto III. von Grandson, Martin Le Franc und Jean Bagnyon, hatten sich nicht von ihren französischen Dichterkollegen unterschieden. Doch die Gründung der Akademien von Lausanne 1537 und Genf 1559 schuf einen günstigen Boden für die intellektuelle Entwicklung und die Entstehung einer Dichtkunst, deren Ästhetik sich abhob von damals in Frankreich vorherrschenden barocken und sich an Petrarca orientierenden Tendenzen. Herausragende Schriftsteller wie Johannes Calvin oder Theodor Beza waren allerdings französischen Ursprungs. Einzig Pierre Viret aus Orbe war ein einheimischer Autor, der seine üppige Sprachfülle mit Elementen des lokalen Dialekts durchsetzte. In den romtreuen Gebieten blieben ähnliche Entwicklungen aus; die Amtssprache Freiburgs war das Deutsche, Basel und das Wallis wurden meist von deutschsprachigen Bischöfen regiert.
Illustration einer Episode aus dem Roman Julie ou la Nouvelle Héloïse von Jean-Jacques Rousseau. Radierung von Hubert-François Bourguignon genannt Gravelot, erschienen 1761 in Amsterdam bei Marc-Michel Rey (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Zum Protestantismus gesellte sich ein weiterer bedeutsamer Unterschied: das Gefühl einer politischen Zugehörigkeit, die Identifizierung mit der Eidgenossenschaft, deren Interessen sich von denen Frankreichs unterschieden. Das Bewusstsein einer nationalen Identität, das sich vom 16. Jahrhundert an allmählich entwickelt hatte, führte im 18. Jahrhundert zur Schaffung eines eigentlichen Mythos' Schweiz, der durch Reiseberichte (Schweizerreisen) und Werke einheimischer Autoren auf Deutsch und Französisch sorgsam gepflegt wurde, zum Beispiel vom Berner Patrizier Beat Ludwig von Muralt, der wie viele seiner Landsleute auf Französisch schrieb, oder von Philippe-Sirice Bridel (Helvetismus). Beide kontrastierten das einfache, unverfälschte Schweizer Gemüt mit dem Schöngeist und der Frivolität von Paris. Jean-Jacques Rousseau verlieh dem Mythos mit seiner «Lettre à d'Alembert sur les spectacles» und in «La Nouvelle Héloïse» eine europäische Dimension. Das mythische Bild einer idyllischen Schweiz, die von den Stürmen der Geschichte verschont geblieben war, entsprach allerdings weder den politischen Zuständen in den Schweizer Orten, in denen die Macht meist in den Händen einer Oligarchie konzentriert war, noch der kulturellen Situation in Städten wie Genf, Lausanne und Neuenburg. Nach einer Stagnationsphase im 17. Jahrhundert – eine Folge der verhärteten Positionen im Zuge der konfessionellen Konflikte – öffnete sich die Akademie von Genf und später auch die von Lausanne der Aufklärung, die in der Schweiz bis in den juristischen, pädagogischen, anthropologischen und wissenschaftlichen Bereich vordrang.
Isabelle de Charrière, Pastellbildnis von Maurice Quentin de La Tour, 1766 (Cabinet d'arts graphiques des Musées d'art et d'histoire Genève, Legs William Henry Théodore de Carteret, no inv. 1915-0091).
Literarische Erfolge waren aber noch selten. In Lausanne verhalf Isabelle de Montolieu dem Roman der Empfindsamkeit (roman sentimental) zu Ansehen. Ihre Vorgängerin war Isabelle de Charrière, eine holländische Adlige, welche die Heirat an den Neuenburger See verschlagen hatte. Sie gilt – paradoxerweise vielleicht – als erste grosse Romanautorin der Westschweiz; ihre Romane, ihre polemischen Schriften und ihre immense Korrespondenz bilden ein bemerkenswertes Œuvre, das erst im 20. Jahrhundert zu Tage gebracht wurde.
Während der Wirren der Französischen Revolution entfalteten zwei sehr bedeutende Persönlichkeiten ihr grosses Können: Germaine de Staël und Benjamin Constant. Die schweizerische Literaturgeschichte beansprucht sie nicht nur wegen ihrer Genfer bzw. Waadtländer Abstammung für sich, sondern auch wegen ihrer Hervorhebung des religiösen Gefühls und ihrem Glauben an die Vervollkommnung des Menschen. Dass beide ihre grössten Erfolge im Widerstand zum herrschenden Regime erlebten, ist laut Jean Starobinski ein Merkmal des «décalage fécond» oder fruchtbaren Abseits gegenüber Frankreich, das der Westschweizer Literatur eigen sei. Im Salon ihres Schlosses von Coppet am Genfersee versammelte Germaine de Staël während ihres Exils die – wie Stendhal sie nannte – Generalstände der europäischen Meinung. Dieses kosmopolitische Netzwerk von Freundschaften – in der Geschichtsschreibung heute Groupe de Coppet genannt – erschloss unter Wahrung aufklärerischer Ideale neue Wege zur Romantik und zur liberalen Demokratie.
Ein Jahrhundert der Identitätssuche
Autorin/Autor:
Roger Francillon
Übersetzung:
Marianne Derron Corbellari
Während der Restauration und der Regeneration blieben die Unterschiede zwischen den Kantonen beträchtlich: In Freiburg, Neuenburg und im Wallis erschwerten die konservativen Kräfte die kulturelle Entwicklung. Gleiches gilt für das ehemalige Fürstbistum Basel, das auf dem Wiener Kongress Bern zugeteilt wurde. Separatistische Bewegungen wurden dort scharf überwacht, doch zeichnete sich 1847 mit der Gründung der Société jurassienne d'émulation ein erstes Bewusstsein der eigenen Identität ab. Der Kanton Waadt hatte in Juste Olivier seinen ersten Historiker und Dichter und in Alexandre Vinet seinen ersten Literaturkritiker und Moralschriftsteller von Rang. In Genf zeichnete Rodolphe Töpffer, Autor von Romanen und Erzählungen, Kunstkritiker und Schöpfer des Comics, ein liebevoll-kritisches Bild seiner Stadt.
Nachdem die Schweiz sich eine neue Verfassung gegeben hatte, veröffentlichte Henri-Frédéric Amiel 1849 die Denkschrift «Du mouvement littéraire dans la Suisse romane». Er schlug darin ein Programm zur Bestimmung einer eigenständigen, von der französischen unterschiedenen Westschweizer Literatur vor. Amiel, ein Meister des Tagebuch-Schreibens, verglich die Westschweiz mit einem Körper, der sich eine Seele sucht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand ein literarischer Raum, dessen Eigenständigkeit durch neue Verlage, Zeitschriften (Bibliothèque universelle, La Semaine littéraire) und der fast gleichzeitigen Veröffentlichung der Literaturgeschichte von Virgile Rossel und derjenigen von Philippe Godet etabliert wurde. Unter den Mitarbeitern der «Bibliothèque universelle» widmete Eugène Rambert, Verfasser der «Alpes suisses», viele seiner Publikationen der Westschweizer Literatur. Marc Monnier hingegen plädierte in der Zeitschrift für den Auf- und Ausbruch zu den europäischen Kulturen hin. Andere Autoren wählten das Pariser Exil, zum Beispiel Victor Cherbuliez und Edouard Rod. Letzterer orientierte sich nach einem provokanten Debüt in naturalistischem Stil stärker am Heimatroman (roman régionaliste), der Ende des 19. Jahrhunderts Mode war. 1906 rechnete er mit der kleinen Westschweizer Literaturwelt ab, indem er erklärte, eine littérature romande gebe es ebensowenig wie eine Schweizer Marine.
Dieses harte Urteil steht in Zusammenhang mit der Debatte um die Identität, welche die neue Schriftstellergeneration bewegte: Deren Zeitschrift, La Voile latine (1905-1910), rieb sich an den heftigen Disputen um das Identitätsproblem auf. Während Gonzague de Reynold und Robert de Traz eine nationale Literatur verfochten und den Beitrag der germanischen Kultur sowie den Einfluss des Protestantismus als Grundlagen der Westschweizer Identität betrachteten, sahen sich Alexandre und Charles-Albert Cingria, darin Charles Maurras folgend, als Vertreter der lateinischen Kultur. Charles Ferdinand Ramuz hatte eine strikt kantonale Sichtweise und wies die Vorstellung einer schweizerischen Kultur zurück. Obwohl er bis 1914 in Paris lebte und veröffentlichte, fühlte er sich nicht als Franzose und schuf sich wie der Held seines Romans «Aimé Pache, peintre vaudois» eine auf ihre Andersartigkeit gestützte Ästhetik. Als Angehöriger einer Provinz, die keine sei («une province qui n'en est pas une»), war Ramuz stets auf der Suche nach einem Stil, mit dem er das Wesen seines Landes, der Waadt, hätte treffen können. Als wichtigster Leiter der Cahiers vaudois, gegründet von Paul Budry und Edmond Gilliard, verfasste Ramuz mit «Raison d'être» 1914 ein Manifest, das den Unterschied nicht auf moralischer, sondern auf ästhetischer Ebene ansetzte.
Gleichzeitig versuchte Gonzague de Reynold in seinem Werk die schweizerische Gesinnung («esprit suisse») zu definieren. Guy de Pourtalès hingegen wandte sich dem Europa der Romantik zu. Mit «La pêche miraculeuse» schuf er einen grossen Bildungsroman, in dem die Westschweiz am Schnittpunkt zwischen deutscher und französischer Kultur erscheint, auch wenn der Autor darin den Konservatismus Genfer Prägung heftig anklagt. Dasselbe satirische Element findet sich in den psychologischen Romanen von Jacques Chenevière und, in leichterem Tonfall, in den eigenwilligen Erzählungen von Pierre Girard.
Seit jeher waren die Schweizer Reisende: Die nomadische Schweiz, die auf der Suche nach ihrer Identität umherschweift, verkörperten Charles-Albert Cingria, der sich humoristisch in Raum und Zeit bewegte, und Blaise Cendrars, der mit «Pâques à New York» gleichzeitig wie Guillaume Apollinaire zur Erneuerung der französischen Lyrik beitrug und dessen facettenreiches und vielfältiges Werk besonders zu Ramuz' Schaffen in Kontrast steht. Zur Familie der Schweizer Nomaden zählten in der Nachkriegszeit Ella Maillart, Lorenzo Pestelli und Nicolas Bouvier. Letzterer schuf sich als Dichter und Ikonograf auch jenseits der Schweizer Grenzen einen Namen und führte das Genre des Reiseberichts zu einem Höhepunkt.
Ein halbes Jahrhundert der Selbstbehauptung
Autorin/Autor:
Roger Francillon
Übersetzung:
Marianne Derron Corbellari
Wenn es gilt, die vielfältigen Facetten der französischsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beschreiben, können folgende Merkmale herausgeschält werden: die ausserordentliche Vitalität der Lyrik; die Präsenz weiblicher Autoren in der Gattung des Romans; die Vorliebe für die romanhafte Autobiografie; das ausgeprägte Interesse für die Beziehungen zwischen Kunst und Literatur, die Wahl von Modellen, die nicht in der literarischen Welt von Paris verhaftet sind; die Erkundung neuer Wege und Klänge; die Entwicklung eines intensiven Theaterlebens; die Bedeutung des Essays und der Literaturkritik.
Im Gegensatz zu ihren Deutschschweizer Kollegen blieben die französischsprachigen Schriftsteller der Nachkriegszeit relativ unberührt von Jean-Paul Sartres Ideen vom Engagement. In der Zeitschrift Rencontre (1950-1953) rüttelten aber Henri Debluë, Jean-Pierre Schlunegger und Yves Velan an der Vorstellung der helvetischen Beschaulichkeit. Velan gehörte zu den Ersten, welche die Fichierung von Schweizer Bürgern kritisierten und der Literatur die Rolle einer Gegenmacht zuschrieben. Gaston Cherpillod verurteilte die soziale Ungerechtigkeit und setzte sich für die Schwachen und Ausgebeuteten ein, ähnlich wie dies auch Jean Vuilleumier in seinen Erzählungen tat. Erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben Autoren wie Yvette Zgraggen, Roger-Louis Junod, Janine Massard, Ursula Gaillard, Jean-Luc Benoziglio, Bernard Comment und auch Daniel de Roulet sich gegen das Bild der – nach einem Zitat von Jean Ziegler – «über alle Zweifel erhabenen» Schweiz ausgesprochen.
Drei Dichter haben besonders zur Schaffung einer typischen Westschweizer Lyrik beigetragen: Pierre-Louis Mathey, Edmond-Henri Crisinel und Gustave Roud. Für die folgende Generation verkörperte vor allem Letzterer den Dichter par excellence. Maurice Chappaz zeichnete in barocker Lyrik oder in polyphonen Erzählungen ein vielschichtiges und farbiges Bild der Walliser. Jacques Chessex, Lyriker, Romanschriftsteller, Verfasser von Erzählungen, autobiografischen Texten und Essays, spielte unter den Westschweizer Literaten eine wichtige Rolle; 1973 erhielt er den Prix Goncourt. Sein vielfältiges und konstrastreiches Werk ist vom Bewusstsein des Heiligen und der Verfehlung geprägt. Es ist in der protestantischen Tradition verankert, die Chessex grundlegend erneuert, indem er sich gegen deren Puritanismus auflehnt. Vom barockisierenden Stil eines Chappaz oder Chessex hebt sich der nüchterne Ton des Waadtländers Philippe Jacottet ab, der in Lyrik und Prosa ein ideales Mass sucht. Er lebt seit geraumer Zeit in der Provence und wird von französischen Autoren als einer der ihren betrachtet. Dieselbe karge Ästhetik und dasselbe Harmoniestreben finden sich auch bei Edmond Jeanneret, Jean-Georges Lossier, Anne Perrier und Pierre-Alain Tâche. Die Lyrik, die im Allgemeinen für ein engeres Publikum gedacht ist, spielte eine wichtige Rolle in den jurassischen Autonomiebestrebungen: Auf dem Hauptplatz von Delsberg rezitierten die Dichter Jean Cuttat und Alexandre Voisard ihre Gesänge auf die Freiheit. Ab den 1960er und 1970er Jahren wurde die Ästhetik des Masses von vielen Autoren in Frage gestellt. So findet man Gewalt und Erotik bei Jean Pache, einen diskontinuierlichen, stockenden Stil bei Vahé Godel, surrealistisch anmutende Provokation bei Jacques Roman, einen fragmentarischen Diskurs, der die fliehende Welt fassen möchte, bei Pierre Chappuis, feministische Forderungen und bewusste Brüche bei Monique Laederach. In den 1980er Jahren kam eine neue Generation zum Zuge.
In der Gattung des Romans sahen sich Emmanuel Buenzod, Maurice Zermatten oder Charles François Landry in der Nachfolge von Ramuz. Die wirkliche Erneuerung der Erzähltechnik ist Schriftstellerinnen zu verdanken. In der Westschweizer Literatur waren die Frauen lange Zeit dem moralisierenden und pädagogischen Roman verpflichtet. Monique Saint-Hélier, Catherine Colomb, Alice Rivaz und S. Corinna Bille haben die traditionelle Erzählweise grundlegend verändert. Bei diesen Pionierinnen steht das Schreiben, welche Form es auch annimmt, vor dem Erzählinhalt, der dadurch grundsätzlich erneuert wird. Autorinnen rüttelten heftig am traditionellen Frauenbild, so etwa Yvette Zgraggen, die sich ab den 1970er Jahren der Autobiografie und der Kritik an schweizerischen Mythen zuwandte. In der nächsten Generation trugen zahlreiche Romanautorinnen, zum Beispiel Monique Laederach und Annelise Grobéty, zu einem bewussten dichterischen Umgang mit der Stellung der Frauen bei.
Die Suche nach der eigenen Identität, die seit Rousseau und Amiel zur Westschweizer Literaturtradition gehört, erklärt teilweise die Fülle autobiografisch gefärbter Texte im Romanschaffen. In seinen Romanen und Essays beschrieb Jean-Pierre Monnier eine Welt in Halbtönen, deren Figuren sich nach ihrem Schicksal befragen. Georges Borgeaud wählte das Modell des Bildungsromans, um seine zugleich schmerzliche und verzauberte Beziehung zur Umwelt zu schildern. In seinen Chroniken und Memoiren versuchte Georges Haldas, das täglich Erlebte durch das Wunder des poetischen Zustands («l'état de poésie») zu verwandeln. Jean-Claude Fontanet sieht im Schreiben die einzige Möglichkeit, der Angst vor Krankheit und Tod zu entfliehen. Albert Cohen schliesslich, ein aus Korfu stammender, in der Schweiz eingebürgerter Jude, verwandelt seine persönliche Erfahrung in einen universalen Wert, indem er sich auf die grossen Mythen der Liebe bezieht. Dieses autobiografische Element erstreckt sich ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts bis zu Anne Cunéo, die sich auch im Genre des historischen Romans hervortat.
Für den Romanautor und Essayisten Jacques Mercanton steht der Mensch, um mit André Malraux zu sprechen, jenseits seiner Geheimnisse («au delà de ses secrets»). Als Bewunderer von François Mauriac und Georges Bernanos sieht Mercanton im Mysterium der Inkarnation den Sinn der menschlichen Bestimmung. Seine Romanfiguren sind oft Schriftsteller auf der Suche nach den innersten Geheimnissen. Die Kunst spielt eine fundamentale Rolle in seinem Werk, das von intertextuellen Bezügen auf Europas Kulturen, von Dante bis T.S. Elliot, von Cervantes bis Thomas Mann, von Jean Racine bis James Joyce, lebt. Seit den 1970er Jahren ist auch Etienne Barilier, Romanautor und Essayist, dieser Strömung zuzurechnen, die durch das künstlerische Schaffen nach dem Sinn des Schicksals fragt und die humanistischen Werte zu beleben sucht. Die Romane von Claude Delarue thematisieren ebenfalls den Konflikt zwischen der Dauerhaftigkeit der Kunst und der Vergänglichkeit des Menschen.
Wie in der Lyrik wurde auch in den Romanen der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts die Tradition in Frage gestellt. In der Gefolgschaft eines Yves Velan oder Robert Pinget, der in Frankreich mit einem Genre bekannt wurde, das man zu Unrecht Nouveau roman nennt, haben Jean-Marc Lovay, Jean Pache, Vahé Godel, Adrien Pasquali, Jean-Luc Benoziglio, François Debluë, Yves Laplace und auch Agota Kristof die herkömmliche Erzählweise aufgebrochen. Sie verzichteten auf das Romanhafte, um das Willkürliche des Erzählens zu betonen: Sie mischten die Gattungen, spielten humorvoll mit der Sprache, brachen die Tabus der Sexualität und problematisierten die Erfassung der Welt mit Worten.
Zwar wurde in der Reformationszeit in der Westschweiz Theater gespielt, da es aber später in reformierten Gebieten einem Verbot unterlag, war es lange auf ein blosses Gesellschaftsspiel reduziert. Erst im 19. Jahrhundert erlebte das Theater einen Aufschwung, brachte jedoch keine wichtigen Werke, die im Repertoire geblieben wären, hervor. Ausnahmen sind Anfang des 20. Jahrhunderts die populären Dramen von René Morax, die «Histoire du soldat» von Ramuz und Igor Strawinsky, die einen neuen Stil ankündete, oder die Stücke von Fernand Chavannes. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte in der Westschweiz eine intensive Theatertätigkeit ein, aber nur wenige Stücke waren wirklich erfolgreich, wie die Dramen von Henri Debluë, Louis Gaulis, Walter Weideli, Bernard Liègme oder Michel Viala.
In der Essayistik analysierte Denis de Rougemont die Ursachen des Nationalsozialismus und hinterfragte die grossen Mythen der Liebe. Nach dem Krieg wurde er Leiter des europäischen Kulturzentrums in Genf. Sein unablässiges Engagement für ein Europa der Regionen und den Föderalismus führte eine Tradition fort, die auf die Groupe de Coppet zurückgeht und gegen den Imperialismus der Nationalstaaten gerichtet ist. Schon im 19. Jahrhundert hatte Alexandre Vinet die Rolle der Literaturkritik sehr hoch eingestuft. In der Zwischenkriegszeit eröffneten die Werke Marcel Raymonds und Albert Béguins neue Wege zur Entschlüsselung literarischer Texte. Der Sinn des dichterischen Schaffens und von der Literaturgeschichte bisher vernachlässigte Aspekte standen im Zentrum. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzten Jean Rousset und Jean Starobinski diese Arbeit fort; ihren Werken verdankt die Genfer Schule ihre internationale Ausstrahlung.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Unabhängigkeit der französischsprachigen Literatur der Schweiz innerhalb der französischsprachigen Literaturen unbestritten. Obschon zahlreiche Autoren in Paris publizieren und teilweise nicht als Schweizer gelten wollen, anerkennen die kulturellen Institutionen der Schweiz wie die Pro Helvetia, die seit 1979 erscheinende «Bibliographie des lettres romandes», Literaturlexika und -geschichten, das 1965 gegründete Centre de recherches sur les lettres romandes oder das 1989 gegründete Schweizerische Literaturarchiv sie doch vorbehaltslos als Träger des kulturellen Erbes der Westschweiz. Eine intensive Verlagstätigkeit, verschiedenste Zeitschriften wie Ecriture, «[vwa]» (1983-2001) oder die Revue de Belles-Lettres sowie zahlreiche Anthologien und Untersuchungen zu Westschweizer Autoren zeugen von der Bedeutung dieser Literatur ausserhalb Frankreichs.